Foto: Oleg Pavliuchenkov

Die Urverbindung zur Natur

Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv dirigiert die Neuproduktion von Antonín Dvořáks Oper „Rusalka“. Im Interview mit Johannes Lachermeier spricht die Expertin für opulente Orchesterklänge über Dvořáks Naturklänge, über mythische Welten und den Bezug der Oper zum Heute.
Liebe Oksana, vielen Dank, dass du dir in dieser spannenden Endprobenphase Zeit genommen hast. Zunächst einmal eine simple, aber vielleicht umso schwierigere Frage: Wie klingt eigentlich Antonín Dvořáks Musik?
2022 ist wirklich mein Dvořák-Jahr: Ich habe nacheinander die 8. und 9. Sinfonie und das Requiem dirigiert, jetzt bin ich hier mittendrin in dieser Rusalka-Neuproduktion. Das ist wunderbar. Dadurch konnte ich mit Stücken aus unterschiedlichen Schaffensperioden wirklich voll und ganz in die Welt des Komponisten eintauchen. Dvořáks musikalische Sprache ist höchst sensitiv und komplex, aber auch sehr bildhaft. Ich weiß nicht, wie er das schafft, aber oft höre ich in seinen Werken einen Akkord und spüre eine bestimmte Lichtstimmung in meinen Augen, empfinde plötzlich andere, neue Farben und bekomme Gänsehaut.
Wie empfindest du die Märchenwelt in Rusalka?
Für mich ist dieser Stoff weniger Märchen als Mythos. Das ist ähnlich wie bei Richard Wagner, der seine Werke ebenfalls bewusst in einer mythologischen Welt platziert, das Publikum möglichst weit von historischen Zusammenhängen oder festgelegten Orten und Zeiten fern hält. So wird man ganz unmittelbar in die Geschichte hinein versetzt, in die psychologischen Fragestellungen, die inneren Prozesse, und weniger in eine bloße äußerliche Handlungen.

Die Frage der Mythologie ist: Was ist unsere Welt? Was ist die Seele? Was ist der Körper? Was ist es, was wir sehen, was wir fühlen? Und wie steht das alles zueinander in Relation? Die Mythen sind entstanden aus dem Versuch der Menschen, die Natur, die Außenwelt zu erklären. In der Mythologie hat alles eine Seele: der Baum, das Wasser. In der ukrainischen Kultur spielt diese Vorstellung bis heute eine wichtige Rolle. Als kleines Mädchen hatte das großen Einfluss auf mich. Es gibt im Ukrainischen ein berühmtes Gedicht, das Waldlied von Lessja Ukrajinka. Es handelt davon, dass im Fluss lebendige Wesen wohnen und der Wind die Nixe verführt. Diese Welt und die Welt der Menschen treffen schließlich aufeinander und die Wesen aus dem Fluss erleben Verrat und Grausamkeiten. Als Kind habe ich es geliebt in der wilden Natur im Wald und Garten zu sein, mich im Gras zu verstecken und mit den Bäumen zu sprechen. Ich habe mir vorgestellt, dass das alles lebendige Wesen sind.

Wenn ich jetzt Rusalka probe, kommen diese Kindheitserinnerungen zurück. Angesichts des Krieges in meiner ukrainischen Heimat machen sie mich jedoch traurig. So viele Kinder sind auf der Flucht, sind teilweise schon über drei Monate getrennt von ihren Familien. Dass sie all dessen beraubt sind, was ich in meiner Kindheit im Frieden, in der Natur erleben durfte, ist schrecklich.
Diese Natur, das Wasser, den Mond, wie hört man all das bei Dvořák?
Es ist wirklich unglaublich, wie sich der Orchesterklang die ganze Zeit verwandelt: Da gibt es mächtige, dramatische Stellen, fast wie Vulkanausbrüche. Und dann mit einem Schlag ganz zarte Harmonien und Farben. Es ist wie ein Licht im Raum, bei dem man keine einzelnen Instrumente wahrnimmt, sondern nur einen wunderbaren Klang. Der junge Dvořák war sehr interessiert am Werk Richard Wagners. Als Student verfolgte der er sein Idol sogar inkognito durch die Straßen Prags, in der Hoffnung sein Gesicht einmal aus der Nähe zu sehen.

In Rusalka arbeitet er stark mit Motiven. Jede Figur hat ein eigenes Motiv, das ganz vielfältig variiert wird – mal klingt es zauberhaft, hoffnungsvoll, mal traurig und enttäuscht – und dadurch die Stimmung des Charakters widerspiegelt. Das macht die Handlung als Ganzes sehr gut nachvollziehbar.

Dvořák hat in dieser Oper sehr großen Wert auf die Entwicklung des Orchesters gelegt, es ist nie nur Begleitung. Und als Bratscher im Prager Opernorchester war er mit dem Klang eines Orchesters auch aus dem Inneren vertraut. Es schafft eine Kulisse, Natur und ist gleichzeitig das Abbild eines seelischen Zustands. Besonders auffällig ist der Kontrast zwischen der komplexen Musik, die die Natur beschreibt und der Musik der Menschenwelt: Volkstümlich, fast primitiv mutet diese an. Für mich ist das ein Augenzwinkern des Komponisten.
Wie endet das Ganze?
Der Prinz stirbt in Liebe, er geht glücklich von dieser Welt, weil er Rusalka wiedergefunden hat. Der letzte Akkord birgt eine unglaubliche Kraft, Licht und Liebe, und nimmt die Zuhörer mit in einen Raum jenseits der Welt. Es ist ein unglaublich süßer Liebestod. Man glaubt, dass die Seele sich in diesem letzten Augenblick wieder entfalten kann. Dieser eine Moment macht das Leben wertvoll, egal ob es ein kurzes oder langes Leben war.
Hast du eine Lieblingsstelle?
Ich habe viele Lieblingsstellen, aber der Kuss des Prinzen und Rusalkas ist wirklich ganz besonders. Er besiegelt das Lebensende des Prinzen – und Dvořák schreibt dazu Triumphmusik! Dieser Moment geht einfach unter die Haut.
Wo liegen gerade in der Endprobenphase die Herausforderungen für dich als Dirigentin?
Neuproduktion sind sehr spannend, auch für mich als Dirigentin. Ich lese und höre vorab viel, aber wie das Ganze zusammen entsteht, sieht man erst in der Probe. Für mich ist die spannendste Phase zwei Wochen vor der Premiere: Die Spannung steigt, es gibt noch konkrete Fragestellungen und Herausforderungen zu bewältigen; zum Beispiel den Kontakt zwischen dem Ensemble und mir als Dirigentin, Übergänge innerhalb des Stücks, technische Abläufe auf der Bühne und nicht zuletzt das Zusammenspiel musikalischer Impulse und Regieanweisungen. Beides sollte gut aufeinander abgestimmt sein, damit das Publikum eine schlüssige Geschichte auf der Bühne erleben.

All diese Aspekte müssen in den Klavierproben geklärt werden. Wenn das Orchester dabei ist, sollte alles durchlaufen, da Orchesterproben sehr kostbar sind.
Wie ist deine Zusammenarbeit mit dem Team um Regisseur Bastian Kraft?
Er hat ein sehr spannendes Konzept. Seine Deutung rückt ein Thema in den Mittelpunkt, das in unserer Gesellschaft große Relevanz hat. Es geht um den Zwang, in Stereotypen zu leben. Wer nicht ins Bild passt, verliert seine Stimme, wird von der Gesellschaft ausgeschlossen.
Wie würdest du die Produktion und Musik in nur drei Worten beschreiben?
Spannend, romantisch, beeindruckend!

Rusalka

Alle Termine