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30.09.2024 Die fünfte Wand
Die fünfte Wand
Florentina Holzinger macht mit ihrer Opernperformance all das möglich, was im Theater jahrelang nur eine pseudopolitische Geste von Gesellschaftskritik war. Mit SANCTA reißt sie Wände ein
Bei jedem noch so verhärteten Kulturjournalisten ist inzwischen angekommen, dass die Produktionen von Florentina Holzinger ästhetisch umwerfend und mental bereichernd sind. Darüber hinaus, das ist mir vor Kurzem klar geworden, aktivieren sie das gleiche Gehirnareal wie die Teilnahme an öffentlichen Protesten; triggern einen Gemeinschaftsgeist, nicht nur unter Frauen, um den sich eine Menge anderer Gruppierungen zugunsten von Demokratiestabilisierung erfolglos bemühen. Das ist ein netter, wirklich politischer Zusatzeffekt. Zu Aufführungen, deren Professionalität und Intensität man sich sowohl von Las Vegas als auch von Bayreuth erhoffen würde, an solchen Orten aber nie zu sehen kriegt. Warum? Warum kriegen nackte Nonnen auf einer Skaterampe es hin, an dem Punkt weiterzumachen, an dem sich jeder antifaschistische Diskurs gerade selbst zerfleischt? Trotz extremer Bedrohung von außen, trotz der um sich greifenden, brutalsten Ressentiments, gegen die man sich auf eine gemeinsame Haltung einigen müsste, aber nur mit Privatismus und Abschottung reagiert? Warum ist im Theater auf einmal wieder etwas möglich, was dort jahrelang nur eine leere, pseudopolitische Geste von Gesellschaftskritik war?
Mir fallen zwei Gründe ein.
Die Arbeiten basieren auf einer Spannung zwischen äußerster Disziplin, Solidität und Vorsicht. Auf einer Behutsamkeit, die zum größtmöglichen Exzess führt und ihn genießbar macht. Und dazu, den Zuschauer an diesem Exzess seelisch teilhaben zu lassen, ohne dass die Brutalität der Grenzüberschreitung die Schönheit dieser Grenzüberschreitung überschatten würde.
Man durchdringt dunkelste Abgründe, die am Ende immer eine angenehme, alberne Abzweigung Richtung Selbstermächtigung nehmen; man muss Bock drauf haben als Zuschauer, nicht jeder ist offen genug, um bestimmte Konditionierungen zugunsten dieser Erfahrung abzulegen. Tut man es, nimmt man das, was da auf der Bühne passiert, in einem Zustand schwebender Aufmerksamkeit wahr, wird man belohnt. Damit, zu erfahren, was es bedeutet, wenn Tanz und Performance von den Verantwortlichen als Ausdruck größtmöglicher Freiheit betrieben werden.
„Da, wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung.“ Ich bin mir unsicher, von wem dieses Zitat stammt, im Zweifel von Hölderlin. Anders formuliert: Je mehr du dich disziplinierst, desto mehr kannst du dich entgrenzen und grenzüberschreitend tätig werden. Zum Beispiel in einem Opernhaus. Zum Beispiel in Stuttgart.
Mir fallen zwei Gründe ein.
Die Arbeiten basieren auf einer Spannung zwischen äußerster Disziplin, Solidität und Vorsicht. Auf einer Behutsamkeit, die zum größtmöglichen Exzess führt und ihn genießbar macht. Und dazu, den Zuschauer an diesem Exzess seelisch teilhaben zu lassen, ohne dass die Brutalität der Grenzüberschreitung die Schönheit dieser Grenzüberschreitung überschatten würde.
Man durchdringt dunkelste Abgründe, die am Ende immer eine angenehme, alberne Abzweigung Richtung Selbstermächtigung nehmen; man muss Bock drauf haben als Zuschauer, nicht jeder ist offen genug, um bestimmte Konditionierungen zugunsten dieser Erfahrung abzulegen. Tut man es, nimmt man das, was da auf der Bühne passiert, in einem Zustand schwebender Aufmerksamkeit wahr, wird man belohnt. Damit, zu erfahren, was es bedeutet, wenn Tanz und Performance von den Verantwortlichen als Ausdruck größtmöglicher Freiheit betrieben werden.
„Da, wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung.“ Ich bin mir unsicher, von wem dieses Zitat stammt, im Zweifel von Hölderlin. Anders formuliert: Je mehr du dich disziplinierst, desto mehr kannst du dich entgrenzen und grenzüberschreitend tätig werden. Zum Beispiel in einem Opernhaus. Zum Beispiel in Stuttgart.
Holzinger reißt die fünfte Wand ein. Eine Wand, die die Grenze des Körpers zu seiner Umwelt öffnet. Ohne dass die erste, zweite, dritte oder vierte Wand wieder aufgezogen werden müssten
Der andere Grund ist theaterhistorisch insofern bemerkenswert, als er an Revolution grenzt. Seit Brecht die vierte Wand eingerissen und für ein durchschlagendes Bewusstsein dafür gesorgt hat, dass die Menschen auf der Bühne sich mit den Zuschauern im selben Raum befinden, dass realistisches Theater nicht mehr durch ein imaginäres Schlüsselloch angeguckt werden muss, sondern sich das Publikum angesprochen und angesehen fühlen darf, seit Brecht also eine Möglichkeit geschaffen hat, sich aktiv zu dem Umstand verhalten zu können, dass irgendeine intime Küchenszene von Ibsen oder Strindberg nicht ganz so intim ist, wie zuvor behauptet wurde, schlicht und ergreifend, weil 500 Leute danebensitzen und sich das alles genauestens angucken – seit dieser Revolution gab es ein paar technische und ästhetische Weiterentwicklungen im Theater, allerdings keine, die mit dem qualitativen Sprung vergleichbar wären, den Holzinger und ihre Mitarbeiterinnen innerhalb ihrer letzten drei Theaterproduktionen erreicht haben.
Das Einreißen einer Wand, von der die meisten Theaterzuschauer nicht mal wussten, dass es sie überhaupt gibt – das Einreißen der fünften Wand. Einer Wand, die die Grenzen des Körpers zu seiner Umwelt öffnet. Ohne dass die erste, zweite, dritte oder vierte Wand dafür wieder aufgezogen werden müssten. Das, was auf der Bühne passiert, grenzt von außen betrachtet an Selbsttortur und Chaos, an etwas, das Leute eigentlich eher als Hobby, Mutprobe oder Perversion betreiben.
Allerdings wird es hier öffentlich und zwecks Selbstpositionierung betrieben – und um einen ästhetischen, sinnlichen, körperlichen Beitrag zur Welt zu leisten.
Gut. Fünfte Wand also. Ganz gute Metapher. Die anderen Wände sind auch klar.
Mein Problem ist allerdings immer noch die Decke. Die ist dann wohl die sechste Wand, bei der man sofort an Himmelszelt denkt, an Religion, an Magie. Die wir hier aber sofort wieder vergessen sollten, man muss ja nicht alles analysieren.
Das Einreißen einer Wand, von der die meisten Theaterzuschauer nicht mal wussten, dass es sie überhaupt gibt – das Einreißen der fünften Wand. Einer Wand, die die Grenzen des Körpers zu seiner Umwelt öffnet. Ohne dass die erste, zweite, dritte oder vierte Wand dafür wieder aufgezogen werden müssten. Das, was auf der Bühne passiert, grenzt von außen betrachtet an Selbsttortur und Chaos, an etwas, das Leute eigentlich eher als Hobby, Mutprobe oder Perversion betreiben.
Allerdings wird es hier öffentlich und zwecks Selbstpositionierung betrieben – und um einen ästhetischen, sinnlichen, körperlichen Beitrag zur Welt zu leisten.
Gut. Fünfte Wand also. Ganz gute Metapher. Die anderen Wände sind auch klar.
Mein Problem ist allerdings immer noch die Decke. Die ist dann wohl die sechste Wand, bei der man sofort an Himmelszelt denkt, an Religion, an Magie. Die wir hier aber sofort wieder vergessen sollten, man muss ja nicht alles analysieren.

Szene aus SANCTA
Sängerinnen des Opernchors des Mecklenburgischen Staatstheaters
© Nicole Marianna Wytyczak
Sängerinnen des Opernchors des Mecklenburgischen Staatstheaters
© Nicole Marianna Wytyczak
Im Rahmen von SANCTA lässt sich Holzinger zum ersten Mal auf einen Rahmen ein, in dem es um Glauben geht. Nonnen, Kloster, die Verschmelzung von religiöser Hingabe mit sexuellem Verlangen. 1921 ist die Uraufführung der zwanzigminütigen Oper von Hindemith in Stuttgart verhindert worden, der Katholische Frauenbund veranstaltete sogar eine dreitägige Andacht zur Sühne; was den Verdacht nahelegt, dass die katholischen Frauen in jenen drei stillen, andächtigen Tagen erst recht den Inhalt der Oper auf sich haben wirken lassen können.
Holzinger und Kloster, das klingt nach unguter Sexualisierung. Einfach weil Sex am Kreuz der Topos für erotisch aufgeladene Blasphemie schlechthin ist. Weil nackte, vor Wonne schreiende Nonnen seit Jahrhunderten die ultimative Fickfantasie jedes guten Folklorekatholiken sind.
Worauf man sich verlassen kann, ist, dass sich hier keine spekulativen Erotiksensationen abspielen, die mit Vorliebe Provinzregisseure über sechzig zwecks Publikumszuspruchs in ihr Stück einbauen.
Hier geht es um was anderes – wahrscheinlich darum, die Fantasien kurz mal abzuarbeiten, indem man sie von vorn bis hinten und so radikal und sichtbar wie möglich durchexerziert. Danach kann man sich wieder dem widmen, worum es uns allen in den nächsten Jahren hauptsächlich gehen sollte. Glaube, Liebe und Hoffnung jenseits einer gefährlich unter allem wabernden, verkappten Sexualität.
Holzinger und Kloster, das klingt nach unguter Sexualisierung. Einfach weil Sex am Kreuz der Topos für erotisch aufgeladene Blasphemie schlechthin ist. Weil nackte, vor Wonne schreiende Nonnen seit Jahrhunderten die ultimative Fickfantasie jedes guten Folklorekatholiken sind.
Worauf man sich verlassen kann, ist, dass sich hier keine spekulativen Erotiksensationen abspielen, die mit Vorliebe Provinzregisseure über sechzig zwecks Publikumszuspruchs in ihr Stück einbauen.
Hier geht es um was anderes – wahrscheinlich darum, die Fantasien kurz mal abzuarbeiten, indem man sie von vorn bis hinten und so radikal und sichtbar wie möglich durchexerziert. Danach kann man sich wieder dem widmen, worum es uns allen in den nächsten Jahren hauptsächlich gehen sollte. Glaube, Liebe und Hoffnung jenseits einer gefährlich unter allem wabernden, verkappten Sexualität.
Dieser Beitrag erschien zunächst in der ersten Ausgabe der Spielzeit 2024/25 von Reihe 5, dem Magazin der Staatstheater Stuttgart.
Headerbild: © Christoph Voy
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