Am 16. Februar wurde unserem ehemaligen Ensemblemitglied Kammersängerin Helene Schneiderman die Ehrenmitgliedschaft der Staatstheater Stuttgart verliehen. Eine bewegende Laudatio hielt Pamela Rosenberg, 1991–2000 Co-Intendantin von Klaus Zehelein an der Staatsoper Stuttgart.
Es gibt Biografien, die einem unwahrscheinlich vorkommen. Dass Helene Schneiderman, eine gebürtige Amerikanerin, ihre Karriere in Deutschland aufgebaut und 40 Jahre ihres Berufslebens hauptsächlich hier verbracht hat, ist nicht ungewöhnlich, doch war es in ihrem Fall eigentlich nicht denkbar, also unwahrscheinlich. Warum? Weil beide, ihre Mutter und ihr Vater, Überlebende der Shoa waren.

Ihre Mutter, in der heutigen Ukraine geboren, wurde nach Auschwitz deportiert, wo sie ihre Eltern und ihre jüngsten Geschwister verlor. Helenes aus Polen stammender Vater war in Dachau und Buchenwald interniert. Begegnet sind sie sich im Displaced-Persons-Lager Landsberg am Lech, von wo aus sie in die USA auswanderten und wo dann ihr Neustart geglückt ist. Dort haben sie in New Jersey ihre vier Kinder wohlgehütet aufgezogen. Der Vater war Geflügel-Farmer, aber beide Eltern waren auch Sänger und sind oft zusammen aufgetreten, sogar in dem berühmten Borscht Belt. Das waren mehreren Feriensiedlungen in den Catskill Mountains im Bundesstaat New York, in den 1940er, 50er und 60er Jahren frequentiert von Juden mit Wurzeln aus dem Russischen Kaiserreich sowie von deren Kindern. Der Borscht Belt war wie eine Art Trainingslager für viele berühmte Komiker aus dem Entertainment Business, wie Woody Allen, Mel Brooks, Danny Kaye, aber auch für viele Musiker wie Eddie Fischer und The Barry Sisters. Mit dabei waren also auch Paul und Judith Schneidermann, die als Gesangs-Duo auftraten. Bis ins hohe Alter sangen sie jiddische Lieder und haben viele Schallplatten und CDs aufgenommen. Helene hat das alles mit der Muttermilch aufgesogen. Irgendwann in diesen Jahren entdeckte sie, dass auch sie eine Stimme hatte und beschloss Sängerin zu werden. Für dieses Ziel hat sie am Westminster Choir College in Princeton studiert und danach am Cincinnati College of Music ihren Masterabschluss gemacht. Anschließend hat sie 1981 ihr Opernsängerin Diplom abgeschlossen, auch in Cincinnati.
Generalmusikdirektor Cornelius Meister eröffnete den Festakt am Klavier.
Ich komme noch einmal zur Frage, weshalb ihr Weg nach Deutschland eigentlich nicht denkbar war. Wie Helene mir erzählte, war sie in einem sehr positiv gestimmten Elternhaus aufgewachsen, mit viel Jiddischkeit voller Wärme und Zuversicht. Als sie mit ihrem Studium fertig war, hat ihre Professorin gemeint, sie solle nach Deutschland gehen, denn dort gäbe es in fast jeder Stadt eine Oper und damit gute Chancen für Engagements. So kam sie trotz aller Familiengeschichte nach Deutschland und erhielt schnell einen Vertrag als Ensemblemitglied der Oper Heidelberg. Für ihre Eltern, die von Deutschland in die USA geflohen waren, muss der Gedanke, dass ihre Tochter freiwillig nach Deutschland gehen wollte, herzzereißend und beängstigend gewesen sein. Helene erzählte mir einmal: „Dass ich nach Deutschland ging, war ein harter Schlag für meine Eltern, dennoch meinten sie in diversen Interviews, dass sie ihre Tochter mehr liebten, als sie jemanden hassen könnten.“
Und damit landete Helene Schneiderman als Geschenk auf der deutschen Opernbühne.
Aber einen kurzen Nachtrag zum Thema Helene und ihre Eltern habe ich noch. Als Intendantin der Oper von San Francisco habe ich Helene Rollen angeboten. Als ich darüber mit ihr sprach, kamen ihr die Tränen. Obwohl sie weinte, war sie glücklich und sagte: „endlich werden meine Eltern mich auf einer Opernbühne in meinem eigenen Land erleben können.“ Bis dahin mussten sie immer nach Europa kommen, um ihre Tochter auf der Bühne zu erleben.

Bevor ich über ihre Gesangslaufbahn spreche, habe ich zwei Geständnisse zu machen. Das eine ist, dass Helene 1981 Michael Gielen und mir in Frankfurt vorgesungen hat, wir ihr jedoch leider kein Angebot machen konnten, denn zu diesem Zeitpunkt hatten wir einfach keinen Bedarf für eine zusätzliche Mezzo im Ensemble. Aber wir waren neugierig auf sie. Als sie dann in Heidelberg war, bin ich deshalb ein paar Mal dort in Vorstellungen gewesen, um sie mir anzuhören. Ich fand sie exzellent und sehr beeindruckend. Und als Klaus Zehelein und ich 8 Jahre später nach Stuttgart kommen sollten, war einer meinen ersten Gedanken, „Hooray! Die Schneiderman ist im Ensemble.“ Helene Schneiderman war dort bereits seit 1983 im Ensemble.

Mein zweites Geständnis ist, dass für mich Helene Schneiderman eine der schönsten, wenn nicht die schönste lyrische Mezzosopran Stimme hat, die ich je live gehört habe. Bis heute. Ich sage das nicht, weil ich diese Rede halte. Ich habe immer ein Faible für ihre Stimme gehabt, weil ihre Stimme einfach betörend schön ist. Normalerweise spreche ich nicht isoliert vom Timbre einer Stimme, wenn ich über die Gesangskunst einer Sängerin oder eines Sängers spreche, und auch jetzt wird es nicht dabei bleiben. Um ein exzellenter Sänger zu sein, gehört so viel mehr dazu als nur ein schönes Timbre als Material zu besitzen. Aber in Helene Schneidermans Fall ist es eine Tatsache, dass die sogenannte Basis-Farbe exquisit ist. Was nicht heißen soll, dass sie nicht im Stande ist, unterschiedlichste Farben zu gestalten, die notwendig sind, um eine Figur psychologisch zu charakterisieren. Sie verfügt über eine erstaunlich vielfältige Palette differenzierender Klänge. Und überhaupt ermöglicht ihr ihre vorbildliche Gesangstechnik nicht nur perfekte Belcanto-Linien zu gestalten, sondern genauso eine große dramatische Skala zu beherrschen. Die Tatsache, dass ihr stimmliches Vermögen heute noch so intakt ist, ist zudem ein Beleg ihrer verblüffenden Grundtechnik, die sie über 40 Jahre konsequent und diszipliniert gepflegt hat.
Im Foyer des Opernhauses fand die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft statt.
Sie war/ist aber nicht nur stimmlich und musikalisch herausragend. Staunenswert ist auch, wie eindringlich sie es versteht, sich in eine Rolle hineinzuversetzen. In jeder Rolle schafft sie es, so adäquat unter die Haut eines des jeweiligen Charakters zu schlüpfen, bis sie sämtliche Nuancen so intensiv verkörpern kann, als mache sie das intuitiv und nicht über den Weg der bewussten Gestaltung. Sie besitzt auch einen unbeirrbaren Sinn für Timing. Vielleicht ist dieser Sinn auf ihre Jugendzeit im Borscht Belt in den Catskills zurückzuführen, wo sie erleben konnte, wie die grossen Meister der Komik das Handwerk des Timings gezeigt haben. So beherrscht Helene z.B. sehr gekonnt einen Double-Take ohne jemals dabei zu übertreiben, oder auch den sogenannten Dead-Pan à la Buster Keaton. Sie ist eine begnadete Komikerin, die gleichzeitig deftig und subtil sein kann. Aber sie ist auch eine wahrhaftige Tragödin. Wer sie als Bradamante in Händels Alcina erleben durfte, erlebte das intensive, wirklich existenzielle Leiden einer verzweifelt Liebenden. Es ging um Leben und Tod, aber in keiner Sekunde outriert.

Jossi Wieler schrieb dazu: „Die Unbedingtheit dieser Figur, ihren in Liebe zu Alcina verfallenen Verlobten Ruggiero von der Zauberinsel zu befreien, das hat Helene mit einer solchen Konsequenz gespielt, dass sie sich tief ins, ich würde ja fast sagen, kollektive Musiktheater-Gedächtnis eingefügt hat. Ihre Gelosia-Arie: ein unvergessener Höhepunkt.“
Pamela Rosenberg bei ihrer Laudatio
Aber zurück zum ersten gemeinsamen Projekt mit Helene. In unserer ersten Spielzeit in Stuttgart haben Klaus Zehelein und ich Così fan tutte als Premiere angesetzt. Ich habe Soile Isokoski, die in Deutschland noch unbekannt war, als Gast für die Rolle der Fiordiligi geholt, weil sie und Helene Schneiderman, als Dorabella, wie stimmliche Zwillinge für mich waren, obwohl sie noch nie zusammen gesungen hatten. Es war erstaunlich, wie farblich aufeinander abgestimmt die beiden Stimmen waren und wie die musikalische Sensibilität der beiden Sängerinnen wirkte, als stamme sie aus gleicher Quelle. Der Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung schrieb, dass diese Aufführung schallplattenreif war. Bis heute ist diese Besetzung für mich die schönste Besetzung dieser beiden Rollen geblieben. Und nicht nur für mich: Peter Katona, der Operndirektor von Covent Garden, hat die beiden hier in Stuttgart gehört und sie daraufhin zusammen für Così fan tutte in Covent Garden engagiert, sowie für andere Mozart-Rollen, wie z.B. in Le nozze di Figaro, in der Isokoski die Gräfin sang, und Helene den Cherubino.

Jedenfalls, das war der verheißungsvolle Anfang unserer gemeinsam erlebten Zeit an der Staatsoper Stuttgart. Und dieses Niveau hat sie all die Jahre gehalten. Die Bandbreite ihrer Rollen in den folgenden Jahren war immens: Sesto in La Clemenza di Tito, Meg Page in Falstaff, Rosina in Il Barbiere di Siviglia, Bradamante in Alcina, Ottavia in Il Coronazione di Poppea, Orlowsky in Die Fledermaus, Isabella in L’Italiana in Algieri, Suzuki in Madama Butterfly, die Gräfin in Pique Dame, Oktavian in Der Rosenkavalier, Siegrune in Die Walküre, Flosshilde in Die Götterdämmerung. Und diese Liste ist bei weitem nicht vollständig. Später kamen Charakterrollen dazu: Larina in Eugen Onegin, Annina in Der Rosenkavalier, Bürgermeisters Frau in Jenufa, Teresa in La Sonnambula, Marcellina in Le nozze di Figaro und andere mehr.
Bravo Helene Schneiderman!
Ich habe Jossi Wieler gebeten, mir in seinen Worten zu schildern, wie er Helene in manchen Rollen, die sie zusammen erarbeitet haben, erlebt hat. Er kann das so schön bildhaft in Worte fassen: Über ihren Sesto in La Clemenza di Tito schrieb er: „diese Figur wurde in ihrer ganzen tragischen Dimension richtig groß und berührend. Wie Helene das ganze emotionale Spektrum zwischen unbedingter Liebe zu Vitellia, treuer Freundschaft zu Tito, den Wahn, diesen umbringen zu müssen bis hin zur Reue von ihm aufgefächert hat, so, dass jede Regung sicht- und hörbar wurde, das war einzigartig.“ Und auch wie Helene im Hinterhof-Hotel die großen Treppen singend hoch und runter gelaufen ist als Isabella in L’Italiana in Algieri und mit welchem Charme und mit welcher Raffinesse sie mit all den verliebten Männern rund um sie herum gespielt hat ist ihm unvergessen geblieben!

Und weiter Jossi Wieler: „Unglaublich einprägsam war natürlich auch ihre Gräfin in Pique Dame. Man hat ihr alles geglaubt: Ihre Spielleidenschaft, ihr vergangenes extravagantes Leben, den verloren Reichtum, aber auch ihr Aufbäumen dagegen, die Lust an der Verführung Hermanns, die schonungslose Hingabe kurz vom plötzlichen Tod. Und wie Helene all das spielend „verkörpert“, nämlich tatsächlich auch den Körper erzählen lässt, dieses Commitment ist beispielhaft und wird für so manch jüngere Kollegin zu großem Vorbild.“

„Oder“, schreibt Jossi Wieler, „das Frl. Stuhlà in Janáčeks Osud – eine kleine Rolle, aber wie Helene als strenge Lehrerin versuchte, einer Gruppe von Schülerinnen ein Lied beizubringen oder geradezu einzuhämmern, das war so komisch und tragisch zugleich.“ Und als weitere kleine Rolle, in der man sie als große Künstlerin erleben konnte, nennt Jossi Wieler die Rolle der Teresa in La Sonnambula. Er schreibt: „Die Figur hat keine eigenen Arie, sondern singt nur in Ensembles oder Rezitativen mit und dennoch ist Helene das heimliche Zentrum der Produktion. Ihre Fähigkeit, auch die non-verbalen Seiten einer Figur in jedem Moment bis ins kleinste Detail zu „erzählen“, das ist phänomenal. Was sie an Haltungen und Gesten als verarmte, verbitterte Müllersfrau alles erfindet, wie sie ihre schüchterne Adoptivtochter durch die Gewissensqualen vor der Hochzeit mit dem reichsten Bauern geradezu „pusht“, wie wütend und entsetzt sie auf deren vermeintlichen „Fehltritt“ mit dem fremden Grafen reagiert, wie schuldbewusst und doch nüchtern sie am Ende versucht, den nächtlichen Spuk zu verdrängen und an der Hochzeit festzuhalten, das alles ist so berührend und bewegend, dass man sich diese Figur von gar niemand anderem, als von Helene gespielt, vorstellen kann.“ Über die Partie der Kaisertochter Lucilla in Berenike, Königin von Armenien, meint Wieler:
„Nicht nur mit welch hohem Stilbewusstsein Helene diese Barock-Partie gesungen hat, sondern auch welche Farben sie für die Verletztheit über die Untreue ihres Verlobten gefunden hat, stimmlich und darstellerisch - so reich!“
Damit hat Jossi Wieler in wenigen Sätzen einige der außerordentlichen Eigenschaften genannt, über die Helene Schneiderman verfügt, u.a. ihr hohes Stilbewusstsein und die enorme Palette an stimmlichen und darstellerischen Farben. Wirklich: So reich!
Helene Schneiderman mit Opernintendant Viktor Schoner und den ehemaligen Intendant*innen der Staatsoper Stuttgart Jossi Wieler, Pamela Rosenberg und Albrecht Puhlmann
Sie hat nicht nur die Staatsoper Stuttgart bereichert, sondern auch die Opernhäuser von München, Rom, San Francisco, Seattle, Dresden, Toronto, Tel Aviv, die Metropolitan Opera New York, das Teatro Read Madrid, Teatro all Scala in Mailand, die Opera National de Paris, die Wiener Staatsoper, das Royal Opera House Covent Garden, Deutsche Oper Berlin, die Komische Oper sowie den Festspielen in Salzburg und Pesaro.

Und obwohl sie sich im Rentenalter befindet, wird sie immer wieder von Häusern wie L’Opéra de Paris, der Komischen Oper, der Wiener Staatsoper geholt. Sie ist immer noch in Hochform. Und um noch einmal auf ihre Erlebnisse im Borscht Belt in den Catskill Mountains zurückzukommen: sie hat in letzter Zeit diverse Partien an der Komischen Oper gesungen, aber zwei besondere Erlebnisse waren für mich zwei Jiddische Projekte mit Barrie Kosky. Farges mikh nit, (Vergess mich nicht) ein Abend mit Barrie Kosky am Klavier und Helene Schneiderman und Alma Sadé, in dem sie Jiddische Operettenlieder von Warschau bis zum Broadway zum Besten gab - sehr berührend und sehr witzig. (Ich glaube, sie haben hier in Stuttgart damit auch gastiert). Und jetzt, letzten Juni, Barrie Kosky’s All-Singing and All-Dancing Jiddisch Revue. Die ganze Bandbreite von Helene war an diesem Abend in verschiedenen Nummern zu erleben. Eine davon “Ikh bin a mame”, (ich bin eine Mutter) von Helene als Sylvie Sonitzki vorgetragen, handelte von einer sehr alten, sehr würdevollen, eleganten und einsamen Schauspielerin aus vergangenen Zeiten. Sehr zurückgenommen, ohne Pathos und Selbstmitleid, denkt die alte Sylvie Sonitzki an ihre Kinder und hofft, sie werden sie nicht vergessen. Von Helene minimalistisch vorgetragen, aber der Schmerz traf die Zuschauer tief ins Herz. Am anderen Ende ihres Spektrums, war sie eine von fünf Barrie-Kosky-Sisters, ein Take-off on The Barry Sisters, eine Rock-und-Roll-Gruppe der 50er Jahre. Was sie an ausgeflippter, tanzender und singender Energie auf die Bühne brachte, wäre für viele 30-Jährige eine Überforderung gewesen. Sie ist schon ein Phänomen.

Heute aber geht es um die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Staatstheater Stuttgart und daher komme ich wieder auf Helene als Ensemblemitglied der Staatsoper Stuttgart zu sprechen: Sie war der Inbegriff eines wunderbaren Ensemblemitglieds. Sie hat immer höchste sängerische und darstellerische Qualität geboten, hat eine enorme Fülle von Rollen übernommen, sie war eine warmherzige, fürsorgliche Kollegin und ist als Ensemblemitglied der Stadt Stuttgart treugeblieben. Damit hat sie Stuttgart wahrhaft reichlich beschenkt.