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11.01.2019 Spielen, um der Kontrolle zu entkommen
Spielen, um der Kontrolle zu entkommen
Was hat Tschaikowskis Libretto zu „Pique Dame“ nach Puschkins Roman mit Dostojewski zu tun? Wie kam es zu dem außergewöhnlichen Regiekonzept für Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung? Und was hat das Spielen Germans mit dem Spielen auf dem Theater zu tun? Sergio Morabito über seine Arbeit an Tschaikowskis Oper.
Durch Nüchternheit und lakonische Präzision dringt das Wunder von Puschkins Sprache zu schier unerschöpflicher Deutungsfülle vor. In Pique Dame (1834) lässt Puschkin die Requisiten einer romantischen Gespenstergeschichte in einer psychologischen und soziologischen Fallstudie aufgehen – darin besteht, wie es Dostojewski (in einem Brief vom 15. Juni 1880) als erster beschrieb, die eigentliche Kunstleistung seiner Erzählung. Für Tschaikowskis Oper, die über ein halbes Jahrhundert nach Puschkins Erzählung entstand, spielt diese Kunstleistung eine untergeordnete Rolle. Viel lieber überlässt sie sich einer hemmungslosen, fast schon pathologisch anmutenden Assoziationsflucht. Puschkins Realien dissoziieren in ihr wie in einem LSD-Rausch. Ihre Dramaturgie heftet sich an isolierte Details, die sie zu gespenstischen Dimensionen verzerrt – man denke an die im Schlafzimmer der alten Gräfin verstaubenden Porzellanschäferinnen, die in der Oper leibhaftig zu einem eigenen Intermezzo aufmarschieren. Die kalkulierte Ereignisfolge von Puschkins Erzählung wird ad absurdum geführt. Zwar setzt die Oper die Verabredung zum nächtlichen Stelldichein in Lisas Zimmer aufwändig in Szene (inklusive Wegbeschreibung und Schlüsselübergabe durch die maskierte Lisa auf dem Maskenball im Dritten Bild), zugleich ist sie von Anbeginn dramaturgisch desavouiert, da German im zweiten Bild bereits bewiesen hat, dass ihm Lisas Gemächer ganz ohne Schlüssel und Umweg über das Schlafzimmer der Gräfin zugänglich sind, indem er über den Balkon direkt zu ihr einsteigt.
Die Oper versucht, das von Puschkin berichtete Geschehen ins späte 18. Jahrhundert zurück zu schieben. Mit der genauen historischen Verortung löst sie die präzise soziale Charakteristik seiner Gestalten auf. So findet etwa Germans deutsche Abstammung und sein väterliches Erbe in der Oper keinerlei Erwähnung mehr. Die Figuren der Oper agieren in einem Niemandsland romantisch übersteigerter Expressivität.
Nun kann man bei Puschkin ohnehin nichts weglassen oder hinzufügen, ohne alles zu verändern. Jeder Versuch einer inszenatorischen „Schadensbegrenzung“ am ästhetischen Unrecht, das Puschkins Erzählung in der Oper widerfahren ist, erscheint uns daher als verlorene Liebesmüh. Natürlich wirkt die gelassene Heiterkeit von Puschkins Prosa zunächst moderner als der spätromantische 'Blow-up der Leidenschaften' in der Oper. Aber statt für dies Unzeitgemäße die (schlechte) „gute alte Oper“ verantwortlich zu machen, könnte man auch sagen, dass die Identifikation Tschaikowskis mit seinen Helden und Heldinnen zwar wenig mit Puschkin, dafür aber sehr viel mit Dostojewski zu tun hat. Dieser hat in seinen Erzählungen und Romanen die bei Puschkin und Gogol vorgefundenen, dort von außen geschilderten Figuren und Charaktere ganz ähnlich von innen erforscht, analysiert und zu einem obsessiven Selbst-Ausdruck getrieben, wie dies in der Oper geschieht. Tschaikowskis German, seine „mjatéshnaja duschá“ (aufrührerische Seele) steht Dostojewskis rebellierenden, anarchistischen Jünglingen, ihrem Größenwahn und ihrer Isolation, ihrem ausgehungerten Studentendasein viel näher als Puschkins borniertem, banalen deutsch-russischen Jedermann.
So haben wir uns mit Anna Viebrock entschieden, das ganze Stück als „Schwarztreppen-Roman“ zu erzählen – in Anlehnung an das russische „tschórnaja léstnitza“ = Hintertreppe, und bewusst mit beiden Bedeutungen dieses Wortes spielend: die „Hintertreppe“ als realer Handlungsraum und Synonym für „Kolportage“ zugleich. Uns scheint, keine der Gesellschaftsszenen der Oper (Sommergarten, Lisas Salon, Maskenball bei einem hohen Würdenträger, Spielkasino) muss als „real“ beglaubigt werden, das historisierende Dekor ist Teil einer Maskerade oder wird als Spuk halluziniert. Real ist nur das Delirium des verkrachten Studenten German, der im Treppenhaus einer verrottenden Petersburger Mietskaserne seinen Gesichten ausgeliefert ist wie der Psychopath und Alkoholiker Alexander Iwanowitsch Dudkin in jenem epochalen Petersburg-Roman (1913) von Andrei Bely, der am Vorabend der Revolution alle Geister des von Puschkin, Gogol und Dostojewski geschaffenen Stadtphantoms entfesselte.
Lassen wir uns weitertreiben in unserer von Dostojewski inspirierten Kolportage: Was, wenn die Gräfin (die bei Tschaikowski einem reinen Frauenhaushalt vorsteht) eine geheimnisvolle Stadtstreicherin wäre, mit einem Gefolge von „kleinen Alten“, so wie ihnen Baudelaire in seiner gleichnamigen Gedichtsequenz gehuldigt hat? Und Lisa die Tochter einer vielleicht ehemals adligen Familie, die in einer nachrevolutionären Kommunalka haust? Oft wird übergangen, dass die Verlobung mit Jeletzki Lisas eigener Wunsch und Wille ist. Im Kontext unserer „Dostojéwschtschina“ gewinnt ihre Vernunftehe existentielle Bedeutung. Bei Dostojewski geht es – meist fast unsichtbar, aber ständig – um Prostitution und Zuhälterei, aus der manches Mal die Heirat mit einem Freier der einzige Ausweg ist. So im Briefroman Arme Leute (1845), in dem sich die Heldin, die nach dem Tod des Vaters und dem sozialen Abstieg der Familie von einer vermeintlichen Wohltäterin verkuppelt wurde, nach Jahren entscheidet, mit dem Mann, der sie als erster missbraucht hat, eine Vernunftehe einzugehen. In Verbrechen und Strafe (1866) steht Dunja mit Swidrigailow in einem ähnlichen Verhältnis. Die Ehe mit Jeletzki wäre ein letzter gesellschaftlicher Rettungsanker für Lisa, der den Konflikt mit dem sie liebenden Habenichts German bedrängend nachvollziehbar macht. Auch die Depression und Todesgedanken Lisas sind dann mehr und anderes als romantischer Salon-Weltschmerz, nämlich Ausdruck der Erniedrigung der Frauen im vorrevolutionären Russland. Dostojewskis anonymer „Autor“ der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) geht übrigens mit der Prostituierten Lisa (!) genauso brutal um wie German mit der Heldin der Oper: indem er ihr eine romantisch-sentimentale Fluchtphantasie eingibt und sie dann aus Selbsthass verspottet und von sich stößt.
Das Thema der in Petersburg allgegenwärtigen Prostitution haben übrigens die Autoren der Oper mit Tomskis Ballade eingeführt: bei ihnen musste die Gräfin, die ihr finanzieller Ruin erpressbar gemacht hatte, für das Geheimnis der drei Karten ihren Körper verkaufen (bei Puschkin steht davon nichts). Wir nähern uns damit dem Spiel mit den imaginären Bildern des Begehrens, zu dem Puschkins Erzählung immer wieder verführt hat. An die Konstellation der sich ineinander spiegelnden jungen Lisa und der alten Gräfin haben Edgar Allan Poe mit Die Brille (1844), Henry James mit The Aspern Papers (1888) und Carlos Fuentes mit Aura (1962) angeknüpft. Bei ihnen werden die beiden Frauen zu Inkarnationen ein und derselben weiblichen Imago. Die Faszination, der German in der Oper vor dem Porträt der Gräfin erliegt, auf dem sie als Moskowitische Venus posiert, gleicht jener, die das Bild der Lulu auch noch im letzten, dem London-Akt von Wedekinds Büchse der Pandora (1902) ausübt, in dem die Heldin auf dem Straßenstrich gelandet ist.
Eine Exkursion in die nördliche Hauptstadt Russlands vermittelte uns eine Ahnung ihrer mythischen Topographie. Die Katastrophen ihrer Geschichte sind der Stadtlandschaft eingeschrieben. Noch heute fehlen Teile der hölzernen Treppengeländer ehemaliger Bürgerhäuser, die bei der Blockade Leningrads verfeuert wurden. Das Stadtpalais der Gräfin Golyzina, eines der realen Vorbilder Puschkins für die Zeichnung der alten Gräfin, wurde in sowjetischer Zeit zu einer Poliklinik. Bis heute beherbergt das Vestibül, dessen Rokoko-Stuckatur in starke Mitleidenschaft gezogen wurde, den Wartebereich für die Patienten. Anna Viebrock zitiert und montiert diese und andere architektonische und stadtlandschaftliche Details zu einer labyrinthischen Sequenz ineinander verschlungener Orte des permanenten Übergangs, wie sie Bachtin bei Dostojewski analysiert hat: »die Treppe, die Schwelle, die Diele, der Treppenabsatz«. Die Gräfin selbst ist mit der Schleuse des Windfangs ihres ehemaligen Petersburger Domizils unterwegs.
Trotz all dieser Bezugnahmen auf die russische Kulturgeschichte nach Puschkin bleibt Puschkin wichtig. Am Ende der Oper holt er uns ganz unverhofft wieder ein. Tschaikowski komponiert einen ekstatischen Erlösungsschluss: German stirbt einen Liebestod. Dieses urromantische Motiv – das Leben hinzugeben für einen höchsten Moment – scheint Puschkin denkbar fern zu stehen, und doch hat er es in mehrfachen Anläufen umkreist: zum ersten Mal in seinem Gedicht Kleopatra aus dem Jahr 1824, das er später noch zweimal aufgegriffen hat, in den Fragment gebliebenen Erzählungen Wir verbrachten den Abend im Landhaus und Ägyptische Nächte (beide 1835). Die schneidende Unsentimentalität freilich, mit der Puschkin die romantische Idee durch den Verkauf der Liebesnächte durch Kleopatra kommerzialisiert, und das Hasardspiel ihrer drei Freier und Schuldner, deren Reihenfolge durch das Los ermittelt wird, macht sein Kleopatra-Gedicht zum Gegenstück von Tomskis Ballade in der Oper. Auch bei der Pique Dame geht es wie bei Kleopatra um die Wahl der Königin, der „Femme fatale“: das Leben hingeben für einen höchsten Moment – das ist auch das, was German unbewusst tut, als seine Hand sich für die falsche Karte entscheidet, die eben darum die einzig richtige ist.
Die Schlusspointe von Puschkins Erzählung wie von Tschaikowskis Oper wird meist verkannt. Nicht zuletzt aus Unkenntnis der Spielregeln des Glücksspiels Pharao heißt es dann, der Geist der Gräfin habe German „betrogen“. Aber ganz und gar nicht, denn auch das As gewinnt ihrer Voraussage gemäß! Kein Schicksal, keine strafende Instanz, sondern German selbst ist es, der sich unbewusst die Pique Dame ausgesucht und so für den Ver-Lust, die Lust am Verlust, entschieden hat.
Spielen, um der Kontrolle zu entkommen, spielen, um sich selbst zu überlisten, verrücktspielen – auf dem Theater, mit dem Theater, da man sonst verstummt; planen und berechnen, damit alles ganz anders kommt, um im entscheidenden Moment auf die Pique Dame statt auf das As zu setzen, verlieren, um zu gewinnen – in gewisser Weise ist das existentielle Thema der Pique Dame auch unser Thema als „Theater-Spieler“. Aber zu sagen, deswegen hätten wir uns diese Oper ausgesucht, wäre unwahr: Die Attraktion des Stückes war wie meist eher intuitiv, und die Entscheidung „darauf zu setzen“ auch ein Vabanquespiel. Der Erfahrungsprozess läuft umgekehrt, als gemeinhin angenommen wird: Im Erarbeiten, Entdecken, Erfinden eines Stückes finden wir heraus, warum wir uns – vielleicht – für es entschieden haben.
Die Oper versucht, das von Puschkin berichtete Geschehen ins späte 18. Jahrhundert zurück zu schieben. Mit der genauen historischen Verortung löst sie die präzise soziale Charakteristik seiner Gestalten auf. So findet etwa Germans deutsche Abstammung und sein väterliches Erbe in der Oper keinerlei Erwähnung mehr. Die Figuren der Oper agieren in einem Niemandsland romantisch übersteigerter Expressivität.
Nun kann man bei Puschkin ohnehin nichts weglassen oder hinzufügen, ohne alles zu verändern. Jeder Versuch einer inszenatorischen „Schadensbegrenzung“ am ästhetischen Unrecht, das Puschkins Erzählung in der Oper widerfahren ist, erscheint uns daher als verlorene Liebesmüh. Natürlich wirkt die gelassene Heiterkeit von Puschkins Prosa zunächst moderner als der spätromantische 'Blow-up der Leidenschaften' in der Oper. Aber statt für dies Unzeitgemäße die (schlechte) „gute alte Oper“ verantwortlich zu machen, könnte man auch sagen, dass die Identifikation Tschaikowskis mit seinen Helden und Heldinnen zwar wenig mit Puschkin, dafür aber sehr viel mit Dostojewski zu tun hat. Dieser hat in seinen Erzählungen und Romanen die bei Puschkin und Gogol vorgefundenen, dort von außen geschilderten Figuren und Charaktere ganz ähnlich von innen erforscht, analysiert und zu einem obsessiven Selbst-Ausdruck getrieben, wie dies in der Oper geschieht. Tschaikowskis German, seine „mjatéshnaja duschá“ (aufrührerische Seele) steht Dostojewskis rebellierenden, anarchistischen Jünglingen, ihrem Größenwahn und ihrer Isolation, ihrem ausgehungerten Studentendasein viel näher als Puschkins borniertem, banalen deutsch-russischen Jedermann.
So haben wir uns mit Anna Viebrock entschieden, das ganze Stück als „Schwarztreppen-Roman“ zu erzählen – in Anlehnung an das russische „tschórnaja léstnitza“ = Hintertreppe, und bewusst mit beiden Bedeutungen dieses Wortes spielend: die „Hintertreppe“ als realer Handlungsraum und Synonym für „Kolportage“ zugleich. Uns scheint, keine der Gesellschaftsszenen der Oper (Sommergarten, Lisas Salon, Maskenball bei einem hohen Würdenträger, Spielkasino) muss als „real“ beglaubigt werden, das historisierende Dekor ist Teil einer Maskerade oder wird als Spuk halluziniert. Real ist nur das Delirium des verkrachten Studenten German, der im Treppenhaus einer verrottenden Petersburger Mietskaserne seinen Gesichten ausgeliefert ist wie der Psychopath und Alkoholiker Alexander Iwanowitsch Dudkin in jenem epochalen Petersburg-Roman (1913) von Andrei Bely, der am Vorabend der Revolution alle Geister des von Puschkin, Gogol und Dostojewski geschaffenen Stadtphantoms entfesselte.
Lassen wir uns weitertreiben in unserer von Dostojewski inspirierten Kolportage: Was, wenn die Gräfin (die bei Tschaikowski einem reinen Frauenhaushalt vorsteht) eine geheimnisvolle Stadtstreicherin wäre, mit einem Gefolge von „kleinen Alten“, so wie ihnen Baudelaire in seiner gleichnamigen Gedichtsequenz gehuldigt hat? Und Lisa die Tochter einer vielleicht ehemals adligen Familie, die in einer nachrevolutionären Kommunalka haust? Oft wird übergangen, dass die Verlobung mit Jeletzki Lisas eigener Wunsch und Wille ist. Im Kontext unserer „Dostojéwschtschina“ gewinnt ihre Vernunftehe existentielle Bedeutung. Bei Dostojewski geht es – meist fast unsichtbar, aber ständig – um Prostitution und Zuhälterei, aus der manches Mal die Heirat mit einem Freier der einzige Ausweg ist. So im Briefroman Arme Leute (1845), in dem sich die Heldin, die nach dem Tod des Vaters und dem sozialen Abstieg der Familie von einer vermeintlichen Wohltäterin verkuppelt wurde, nach Jahren entscheidet, mit dem Mann, der sie als erster missbraucht hat, eine Vernunftehe einzugehen. In Verbrechen und Strafe (1866) steht Dunja mit Swidrigailow in einem ähnlichen Verhältnis. Die Ehe mit Jeletzki wäre ein letzter gesellschaftlicher Rettungsanker für Lisa, der den Konflikt mit dem sie liebenden Habenichts German bedrängend nachvollziehbar macht. Auch die Depression und Todesgedanken Lisas sind dann mehr und anderes als romantischer Salon-Weltschmerz, nämlich Ausdruck der Erniedrigung der Frauen im vorrevolutionären Russland. Dostojewskis anonymer „Autor“ der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) geht übrigens mit der Prostituierten Lisa (!) genauso brutal um wie German mit der Heldin der Oper: indem er ihr eine romantisch-sentimentale Fluchtphantasie eingibt und sie dann aus Selbsthass verspottet und von sich stößt.
Das Thema der in Petersburg allgegenwärtigen Prostitution haben übrigens die Autoren der Oper mit Tomskis Ballade eingeführt: bei ihnen musste die Gräfin, die ihr finanzieller Ruin erpressbar gemacht hatte, für das Geheimnis der drei Karten ihren Körper verkaufen (bei Puschkin steht davon nichts). Wir nähern uns damit dem Spiel mit den imaginären Bildern des Begehrens, zu dem Puschkins Erzählung immer wieder verführt hat. An die Konstellation der sich ineinander spiegelnden jungen Lisa und der alten Gräfin haben Edgar Allan Poe mit Die Brille (1844), Henry James mit The Aspern Papers (1888) und Carlos Fuentes mit Aura (1962) angeknüpft. Bei ihnen werden die beiden Frauen zu Inkarnationen ein und derselben weiblichen Imago. Die Faszination, der German in der Oper vor dem Porträt der Gräfin erliegt, auf dem sie als Moskowitische Venus posiert, gleicht jener, die das Bild der Lulu auch noch im letzten, dem London-Akt von Wedekinds Büchse der Pandora (1902) ausübt, in dem die Heldin auf dem Straßenstrich gelandet ist.
Eine Exkursion in die nördliche Hauptstadt Russlands vermittelte uns eine Ahnung ihrer mythischen Topographie. Die Katastrophen ihrer Geschichte sind der Stadtlandschaft eingeschrieben. Noch heute fehlen Teile der hölzernen Treppengeländer ehemaliger Bürgerhäuser, die bei der Blockade Leningrads verfeuert wurden. Das Stadtpalais der Gräfin Golyzina, eines der realen Vorbilder Puschkins für die Zeichnung der alten Gräfin, wurde in sowjetischer Zeit zu einer Poliklinik. Bis heute beherbergt das Vestibül, dessen Rokoko-Stuckatur in starke Mitleidenschaft gezogen wurde, den Wartebereich für die Patienten. Anna Viebrock zitiert und montiert diese und andere architektonische und stadtlandschaftliche Details zu einer labyrinthischen Sequenz ineinander verschlungener Orte des permanenten Übergangs, wie sie Bachtin bei Dostojewski analysiert hat: »die Treppe, die Schwelle, die Diele, der Treppenabsatz«. Die Gräfin selbst ist mit der Schleuse des Windfangs ihres ehemaligen Petersburger Domizils unterwegs.
Trotz all dieser Bezugnahmen auf die russische Kulturgeschichte nach Puschkin bleibt Puschkin wichtig. Am Ende der Oper holt er uns ganz unverhofft wieder ein. Tschaikowski komponiert einen ekstatischen Erlösungsschluss: German stirbt einen Liebestod. Dieses urromantische Motiv – das Leben hinzugeben für einen höchsten Moment – scheint Puschkin denkbar fern zu stehen, und doch hat er es in mehrfachen Anläufen umkreist: zum ersten Mal in seinem Gedicht Kleopatra aus dem Jahr 1824, das er später noch zweimal aufgegriffen hat, in den Fragment gebliebenen Erzählungen Wir verbrachten den Abend im Landhaus und Ägyptische Nächte (beide 1835). Die schneidende Unsentimentalität freilich, mit der Puschkin die romantische Idee durch den Verkauf der Liebesnächte durch Kleopatra kommerzialisiert, und das Hasardspiel ihrer drei Freier und Schuldner, deren Reihenfolge durch das Los ermittelt wird, macht sein Kleopatra-Gedicht zum Gegenstück von Tomskis Ballade in der Oper. Auch bei der Pique Dame geht es wie bei Kleopatra um die Wahl der Königin, der „Femme fatale“: das Leben hingeben für einen höchsten Moment – das ist auch das, was German unbewusst tut, als seine Hand sich für die falsche Karte entscheidet, die eben darum die einzig richtige ist.
Die Schlusspointe von Puschkins Erzählung wie von Tschaikowskis Oper wird meist verkannt. Nicht zuletzt aus Unkenntnis der Spielregeln des Glücksspiels Pharao heißt es dann, der Geist der Gräfin habe German „betrogen“. Aber ganz und gar nicht, denn auch das As gewinnt ihrer Voraussage gemäß! Kein Schicksal, keine strafende Instanz, sondern German selbst ist es, der sich unbewusst die Pique Dame ausgesucht und so für den Ver-Lust, die Lust am Verlust, entschieden hat.
Spielen, um der Kontrolle zu entkommen, spielen, um sich selbst zu überlisten, verrücktspielen – auf dem Theater, mit dem Theater, da man sonst verstummt; planen und berechnen, damit alles ganz anders kommt, um im entscheidenden Moment auf die Pique Dame statt auf das As zu setzen, verlieren, um zu gewinnen – in gewisser Weise ist das existentielle Thema der Pique Dame auch unser Thema als „Theater-Spieler“. Aber zu sagen, deswegen hätten wir uns diese Oper ausgesucht, wäre unwahr: Die Attraktion des Stückes war wie meist eher intuitiv, und die Entscheidung „darauf zu setzen“ auch ein Vabanquespiel. Der Erfahrungsprozess läuft umgekehrt, als gemeinhin angenommen wird: Im Erarbeiten, Entdecken, Erfinden eines Stückes finden wir heraus, warum wir uns – vielleicht – für es entschieden haben.
Pjotr Iljitsch Tschaikowski
Pique Dame
Sa 12.01.2019, 19.00 Uhr
Fr 18.01.2019, 19.00 Uhr
Fr 25.01.2019, 19.00 Uhr
Pique Dame
Sa 12.01.2019, 19.00 Uhr
Fr 18.01.2019, 19.00 Uhr
Fr 25.01.2019, 19.00 Uhr