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04.05.2023 Musik – für das, worüber sich nicht sprechen lässt Messiaen als „geistlicher Komponist“ des 20. Jahrhunderts

Das Konzert „Cantico delle creature – Sonnengesang“ in der Kirche St. Fidelis eröffnet heute das Festival „Musik des Unsichtbaren“ rund um den Heiligen Franziskus und die Musik von Olivier Messiaen. Letzterer hat neben seiner monumentalen Oper „Saint François d’Assise“ viele geistliche Werke komponiert. Doch was ist das eigentlich genau – Kirchenmusik? Und wie lässt sich Messiaen als „geistlicher Komponist“ des 20. Jahrhunderts dabei einordnen? Christian Hermes, Stuttgarts Stadtdekan und Dompfarrer in St. Eberhard, gibt Aufschluss!
Was ist überhaupt Kirchenmusik? Geistliche Musik? Religiöse Musik? Spirituelle Musik? Darauf lässt sich schlichter oder komplexer antworten. Kirchenmusik, so lauteten einfachere Antwortversuche, wäre Musik, die in Kirchen erklingt – oder von der Kirche bestellt oder für sie gemacht wird – oder geistliche Themen und Texte vertont – oder in der Liturgie der Kirche ihren Platz hat. Geistliche oder religiöse Musik würde möglicherweise darüber hinaus die Intention und Religiosität von Komponisten, Aufführenden oder das Setting von Aufführungsformaten in den Blick nehmen oder irgendwie „geistlich“ assoziierte Formen und Stile, möglicherweise sogar Instrumentierungen, Dynamiken, Tempi, Harmonien oder was auch immer. Spirituelle Musik wäre dann ein weiter Sammelbegriff für Musik, die in der Weite der spirituellen und religiösen Traditionen verortet ist, die „besinnlich“, „fromm“ oder „andächtig“, „meditativ“ oder „chillig“ klingt. So recht überzeugen diese Antwortversuche nicht, denn leicht lassen sich Gegenbeispiele finden, die deutlich machen, dass es jenseits von Gewohnheiten, Konventionen, Klischees und äußerlichen Indikatoren einer differenzierten und ästhetisch-theologischen Herangehensweise bedarf, die an und in der Musik und ihrer Qualität, im klingenden Werk und seiner Rezeption, selbst Anhaltspunkte für ihre künstlerische und theologische Bedeutung wahrnimmt.

Zumal in der Musik der Moderne, wie auch in den anderen Künsten, versagen äußerliche Kriterien und gilt es, die theologische und spirituelle Qualität von Musik in ihr selbst zu erheben. Zumal im Blick auf die katholische Theologie der Kirchenmusik werden Musik und Musikästhetik sich gegen den abendländischen Logozentrismus, dementsprechend auch die Kirchenmusik nur als Begleitung, Illustration und affektive Verstärkung des Wortes und diesem nach- und untergeordnet funktionalisiert wird, behaupten müssen. Musik muss eine eigene Qualität als Kunst haben, wenn sie mehr als Unterhaltung, Kunsthandwerk und schlimmstenfalls Kitsch, sein will, und genau in dieser besonderen künstlerischen Qualität läge auch ihre theologische Bedeutung. Dabei wüsste die Theologie selbst seit Jahrhunderten am besten, dass die Möglichkeiten, das Göttliche und den Glauben sprachlich und dogmatisch zu fassen und zu begreifen, an der Inkommensurabilität ihres Gegenstandes scheitern müssen. „Si comprehendis, non est Deus“, wusste schon Augustinus: „Was du begreifst, ist nicht Gott.“ Schon im 13. Jahrhundert verbat sogar ein Ökumenisches Konzil der Theologie jegliche sprachlich-konzeptuelle Übergriffigkeit auf Gott und jegliche Analogiebildung zwischen Schöpfer und Geschaffenem und stellte fest, dass alle kategorialen Aussagen über Gott per se immer nur weitaus falscher als richtig sein können. Gott ist jenseits aller Sprache und aller Metaphern.

Damit wird eine Tradition angesprochen, die als „negative Theologie“ schon in der Antike beginnt und über Mittelalter und Neuzeit bis in die Moderne reicht. Jede Mystik wird darauf abheben, dass, wie Meister Eckhart betont, die „Gelassenheit in Gott“ letztlich darauf abzielt, alle Begrifflichkeit, ja „die Gottheit“ selbst zu lassen. Gott ist jenseits aller menschengemachten Vorstellungen, Bilder und Begriffe. Gott manifestiert sich und widerfährt als der Transzendente und transzendent bleibende Andere. Überraschenderweise finden wir Anklänge daran im 20. Jahrhundert bei dem Wiener Philosophen Ludwig Wittgenstein, der in seinem Tractatus logico-philosophicus aus dem Interesse an einer möglichst präzisen „wissenschaftlichen“ Sprache auffordert, „nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft“ (Satz 6.53), denn „die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Satz 5.6), und gerade aus dieser Strenge im Umgang mit Sprache festhält: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ (Satz 6.522) und das ganze Werk mit dem geheimnisvollen Satz beendet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Satz 7) Oder möglicherweise musizieren? Ist es nicht gerade die originäre Qualität von Musik, im Gegensatz zum begrifflichen Präzisionsanspruch von Sprache, immer wesentlich vieldeutig zu bleiben, und andererseits im Gegensatz zu höchster Kontextabhängigkeit eines spezifischen sprachlichen Systems wesentlich universal?

Nicht nur fängt Musik an, wo Sprache aufhört. Auch „das Mystische“ fängt an, wo Sprache aufhört. Das Mystische „zeigt“ sich, es „erscheint“ (ὤφθη: der Begriff, den das Neue Testament für die Erfahrung des Auferstandenen verwendet), wird gehört und wahrgenommen, in Klängen und Farben, in Schweigen und Stille. Es bezeichnet jene Qualität, die wir als Transzendenz bezeichnet, etwas, das nicht nur „erhaben“ ist, sondern alle Kategorien und Konventionen überschreitet oder vielmehr von jenseits der Grenzen unserer Spreche, unserer Welt und unseres Weltverstehens staunen macht, zu denken gibt, be-deutet, mich „unbedingt angeht“ (Paul Tillich) und womöglich sogar anspricht. Ein biblischer Schlüsselbegriff ist dabei כָּבוֹד – „kabod“, das mit dem deutschen Wort „Herrlichkeit“ nur sehr begrenzt wiedergegeben wird und Pracht, Glanz, Schönheit, Stärke, Kraft, Größe, Hoheit oder Majestät meinen kann, bzw. aus der Perspektive dessen, der sie erfährt: das Beeindruckende, ja („herrlich“ oder „schrecklich“) Umwerfende, mein Verstehenkönnen und die Grenzen meiner Sprache und meiner Welt, ihrer Kategorien und Zweckmäßigkeiten uneinholbar Sprengende. Dabei ist selbstverständlich, dass das in dieser Erfahrung sinnlich Wahrnehmbare und also Ästhetische nur Spur und Chiffre für das sein kann, was sich mit „Ehr-Furcht“ ahnen und achten lässt.

Olivier Messiaen und seinen Kompositionen kann alles das, was über Kirchenmusik, geistliche, religiöse oder spirituelle Musik gesagt wurde, zugeschrieben werden – in jenem einfachen Sinn und doch viel mehr in einem anspruchsvollen theologisch-ästhetischen Sinn. Ja, er war der Organist der katholischen Kirche Sainte Trinité und also „Kirchenmusiker“ im funktionalen Dienst der Liturgie. Ja, er war persönlich ein frommer katholischer Gläubiger, womöglich ein musikalischer Mystiker und las mit Begeisterung Hans Urs von Balthasars vielbändiges Werk „Herrlichkeit“. Ja, er verstand sein Musizieren als Gebet und Andacht in Musik, ihre Vollendung nicht im Konzert, sondern der gefeierten Liturgie der Eucharistie findend, wo im Sanctus die Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes aufbraust und in der Konsekration der Geist die Materie in das ästhetische Unterpfand göttlicher Präsenz wandelt. Und doch brach Messiaen mit den Konventionen und Klischees „religiöser“ Musik und überschritt sie in epochaler und höchst origineller Weise, die eben jene theologisch relevante Qualität anklingen lässt, in der sich „das Mystische“ zeigt. Seine Musik ist nicht in Töne übersetzte dogmatische Theologie oder Ausdruck einer sprachlich formulierten oder formulierbaren religiösen Erfahrung. Sie ist selbst und schafft selbst vor und jenseits begrifflicher Erfassung mystische Erfahrung und vermag, so könnte man in Analogie zum optischen „Erscheinen“ des Göttlichen in der „Theo‑phanie“ sagen – „Theo‑phonie“, Erklingen des herrlich Schönen und Schrecklichen, Göttlichen, Unfassbaren, Mystischen Transzendenten: Musik – für das, worüber sich nicht sprechen lässt.
Ein Text von Christian Hermes
Eine Übersicht der Veranstaltungen sowie alle Informationen zu Musik des Unsichtbaren finden Sie hier.