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01.02.2022 Anton Bruckner – Graf Zahl
Graf Zahl
Beim Hören von Anton Bruckner offenbaren sich unserem Autor die zahlreichen Macken des Komponisten. Darunter auch Bruckners legendärer Zählzwang. Ein akustischer Spaziergang, vorbereitend auf das 4. Sinfoniekonzert am 13./14. Februar in der Liederhalle.
Mein Kind ist Anton Bruckner. Auf unseren Spaziergängen tritt es beharrlich nicht auf die Ritzen, harsch fordert es mich auf, es ihm gleichzutun. Zugegeben, dieser Gedanke ist ein weiter Assoziationssprung, über etliche Ritzen hinweg. Aber mir kommt immer, wenn ich den Fünfjährigen so gehen sehe, mein erster Bruckner in den Sinn. Erste Bruckners sind ja für viele Menschen hoch erinnerlich. In Wien ging ich einmal mit einer sanftmütigen Italienerin, in die ich frisch verliebt war, zu Herbert Blomstedt und den Wiener Philharmonikern in den Musikverein. Die Vierte, ihr erster Bruckner; sie bekam Angst, aus unserer Liebe wurde nichts.
Jedenfalls, mein erster Bruckner hatte Jahre früher stattgefunden, noch als Schüler, auch die Vierte, in Berlin mit Günter Wand. Danach lief ich wie im Rausch, wie unter Zwang im Bruckner-Rhythmus über die nächtlichen Gehwegplatten: Duole – Triole, Duole – Triole, ohne auf die Ritzen zu treten. Ritzenvermeidung, ein universaler anthropologischer Drang. Meistens ist das reines Spiel, zwanglos, höchstens selbst auferlegter Zwang oder Tick.
Jedenfalls, mein erster Bruckner hatte Jahre früher stattgefunden, noch als Schüler, auch die Vierte, in Berlin mit Günter Wand. Danach lief ich wie im Rausch, wie unter Zwang im Bruckner-Rhythmus über die nächtlichen Gehwegplatten: Duole – Triole, Duole – Triole, ohne auf die Ritzen zu treten. Ritzenvermeidung, ein universaler anthropologischer Drang. Meistens ist das reines Spiel, zwanglos, höchstens selbst auferlegter Zwang oder Tick.
Legendär sind ja die zahlreichen Macken des Meisters, vom Zähl- bis zum Betzwang. Die Bruckner-Forschung hat hier zwar einiges erheblich revidiert, wie auch das absurd verkürzende Klischee vom genialen Dorftrottel.
Diese Erinnerung zeigt mir zugleich, dass ich Bruckners Musik nicht nur auf unklare Weise als „Architektur“ empfand. Mehr noch war dieses Erlebnis ein heftiges körperliches Mitreißen, ein Einfangen meiner kompletten Physis. Es liegt nahe, diese Hörerfahrung mit Anton Bruckners eigenen Geist-Körper-Nöten zu verbinden. Legendär sind ja die zahlreichen Macken des Meisters, vom Zähl- bis zum Betzwang. Die Bruckner-Forschung hat hier zwar einiges erheblich revidiert, wie auch das absurd verkürzende Klischee vom genialen Dorftrottel. Anscheinend nicht in Zweifel gezogen wird aber die Tatsache, dass Bruckners monatelange Behandlung in der Kaltwasseranstalt Bad Kreuzen 1867 mit seiner Zwangsvorstellung zusammenhing, „er müsse die Blätter der Bäume, die Sterne, die Sandkörner, die Perlen auf einem Kleid zählen oder die Donau ausschöpfen“, so zusammengefasst von dem Musikwissenschaftler Constantin Floros in seinem lesenswerten Bruckner-Buch.
Der sanftmütigen Italienerin damals im Musikverein kam das Bruckner-Hören vermutlich nicht wie Ausschöpfen, eher wie Ertränktwerden in der Donau vor. Kann man aber Bruckners wohl nur temporären, dennoch bemerkenswerten Knall (nicht untypisch fürs nervöse 19. Jahrhundert) aus seiner Musik heraushören? Etwas anderes kommt mir wichtiger vor: Sein Nervenzusammenbruch, der ihn in die Klinik brachte, fand ganz zu Beginn von Bruckners Sinfonienschaffen statt, etwa zur Zeit der Ersten. Ein anderes Ereignis desselben Jahres war vielleicht von ebenso einschneidender Bedeutung. Denn 1867 starb auch Simon Sechter, eine der sonderbarsten Gestalten der Musik des 19. Jahrhunderts. Sechter, der in seinem Diarium täglich eine Fuge komponierte, hatte nicht nur Schubert in dessen Todesjahr 1828 noch den strengen Kontrapunkt beizubringen begonnen, sondern neben manchen anderen auch Jahrzehnte später den 1824 geborenen Anton Bruckner unterrichtet. Der war damals bereits Domorganist in Linz und als Sechter-Schüler beileibe nicht mehr der Jüngste; und doch ertrug er es, während der jahrelangen Studien sich auf Sechters Anweisung des Komponierens zu enthalten. Das muss für den späteren Erschaffer gigantischer Kunstwerke doch ähnlich gravierend gewesen sein wie die unfreiwillige Keuschheit des lebenslang Unverheirateten, der sich erheblich zu schönen Frauen hingezogen fühlte. Ob der Lehrer Sechter nicht dergestalt als Kunstsamenstaumeister ungewollt zum Katalysator von Bruckners maßlosen Schöpfereruptionen der zweiten Lebenshälfte wurde (den „Abnormalitäten eines Sechzigers“, wie es in einer gehässigen zeitgenössischen Kritik hieß)?
Der sanftmütigen Italienerin damals im Musikverein kam das Bruckner-Hören vermutlich nicht wie Ausschöpfen, eher wie Ertränktwerden in der Donau vor. Kann man aber Bruckners wohl nur temporären, dennoch bemerkenswerten Knall (nicht untypisch fürs nervöse 19. Jahrhundert) aus seiner Musik heraushören? Etwas anderes kommt mir wichtiger vor: Sein Nervenzusammenbruch, der ihn in die Klinik brachte, fand ganz zu Beginn von Bruckners Sinfonienschaffen statt, etwa zur Zeit der Ersten. Ein anderes Ereignis desselben Jahres war vielleicht von ebenso einschneidender Bedeutung. Denn 1867 starb auch Simon Sechter, eine der sonderbarsten Gestalten der Musik des 19. Jahrhunderts. Sechter, der in seinem Diarium täglich eine Fuge komponierte, hatte nicht nur Schubert in dessen Todesjahr 1828 noch den strengen Kontrapunkt beizubringen begonnen, sondern neben manchen anderen auch Jahrzehnte später den 1824 geborenen Anton Bruckner unterrichtet. Der war damals bereits Domorganist in Linz und als Sechter-Schüler beileibe nicht mehr der Jüngste; und doch ertrug er es, während der jahrelangen Studien sich auf Sechters Anweisung des Komponierens zu enthalten. Das muss für den späteren Erschaffer gigantischer Kunstwerke doch ähnlich gravierend gewesen sein wie die unfreiwillige Keuschheit des lebenslang Unverheirateten, der sich erheblich zu schönen Frauen hingezogen fühlte. Ob der Lehrer Sechter nicht dergestalt als Kunstsamenstaumeister ungewollt zum Katalysator von Bruckners maßlosen Schöpfereruptionen der zweiten Lebenshälfte wurde (den „Abnormalitäten eines Sechzigers“, wie es in einer gehässigen zeitgenössischen Kritik hieß)?
So wie es tausendundeine Art gibt, einen Gehweg entlangzulaufen (auch wenn mein Kind sagen würde, dass nur eine richtig ist), so kann man Bruckner auf tausendundeine Art hören.
Floros plädiert in seiner Monografie dafür, dass man sehr wohl enge Verbindungen zwischen Bruckners komplexem, durchaus schrägem Charakter und den Eigenheiten seines Werks suchen und finden dürfe. Aber man muss das natürlich nicht, um Bruckner zu hören. So wie es tausendundeine Art gibt, einen Gehweg entlangzulaufen
(auch wenn mein Kind sagen würde, dass nur eine richtig ist), so kann man Bruckner auf tausendundeine Art hören. Für mich ist es eine so mächtige körperlich-räumliche Erfahrung, dass es mir geradezu sinnlos erscheint, Bruckner außerhalb eines Konzertsaals in Aufnahmen zu hören. Dabei geht es um mehr als das berühmt-berüchtigte Wegblasen an den Höhepunkten: Es ist das gewaltige Anspannen, Rühren und Auflösen oder Erstarren, manchmal über riesige Entfernungen. Und darin durchaus das Zählen – Penibilität und Ekstase. Wie ein abgründig gigantisches Kinderspiel kommt mir Bruckners Sinfonik mitunter vor: magische Treppenwerke aus den Bauklötzen des Kontrapunkts, zugleich immer wieder Momente unmittelbar ausbrechender Gewalt, Lebenswut, Todessehnsucht. Denn nichts ist so ernst wie das große Kinderspiel, der weite Sprung über die Ritzen unserer Existenz.
(auch wenn mein Kind sagen würde, dass nur eine richtig ist), so kann man Bruckner auf tausendundeine Art hören. Für mich ist es eine so mächtige körperlich-räumliche Erfahrung, dass es mir geradezu sinnlos erscheint, Bruckner außerhalb eines Konzertsaals in Aufnahmen zu hören. Dabei geht es um mehr als das berühmt-berüchtigte Wegblasen an den Höhepunkten: Es ist das gewaltige Anspannen, Rühren und Auflösen oder Erstarren, manchmal über riesige Entfernungen. Und darin durchaus das Zählen – Penibilität und Ekstase. Wie ein abgründig gigantisches Kinderspiel kommt mir Bruckners Sinfonik mitunter vor: magische Treppenwerke aus den Bauklötzen des Kontrapunkts, zugleich immer wieder Momente unmittelbar ausbrechender Gewalt, Lebenswut, Todessehnsucht. Denn nichts ist so ernst wie das große Kinderspiel, der weite Sprung über die Ritzen unserer Existenz.