Der Bau des Stuttgarter „Kleinen Hauses“

Wo einst der Königliche Botanische Garten seine Wurzeln schlug, liegt seit fast 120 Jahren das größte Dreispartenhaus und „das schönste Theater der Welt“, so Max Reinhardt. Wie es dazu kam, über innovative Repertoirezuteilung im Großen und Kleinen Haus und über die Janusköpfigkeit des Doppeltheaters und des Zuschauerraums erzählt Patrick Hahn in seinem Text.
Auszüge aus dem Text „Interimstheater“

Der Eisenlohrbau
Vor 100 Jahren stand neben dem Großen und dem Kleinen Haus ein drittes Theater, wenn auch nur für kurze Zeit: Ein Interimstheater, das der Königlichen Hofbühne von 1902 bis 1912 eine Heimat bot. »Ich wünsche, dass alle bestehenden Verträge in vollem Umfang aufrechterhalten werden! «, soll der König »im Widerschein der hochzüngelnden Flammen« gesagt haben, als ein Brand in der Nacht vom 19. zum 20. Januar 1902 das alte Hoftheater »in Schutt und Asche« legte. Im Zeitraum von nur acht Monaten ließ König Wilhelm II., an der Stelle wo heute der Landtag steht, eine Übergangsspielstätte errichten. Ludwig Eisenlohr entwarf den mit Zügen des Jugendstil durchaus modisch gekennzeichneten Bau, der – nach vergeblichen Bemühungen, das Haus nach Ulm zu verkaufen – 1912 wieder abgerissen wurde. (Die Wunde, die der Theaterbrand in das Stadtzentrum gerissen hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits durch das neue Kunstgebäude von Theodor Fischer fast geschlossen worden.) Im Mittleren Schlossgarten ist noch ein letztes Überbleibsel des alten Hoftheaters zu besichtigen. Eine Portaltreppe, die einen der ersten Renaissancebauten nördlich der Alpen zierte: das fürstliche Lusthaus, für Jahrhunderte Spielplatz aristokratischer Schaulust und bürgerlicher Erbauung.
Brand des Hoftheaters am 19. Januar 1902, nach einer Vorstellung von Die Meistersinger von Nürnberg
Das Interimstheater. Heute steht an dieser Stelle der Landtag Baden-Württemberg.
Der Littmannbau
Der Weg zum Stuttgarter Littmannbau führt nicht nur im symbolischen Sinn »über Putlitz«. Der Pfad von der Königstraße durch die Theaterpassage zu den Staatstheatern trägt seinen Namen. Putlitz war es, der den Münchner Architekten Max Littmann für Stuttgart entdeckte und mit ihm gemeinsam die Vision einer Doppeltheateranlage entwickelte. Ab 1902 befasste sich Littmann mit der Planung und ging schließlich 1908 auch erfolgreich aus dem Wettbewerb um den Neubau hervor. Das Münchner Prinzregententheater, eröffnet im Jahr 1901, wurde zum ersten Ausweis seiner »Theaterbegabung«, die sich in insgesamt elf Bauwerken manifestieren sollte. Darunter das Schillertheater in Berlin Charlottenburg (1905 – 06), das Großherzogliche Hoftheater in Weimar (1906 – 08), die Stadttheater in Hildesheim (1908 – 09), in Posen (1908 – 09) und in Bozen (1913 – 18). Sein Hauptwerk ist die Stuttgarter Theateranlage.
Die Idee, einen Gebäudekomplex mit einem Großen und einem Kleinen Haus zu entwerfen entsprang einer Erfahrung, die Putlitz im Rahmen der Ausweichspielzeit des Jahres 1902 im Wilhelma-Theater gemacht hatte. »Trotz aller Mühe«, schreibt Putlitz, führte im alten Hoftheater »die Darstellung moderner und intimer Stücke nicht zu dem gewollten und gewünschten Erfolg. […] Ich musste erkennen, dass der kleine intime Rahmen des Kurtheaters das Geheimnis der Wirkung in sich trug«.
Noch hinter dem Bauzaun und ohne Fenster steht das Neue Hoftheater kurz vor seiner Eröffnung.
Das Doppeltheater
Mit seinem Plan, in Stuttgart ein Großes und ein Kleines Haus zu erbauen, erregte Putlitz, wie sich auch der Schauspieler Otto Miethke – Fach: Charakter-Komiker – erinnert, »bedenkliches Kopfschütteln«, nicht zuletzt aufgrund der Standortfrage für den 180 m breiten Gebäudekomplex: »Der heutige Platz wurde bemängelt: ›Der Nesenbach geht unten durch, und da würden die Theater bald versaufen‹; außerdem wäre es ewig schade um den an dieser Stelle gelegenen Botanischen Garten. Man wusste eigentlich gar nicht recht, wo dieser lag, jedenfalls war er so klein und so wenig besucht, dass nie ein besetzter Stuhl zu finden war. Nachdem der Streit um die Platzfrage lange Zeit hin und her schwankte, wurde eine öffentliche Abstimmung angeordnet, bei der die größte Stimmenzahl für den alten Platz, die nächste Stimmenzahl für den Waisenhausplatz und nur einige hundert Stimmen für den heutigen Platz waren. Aber schließlich drang doch unser Baron mit seinem Plan durch […].« Der Durchbruch gelang, als neben dem Land, das den Verlust des Hoftheaters zu ersetzen verpflichtet war, und dem König – der das Unternehmen selbst nicht nur mit einem Teil seines Gartens, sondern auch finanziell stark unterstützte – auch die Stadt eine größere Summe zum Bauvorhaben und einen Betriebskostenzuschuss versprach – unter der Bedingung, dass zwei Häuser gebaut würden. Ausschlaggebend mag hierfür die Aussicht gewesen sein, auch nach funktionalen Gesichtspunkten einen neuen Maßstab zu setzen, mit einem Betrieb, der aufgrund der Verzahnung von Spiel- und Werkstätten besonders effizient – also sparsam – zu arbeiten in der Lage wäre.

Aus den ersten Beschreibungen spricht die Euphorie über die technischen Möglichkeiten der neuen Theater. »Maschinell ist dieses Riesengebäude so eminent praktisch ausgestattet, dass fortan der Ausfall einer Opernvorstellung durch plötzliche Erkrankung oder dergleichen nahezu ausgeschlossen ist«, schrieb Paul Wittko 1912. »Auf die […] unkomplizierteste Weise lässt sich der ganze dekorative Apparat jeder beliebigen Repertoire-Oper einschieben.« Die Begeisterung des Eröffnungsjahres ist heute längst Ernüchterung gewichen. Schon vor Jahrzehnten klagte der Hochbauamts-Chef Dieter Hauffe, »das ist wie der Kölner Dom, dieses Haus«: eine unendliche Baustelle. Schon im Frühjahr 1913 beginnt man nachträglich einen Rundhorizont, Fortuny-Beleuchtung und einen Wolkenzugapparat einzubauen – erste Maßnahmen im Rahmen einer fortlaufenden Modernisierung der Technik bis zum heutigen Tag.

Mancher Mangel entsprang der Doppelnatur der Gebäude als »Königliche Hoftheater« mit einem großen bürgerlichen Publikum: Um die standesgemäße königliche Anfahrt mit separatem Zugang zu gewährleisten, opferte Littmann gar eine zweite Seitenbühne.
Als der Eckensee noch rund war
Zuschauerraumtheater I
Auch im Zuschauerraum des Großen Hauses ist die Janusköpfigkeit dieser Architektur bis heute zu besichtigen: in ihrer hybriden Mischung aus Rang-, Logen- und Amphitheater – wie sie auch das alte Kleine Haus prägte – liegt ein besonderer Reiz des Stuttgarter Großen Hauses. Mit dem Zuschauerraum seines Münchner Prinzregententheaters schloss Littmann unmittelbar an die fortschrittlichen Ideen Richard Wagners an, bei dessen Vision eines amphitheatralischen Zuschauerraums, in dem alle Besucher unterschiedslos gemeinsam auf das Musiktheatererlebnis ausgerichtet sind. Bei der Konzeption der Stuttgarter Theater hat Littmann die Problematik sorgfältig reflektiert: »Ein Amphitheater gehört überall dorthin, wo das große Drama – sei es das Wort- oder das Tondrama – ausschließlich gepflegt werden soll, […] und […] ist schließlich da am Platze, wo […] alle Rang- und Klassenunterschiede fallen, und das demokratische Prinzip durch die Einheit der Plätze versinnbildlicht werden soll.« (Volkart gestaltete den Zuschauerraum des neuen Kleinen Hauses 1962 entgegen seiner ursprünglichen Intention in amphitheatralischer
Sitzordnung.) Unmittelbar an das antike Amphitheater scheint Littmanns Vorgehensweise in der Planung des Hauses anzuschließen: der Orchestergraben bildete den Ausgangspunkt, seine Größe, ausgelegt auf 106 Musiker, wurde in einer Sitzprobe unter Aufsicht des damaligen Generalmusikdirektors Max von Schillings und des Komponisten Richard Strauss als erste festgelegt. Wie die Orchestra die Arena bestimmte der Stuttgarter Orchestergraben den Zuschauerraum. Neben den pragmatischen Gründen – ein Rangtheater fasst auf kleinerer Fläche mehr Zuschauer als ein Amphitheater – dürften nicht zuletzt gesellschaftliche Aspekte zu Littmanns »Zwischenlösung« geführt haben. Denn das Rangtheater ermöglicht »eine Teilung der Besucher, wo sie von höfischer Etikette oder gesellschaftlichen Einrichtungen verlangt wird«, zumal, wenn es wenigstens teilweise mit Logen versehen ist. »Und darin dürfte die Hauptursache liegen«, so Littmann, »die dem Rangtheater seine Daseinsberechtigung gibt und solange geben wird, als nicht unsere ganzen sozialen Verhältnisse geradezu radikale Umwandlungen erfahren haben.« Wie nahe diese radikalen Umwälzungen zu diesem Zeitpunkt bereits waren, konnte er nicht ahnen. Im Relief des Königspaares über der zentralen Tür im Foyer des ersten Ranges und ihren Initialen W(ilhelm) und CH(arlotte) in den Gittern der Balkonbrüstungen hat sich die alte Ordnung bis heute sichtbar in das Gebäude eingeschrieben, umspielt von der hellenischen Heiterkeit dionysischer Szenen.
Das Königliche Hoftheater mit der Straßenbahnlinie 1.
Groß und Klein
Nachhaltigsten Einfluss auf die Architektur der Staatstheater Stuttgart hatten aber wohl nicht bauliche, sondern organisatorische Veränderungen. Die gemeinsam mit Littmann verwirklichte Theatervision des Baron von Putlitz sah keineswegs eine Trennung der Sparten auf das Große (Opern-) und das Kleine (Schauspiel-)Haus vor: Im Kleinen Haus erklangen nicht nur erstmals moderne Dramen, es bot gleichermaßen den Opern von Wolfgang Amadeus Mozart den adäquaten Rahmen und erlebte die Erstaufführung der Urfassung der Ariadne von Richard Strauss. Umgekehrt war das Große Haus nicht nur Schauplatz großer Opern, sondern auch der »Staatsaktionen« von Goethe oder Schiller. »Ein Haus, das für die Tonmassen einer mit hundert und mehr Musikern besetzten Ring-Aufführung gebaut ist, kann unmöglich für Così fan tutte sich eignen, und ein Haus, in dem Scribes Das Glas Wasser zu künstlerischer
Wirkung gelangt, würde erdrückend sein für die Shakespeare’schen Königsdramen«, schreibt Max Littmann mit Verweis auf die Nutzung des Cuvilliés- und des Nationaltheaters in München. Von dieser ursprüngliche Nutzung der beiden Theater für Schauspiel und Musiktheater erzählen immer noch die weißen Hermen im Prunkfoyer des Großen Hauses, wo neben Mozart, Beethoven und Wagner auch Shakespeare, Schiller und Goethe ihre goldene Nische »bewohnen«. Bereits in der Spielzeit 1919/20 wird die Trennung der Spielbetriebe zwischen Oper und Schauspiel weitgehend vollzogen und nur noch gelegentlich aufgebrochen.