Demokratie und Kultur

Am 9. März gaben Musiker*innen des Staatsorchesters und der Staatsoper Stuttgart auf Einladung von Landtagspräsidentin Muhterem Aras hin ein bewegendes Friedenskonzert im Landtag von Baden-Württemberg. Beteiligt waren dabei Künstler*innen unterschiedlichster Nationen: Sie stammen aus Polen, Rumänien, Russland, der Ukraine, Ungarn und Deutschland, sie alle leben und musizieren in Baden-Württemberg. Auf dem Programm standen Werke estnischer, russischer und ukrainischer Komponisten. Generalmusikdirektor Cornelius Meister hielt im Rahmen des Konzerts eine Rede. Ein Ausschnitt.
Eine stabile Demokratie und eine Kultur des Miteinanders sind untrennbar verbunden. So ist es kein Zufall, dass sich die sogenannte klassische Epoche der griechischen Antike zur Wiege der Demokratie entwickelt hat – eine Epoche, in der Philosophie, Kunst und Wissenschaft in höchster Blüte standen. Tagtäglich profitieren wir von den Erkenntnissen jener Zeit, die nun schon rund 2400 Jahre zurückliegt.

Wir haben uns hierzulande daran gewöhnt, die Demokratie als beste aller Staatsformen anzusehen. Entsprechend herablassend schauen manche von uns auf Staaten, die eine andere Tradition haben als wir. Aber lassen Sie uns nicht vergessen, dass auch in den sogenannten westlichen Ländern zentrale Errungenschaften, die heute selbstverständlich erscheinen, erst vor gar nicht allzu langer Zeit Wirklichkeit geworden sind. Ich denke z. B. an den Paragrafen 175, der erst im Jahr 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, oder an das Frauenwahlrecht. In der Schweiz durften Frauen landesweit zum ersten Mal im Jahr 1971 wählen, aber der Kanton Appenzell Innerrhoden – halten Sie sich fest – brauchte bis zum Jahr 1990, bis den Frauen auf kantonaler Ebene auch dort das Wahlrecht zugestanden wurde.

Daher: Ruhen wir uns nicht auf dem Erreichten aus, sondern entwickeln wir die Demokratie immer weiter! Festigen wir sie, damit sie blühen möge, nicht nur in anderen Ländern, sondern auch hier! Es gibt wahrlich genügend Angriffe auf die Demokratie, auch bei uns.

Vor diesem Hintergrund widerstrebt es mir, mich allzu selbstgewiss oder gar von oben herab gegenüber Menschen zu verhalten, die anders sozialisiert sind als ich. Für mich steht außer Frage, dass der Einmarsch in die Ukraine völkerrechtswidrig und verabscheuungswürdig ist. Und ich werde dies mit größter Vehemenz immer wieder laut aussprechen.

Aber mit welcher Legitimation stünde es mir zu, sämtliche Menschen mit russischem Pass unter einen Generalverdacht zu stellen? Nicht nur einmal in der Geschichte ist man in dem Bemühen, die Demokratie zu schützen, einen Irrweg gegangen. Die Gedanken sind frei, und sie sollen frei bleiben.

An mich selbst aber habe ich den Anspruch, nicht nur Musiker zu sein, sondern ein aktiver Motor für den Frieden, für die Menschenrechte, für die Kultur. Dabei habe ich das unvergleichliche Glück, in einem Staat aufgewachsen zu sein und zu leben, der die freie Meinungsäußerung nicht nur zulässt, sondern sogar unterstützt. Ich muss weder um mich selbst fürchten noch um meine geliebte Familie, wenn ich etwas sagte, das Politikerinnen und Politikern missfiele. Ich muss mich nicht sorgen, vom Geheimdienst, selbst über Ländergrenzen hinweg, verfolgt zu werden oder gar in einem Straflager zu enden. Gar nicht wenige Menschen auf dieser Erde sind keineswegs in dieser glücklichen Lage. Verurteilen wir sie nicht, wenn sie sich nicht trauen, offen zu sprechen, sondern unterstützen wir sie darin, dass auch sie das Recht auf Frieden und Freiheit, das Recht auf freie Rede genießen werden! Und tragen wir dazu bei, dass diejenigen, die sie daran hindern, zur Rechenschaft gezogen werden!

Ich verabscheue die russische Staatsführung, aber ich liebe die russische Kultur. In keiner Sekunde hat das Staatsorchester Stuttgart daran gedacht, Musik von russischen Komponistinnen und Komponisten aus den Programmen zu verdammen. Auch heute Abend hören Sie Kompositionen aus unterschiedlichen Epochen und Ländern, dargeboten von meinen hochgeschätzten Kolleginnen und Kollegen, die teilweise von weit her nach Baden-Württemberg gekommen sind, wo sie glücklich leben. Welche Nationalität, welche Hautfarbe, welchen Glauben, welche sexuelle Orientierung eine Komponistin oder ein Komponist hat: das interessiert mich weit weniger als die Frage, ob die Komposition das Herz der Zuhörenden erreichen wird.

Tatsächlich ist es mit den sogenannten nationalen Schulen in der Kunstgeschichte gar nicht so einfach. Giuseppe Verdi als Franzosen zu bezeichnen, das wäre nicht ganz abwegig, denn bei seiner Geburt im Oktober 1813, eine Woche vor der Völkerschlacht bei Leipzig, gehörte sein Geburtsort Le Roncole noch zum Kaiserreich Napoleons. Und Mozart: nun ja, das ist eine eigene Geschichte. Österreicher war er eigentlich nicht, denn das Erzstift Salzburg unterstand nicht der Habsburger Monarchin. Sein Vater kam aus Augsburg, Mozart könnte man also aus heutigem Blickwinkel als Bayern bezeichnen. Mir aber gefällt eine andere Auffassung mittlerweile am besten: Da Mozarts Ahnen der väterlichen Linie aus dem Schwäbischen stammten, hatte er einen schwäbischen Migrationshintergrund.

Wir merken: Grenzen bringen uns in der Musik, in der Kunst und Kultur generell, nicht weiter. Grenzen in den Köpfen, Grenzen auf Landkarten: das ist für mein Menschenbild und mein Kunstverständnis nicht relevant.

Wer aber, Grenzen verletzend, in ein anderes Land einmarschiert, wer das Selbstbestimmungsrecht der Nationen mit Füßen tritt: den verachte ich.

Von Modest Mussorgsky aus dem Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung spiele ich nun den Satz Il vecchio castello, Das alte Schloss. In der Vortragsbezeichnung finden sich die Worte: „molto cantabile, con dolore“ – „sehr gesanglich, mit Schmerz“. Das Werk sei heute Abend den Toten und Verletzten der vergangenen zwei Wochen gewidmet – egal welcher Nationalität.

Die Rede als Video