Kerstin Hägele ist seit zehn Jahren als Produktionsleiterin am Staatstheater Stuttgart. Die studierte Bühnen- und Kostümbildnerin verantwortet die Kostüme für die Neuproduktion „MELUSINE Was machst du am Samstag?“ am JOiN. Denise Bentz hat sie in ihrem Atelier unter dem Dach des Littmann-Baus getroffen und mit ihr einen Crashkurs in Sachen Kostümkonzept gemacht.

Sie sind seit zehn Jahren als Produktionsleiterin für die Junge Oper und das Schauspiel am Haus, haben Kostüm- und Bühnenbild studiert. Was begeistert Sie an diesem Beruf am meisten?
Ich finde es unglaublich spannend, wie vielfältig der menschliche Körper ist. Keine Sängerin, kein Sänger ist gleich. Und damit meine ich nicht nur die Kleidergröße. Es geht um Proportionen und Körpertypen, die den Gesamteindruck ausmachen, den wir von einem Menschen haben. Das macht die Neuproduktion MELUSINE – Was machst du am Samstag? so außergewöhnlich. Da verkörpern drei ganz unterschiedliche Frauen die Rolle der Melusine und wirbeln unsere bisherigen Sehgewohnheiten, Vorstellung von Weiblichkeit und Körperzuschreibungen gehörig durcheinander. Und das auf eine so fantasievolle, kluge und unterhaltsame Weise, dass man sich dem Sog des Stücks gar nicht entziehen kann. Entsprechend vielseitig, bunt und überraschend sind die Rollenwechsel, unterstützt durch die Kostüme.
In zwei Wochen ist Premiere, sind die knapp 30 Kostüme schon alle fertig?
Fertig noch nicht, aber wir sind auf einem sehr guten Weg. Bis zur Generalprobe kann sich bei Neuproduktionen eigentlich immer noch etwas ändern. Bei MELUSINE wurde das Stück in enger Zusammenarbeit von Komponistin, Librettistin, Kostüm und Regie und den drei Sängerinnen entwickelt. Die Musik war noch im Entstehen, als ich in die Entwurfsphase ging. Es ist quasi ein Experiment, bei dem in den Proben immer wieder neue Ideen entstehen, die ich in den Kostümen dann gerne aufgreife. Weil die Kostüme bei MELUSINE eng mit dem Spiel mit Identitäten verknüpft sind, die sich in jedem Kapitel wandeln und verändern, haben wir sehr viele Kostümwechsel.
MELUSINE ist ein komplexes Werk über Geschlechteridentitäten und Rollenzuschreibungen, wo setzt man da bei der Konzeptentwicklung an?
Das Werk ist in der Tat sehr vielschichtig und bietet viele Möglichkeiten der Interpretation und visuellen Umsetzung. Normalerweise starte ich bei Neuproduktionen mit einer ausgiebigen Literaturrecherche. Bei dieser Produktion ist mir aufgefallen, dass ich sehr viel Material schon seit 15 Jahren im Regal stehen habe. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Verständnis von Frauenrollen, Körper und Geschlecht und der Zuschreibung bestimmter Attribute interessiert und begleitet mich seit langem.
Mein Skizzenbuch begleitet mich über den kompletten Prozess hinweg, es liegt nachts sogar neben meinem Bett, um alle spontanen Ideen einzufangen.
Kerstin Hägele
Sobald ich mich eingelesen habe, fange ich an, Material zu sammeln, zum Beispiel Fotos von Werken anderer Künstler*innen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, Modetrends, Figuren aus Mythen, Kunst-Experimente. Und natürlich bieten die sozialen Medien viel Inspiration. So richtig verarbeiten kann ich alle Eindrücke aber erst, wenn ich selbst zeichne und Ideen skizziere bzw. zeichnerisch auf meine drei Melusinen anwende. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob ich einen Stil oder einen bestimmten Kleidungsschnitt an einem Modell sehe oder an meinen realen Sängerinnen. Da wären wir wieder beim Thema Proportionen und Typ. Wie lang sind bspw. die Beine im Verhältnis zum Oberkörper? Ist der Körper eher weiblich oder androgyn? Ist die Person klein oder groß, schmal oder breitschultrig … Das alles ist viel entscheidender für den Gesamteindruck als die Kleidergröße. Nur wenn ich das berücksichtige, habe ich am Ende wirkungsvolle Kostüme, die den beabsichtigten Inhalt zum Publikum transportieren.

Als die Besetzung für MELUSINE feststand, habe ich mit Fotografien der Sängerinnen experimentiert. Ich habe die Ganzkörperfotos zerschnitten und wie ein Puzzle neu zusammengesetzt, um mich den Körpern und Typen spielerisch anzunähern. Beim Brainstorming sind mir dann verschiedene Assoziationen gekommen, die ich versucht habe, zeichnerisch weiterzuentwickeln. Mein Skizzenbuch begleitet mich über den kompletten Prozess hinweg, es liegt nachts sogar neben meinem Bett, um alle spontanen Ideen einzufangen.
Kerstin Hägele mit ihrem Skizzenbuch für MELUSINE Was machst du am Samstag?
Das klingt nach einem 24h-Prozess und dem totalen Eintauchen in die Produktion.
In der Tat. Wenn ich erst mal im Thema drin bin, ist es schwer, mich dem kreativen Prozess zu entziehen. Auch nach Feierabend kreisen die Gedanken immer wieder um das Werk. So entsteht Stück für Stück ein Konzept, das ich dann im nächsten Schritt mit der Komponistin und Librettistin abstimme. Welche Ideen haben sie, welches Bild hatten sie beim Schreiben vielleicht schon im Hinterkopf, welche Inhalte sollen besonders hervorgehoben werden. Ein besonderer Höhepunkt bei dieser Produktion war für mich, dass sich meine Sichtweise auf das Thema mit der der Librettistin und Komponistin komplett gedeckt hat, obwohl uns altersmäßig doch einige Jahre trennen.
Gibt es einen Unterschied zwischen JOiN-Produktionen und Kostümkonzepten für die große Bühne im Opernhaus?
Im JOiN sitzen die Zuschauer fast auf der Bühne, weil der Raum vergleichsweise klein ist. Auch Details sind dadurch sehr gut sichtbar. Das ermöglicht uns Spielereien bei den Kostümen, beispielsweise kleine Nixen-Applikationen, die von Kindern und Jugendlichen im Publikum meist sofort entdeckt werden. Auf der anderen Seite müssen wir viel stärker dafür sorgen, dass sich die Sängerinnen in ihren Kostümen wohl und sicher fühlen und nicht ausgestellt werden. Ein Vorteil des JOiN ist, dass wir die Kostüme frühzeitig im Scheinwerferlicht testen können. Wie warm wird es im Kostüm? Wie sieht der Stoff bei verschiedenen Lichtstimmungen aus? Auf der großen Bühne sind diese Tests mit dem Licht personell nicht zu machen.
30 Kostüme für 3 Sängerinnen klingt nach viel Materialeinsatz. Wie wichtig ist Nachhaltigkeit bei dieser Produktion?
Bei MELUSINE stammen sehr viele Kostüme aus dem Fundus. Sie waren bereits Teil anderer Produktionen und werden für diese Produktion neu zusammengestellt und bei Bedarf abgeändert, um perfekt ins Konzept und natürlich zur jeweiligen Sängerin zu passen. Das spart Material, ist nachhaltig und hilft uns, mit dem vergleichsweise kleinen Budget dieser Produktion klarzukommen. Ich habe neben dem Budget für Neuanschaffungen nur ein bestimmtes Kontingent an Werkstattstunden in der Schneiderei, mit denen ich haushalten muss. Die Arbeit mit Funduskostümen spart Zeit, ist manchmal aber auch gar nicht so einfach, vor allem wenn drei gleiche Outfits gefordert sind, die dann auch noch der Besetzung passen müssen.
Was machen Sie, wenn es mal nicht passt oder der Fundus nicht genug hergibt?
Entweder schneidern die Kolleginnen der Werkstätten selbst oder wir suchen ähnliche Kleidungsstücke in Secondhandläden und passen diese entsprechend an.
Und wenn das Budget nicht reicht …?
Dann muss ich theoretisch selbst an die Nähmaschine, bisher haben mein Charme und Verhandlungsgeschick aber immer noch ausgereicht.
Zusätzlich finden Sie ein Video-Interview mit Kerstin Hägele hier.

MELUSINE – Was machst du am Samstag?

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