Improvisationstheater auf höchstem Niveau

Klavierhocker statt Dirigentenpult: Der neue Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister tritt beim 1. Kammerkonert mit den Musiker*innen des Staatsorchesters als Pianist auf. Ein Gespräch über die Liebe zur Kammermusik, den Zusammenhang zwischen Schuberts „Forellenquintett“ und Brahms' Klarinettenquintett – und die ganz alltägliche Relevanz des Aufeinander-Hörens.
Als neuer Stuttgarter Generalmusikdirektor treten Sie nicht nur ans Dirigentenpult, sondern setzen sich mit den Musiker*innen des Staatsorchesters als Partner auch ans Klavier. Was bedeutet Kammermusik für Sie?

So weit meine Erinnerung zurückreicht, spiele ich Kammermusik. Ich glaube, mein erster „Auftritt“ war bei einem Schülervorspiel meiner Mutter, als meine Beine noch so kurz waren, dass ich ein Zusatzbänkchen für meine Füße brauchte, um nicht vom Klavierhocker zu fallen. Gespielt habe ich wohl etwas für Klavier zu vier Händen von Diabelli. Später habe ich sicherlich Tausende Stunden mit Kammermusik zugebracht — sowohl in geplanten Konzerten mit der Geigerin Julia Fischer, dem Klarinettisten Clemens Trautmann und vielen anderen als auch bei spontanen privaten Verabredungen, wenn wir als Jugendliche zum Spaß einfach mal die drei Violinsonaten von Brahms vom Blatt gespielt haben.

Wie ist das ganz konkrete Zusammenspiel mit dem Staatsorchester?

Die Musikerinnen und Musiker sind bekanntlich in mehreren Genres gleichermaßen zu Hause: in der Oper, im Ballett, in der Symphonik, aber eben auch in der Kammermusik. Ich nutze jede Chance, um mit ihnen zu musizieren und mich über die Kunst auszutauschen. Wie wäre dies für mich direkter möglich denn als Teil eines Kammermusik-Ensembles?

Warum ausgerechnet Schuberts Forellenquintett, eines der populärsten Werke der Kammermusikliteratur? War das Ihr Wunschstück?

Alle Werke, die in der Kammermusikmusikreihe des Staatsorchesters aufgeführt werden, beruhen nicht auf Vorgaben von mir, sondern vielmehr auf Vorschlägen von einzelnen Musikerinnen und Musikern, die gesagt haben: Ich würde gern dieses Stück aufführen, und zwar am liebsten mit jenen Partnerinnen und Partnern. Eine solch große Kammermusikbegeisterung gibt es im Staatsorchester, dass die Kammerkonzerte (und auch die Lunchkonzerte, bei denen ja auch Kammermusik aufgeführt wird) nie ausreichen, um alle Interessierten zu berücksichtigen. Schon jetzt freue ich mich daher auf die Spielzeit 19/20, in der die nächsten Wunschstücke zu Gehör gebracht werden.

Das Forellenquintett ist gekoppelt mit Brahms' Klarinettenquintett. Was verbindet diese beiden Stücke aus Ihrer Sicht?

Zweimal fünf Musiker*innen kommen zusammen, aber in klanglich ganz verschiedenen Besetzungen. Brahms ist genau hundert Jahre nach Schuberts Geburt gestorben, und mir scheint, dass sie sich in ihrer Schwermut, aber auch in ihrer immer wieder aufblitzenden Keckheit nicht unähnlich sind, wenngleich die Mittel, die sie verwenden, durchaus verschieden sind. Manchmal lässt es sich schwer in Worte fassen, warum ich eine Programmzusammenstellung mag, aber ich muss sagen, dass ich als Zuhörer sehr gern in ein Konzert gehen würde, in dem Schuberts Forellenquintett mit Brahms’ Klarinettenquintett kombiniert wird.

Die Kultur des Aufeinander-Hörens ist essentiell für kammermusikalisches Musizieren. Im übertragenen Sinn: Wo sollten wir alle mehr aufeinander hören?

Kammermusik ist aus meiner Sicht in gewisser Hinsicht so etwas wie Improvisationstheater auf höchstem Niveau: Angebote machen, Angebote annehmen, sie weiterentwickeln, ständiger Wechsel zwischen Führen und Begleiten (was nicht zu verwechseln wäre mit: Alle sind in jeder Sekunde gleich wichtig oder hätten ständig die gleichen Aufgaben; vielmehr: Jeder wechselt rasend schnell seine Rolle). Wie schön wäre es doch, wenn die Nebengeräusche in unserer Welt (und damit meine ich nicht nur die akustischen) nicht so häufig eine Kommunikation zwischen Menschen erschweren würden! Wie schön wäre es doch, wenn jeder an der Meinung der anderen mindestens genau so interessiert wäre wie an der Verbreitung der eigenen! Egal ob Kind oder Erwachsener, ob Amateur oder Profi: Wer Kammermusik spielt, lernt Grundlegendes für ein zivilisiertes Zusammenleben.

Neben den Stuttgarter Lohengrin-Vorstellungen stehen Sie am Opernhaus Zürich gerade bei Mozarts Così fan tutte am Pult. Beide Produktionen wurden szenisch von dezidiert politischen Regisseuren verantwortet: dem mittlerweile aus Ungarn ausgewanderten Árpád Schilling in Stuttgart, dem in Russland unter Hausarrest stehenden Kirill Serebrennikov in Zürich. Hat das Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass jeder von uns — und in der Öffentlichkeit stehende Personen in besonderem Maße — eine gesellschaftliche Verantwortung trägt. Durch meine Reisen komme ich mit den unterschiedlichsten Kulturen und Mentalitäten in Kontakt. Das bewahrt mich davor zu glauben, dass nur die Weise, wie wir leben, die allein „richtige“ wäre. Gleichzeitig bestärkt es mich aber in der Überzeugung, dass es universell gültige Menschenrechte gibt, für die wir uns in allen Teilen der Welt einsetzen sollen. Árpád Schilling nimmt in Kauf, dass er von Ungarn nach Frankreich emigrieren musste; Kirill Serebrennikov lebt seit mehr als einem Jahr im Hausarrest. Dennoch ist ihre künstlerische Schaffenskraft ungebrochen. Das beeindruckt mich.
1. Kammerkonzert: Fish for Five
Mi 07.11.2018, 19.30
Liederhalle, Mozartsaal

Franz Schubert Klavierquintett A-Dur D 667 „Forellenquintett“
Johannes Brahms Klarinettenquintett h-Moll op. 115

Mit Cornelius Meister, Gustavo Surgik, Yuan-Wen Chang, Madeleine Przybyl, Burkhard Mager, Sonoko Imai-Stastny, Guillaume Artus, Nemorino Scheliga, Zoltan Paulich