Ein neuer Blick

Die Regisseurin Silvia Costa musste ihre Arbeit an „Juditha triumphans“ wegen der Pandemie für zwei Jahre unterbrechen. Was hat der Stillstand mit dem Stück gemacht, was mit der Künstlerin? Cécile Wajsbrot hat die Regisseurin in Paris getroffen.
Die Szene spielt nicht in Venedig, wo Antonio Vivaldi sein Oratorium komponiert hat. Und nicht in Stuttgart, wo Juditha triumphans nunmehr aufgeführt wird. Sondern in Paris. Ein Samstagnachmittag im Théâtre du Châtelet, in einer ruhigen Loge mit Blick auf Bäume in herbstlichen Farben und die graugrüne Seine. Gegenüber die Conciergerie, das ehemalige Gefängnis, in dem man den Kerker der Königin Marie-Antoinette besichtigen kann. In Paris klopft die Geschichte an alle Türen. In diesem Theater, dem Châtelet, richtete die Pariser Kommune ein Sondergericht ein, fand ein paar Jahre später unter dem Vorsitz Victor Hugos ein internationaler Schriftstellerkongress statt, und hier entdeckte Frankreich Sergei Djagilews Ballett.

An diesem Abend sind die Zuschauerinnen und Zuschauer gekommen, um sich Intérieur anzusehen, ein Musiktheater von Joan Magrané Figuera nach einem Text Maurice Maeterlincks in einer Inszenierung von Silvia Costa. Sie werden wohl kaum an die Geschichte des Ortes denken, aber vielleicht wissen, dass das Châtelet vor Kurzem für Restaurationsarbeiten geschlossen war, und, während sie darauf warten, dass sich der Vorhang hebt, die wiederhergestellten Goldverzierungen im Saal bewundern. Ganz gewiss werden sie dann der traumwandlerischen Atmosphäre erliegen, die Flora Gaudins langsame Bewegungen, die quälend schöne Choreographie, die gedeckten Farben der Bühne und die süße Melancholie der Musik dem Albtraum eines Mannes antragen, der den Eltern eines Mädchens die Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen muss.

An Vivaldis Oratorium hat Silvia Costa nun mehr als zwei Jahre lang gearbeitet. Es ist 1713 in Venedig entstanden und erzählt, wie Judith das Volk Israels von der Belagerung der Assyrer und ihres Königs Holofernes befreit, während zu der Zeit seiner Entstehung die Republik Venedig durch das Osmanische Reich bedroht wird. Die Anspielungen auf Venedigs Sieg hat Silvia Costa in ihrer Interpretation gestrichen, um den zeitlosen Kern des Stücks, den Mythos, herauszuarbeiten. Darin sieht sie grundsätzlich ihre Arbeit, im Theater wie in der Oper. Ein Aufriss, eine Tonskulptur – das Wort verwendet sie oft im Gespräch –, eine Transkription der Musik und des
Textes in dreidimensionale Bilder, in denen sich ganz allmählich eine lesbare Form aus der Textmasse erhebt. Denn das Material, mit dem Silvia Costa arbeitet, ist zumeist immateriell, es besteht aus schwer greifbaren Dingen, Gefühlen, Mythen, Bewegung.

„Als mir Viktor Schoner, der Intendant der Stuttgarter Oper, vorschlug, mit der Figur der Judith zu arbeiten, hat er mir zwei Werke zur Wahl gestellt, Scarlatti oder Vivaldi. Mich hat Vivaldi sofort gereizt. Nicht nur die Musik, sondern auch die Umstände der Entstehung haben mich berührt.“ Das Ospedale della Pietà – ein von Ordensschwestern gegründetes Hospiz und Waisenhaus – ist der Grund, weshalb die Besetzung ausschließlich aus Frauen besteht. „Vivaldi war die Macht der Symbolik damals vielleicht nicht bewusst, aber heute hat es eine ganz andere Wirkung. Deshalb habe ich, obwohl der Chor in manchen Fassungen gemischt ist, die Umstände der Originalfassung als Grundlage genommen. Auf der Bühne wie auch im Chor gibt es nur Frauen. Sie stehen für das Weibliche und das Männliche, eine Polarität ohne Geschlechterkampf, eher ein Fließen, ein Hin und Her vom einen zum anderen.“
Doch das Besondere ist, dass die Enthauptungsszene nicht mit der Gewalt, die heute so oft die Bühne dominiert, sondern mit Zartheit präsentiert wird. Durch ein Symbol. Eine Maske.
Zur Vorbereitung ihrer Inszenierung – oder besser gesagt: ihrer Umwandlung des Textes und der Musik in Bilder, in Symbole – hat Silvia Costa viel gelesen und sich viel angesehen. Zunächst für das Bild der Judith. In der Malerei ist sie in einer ewigen Pose erstarrt. Nackt oder unbeugsam oder dunkel. Für Silvia Costa ist sie vor allem mutig. Man brauche Mut, sagt sie, um in Holofernes’ Zelt einzudringen mit dem Vorsatz, ihn zu töten. „Diese Tat begeht Judith für ihre Gemeinschaft, einen Opferdienst, den sie fast wie eine Kamikaze ausführt.“ Doch das Besondere ist, dass die Enthauptungsszene nicht mit der Gewalt, die heute so oft die Bühne dominiert, sondern mit Zartheit präsentiert wird. Durch ein Symbol. Eine Maske. Die Unsichtbarkeit des Mordakts. Die Spaltung des Raums, wenn der Augenblick kommt. Die Musik genügt, die Spannung, die sie überträgt. Die Bühne ist rot und weiß, die beiden emblematischen Farben dieser Inszenierung.

Der Chor der Frauen tritt wie eine weiß gekleidete Armee auf, eine fast friedliche Armee, natürlich militärisch, aber auch um Sorge besorgt. Das eindringende Rot – Leidenschaft und Blut – kann dagegen das Gefühl nicht tilgen, dass alles wie in einem Traum vor sich geht. Das Lateinische, eine Sprache, die es nicht mehr gibt, verstärke noch den Eindruck des Irrealen, wie Silvia Costa sagt. Weshalb der Text zur Musik wird und der Künstlerin alle Freiheiten lässt, eine andere Welt zu kreieren. Das Stück hätte in einer anderen Welt spielen sollen, in der Welt vor der Zeitenspaltung, vor der Pandemie. Befremdliche Momente … Während ihre Familie und ihre Freunde schon in Italien eingesperrt waren, arbeitete Silvia Costa noch in Stuttgart wie in einer geschützten Blase, wobei ihre Angst immer größer wurde. Der irreale Schutz hielt nicht an.

„Als ich nach Italien zurückgekehrt bin, saßen nur noch drei andere Personen im Flugzeug. Es war der letzte Flug. Mir liefen die Tränen. Zur großen Trauer, dass meine erste Oper abgesagt wurde, kam die Atmosphäre in Italien. Ich musste mich in Quarantäne begeben. Meine eigene Mutter hatte Angst vor mir, sie ging für mich Lebensmittel kaufen und stellte sie mir in den Garten. Aber ich muss sagen, nach dem ersten Schock war es für mich eine besondere Zeit. Ich weiß natürlich, dass das meine persönliche Erfahrung ist und es nicht für alle so war. Aber ich
merkte, dass ich diese Stille brauchte, den Stillstand, um nachdenken zu können. Inzwischen läuft alles noch schneller als vorher. Es hat sich nichts geändert. Daran trage ich auch eine Mitschuld. Ich mache mit bei diesem Wettrennen. Es ist schade, dass es uns nicht gelungen ist, uns die Zeit zurückzuerobern und sie zu greifen. Die Zeit rinnt uns genau wie vorher durch die Finger.“

Ob das Stück 2022 genauso aussehen wird wie das Stück, das 2020 hätte aufgeführt werden sollen? „Als Gesamtes gesehen, ja. Man kann nichts ändern, was noch nicht stattgefunden hat. Einige Einzelheiten werden aber vielleicht anders sein, weil ich jetzt einen neuen Blick darauf habe. Und das Publikum wird nicht mehr dasselbe sein wie vor zwei Jahren. Ich bin auch nicht mehr dieselbe. Aber ich habe Lust, dieses Stück so aufleben zu lassen, wie ich es mir damals vorgestellt habe.“ Eine Art Instandsetzung. Ein Balsam, der auf die Wunde aufgetragen wird, die die Welt fast zwei Jahre lang schmerzte – wenn man heute überhaupt schon in der Vergangenheitsform davon sprechen kann. Wie Judiths Chor, die Frauen, die als Militär- und als Pflegekräfte Sorge tragen …
„In diesem Sommer habe ich wie noch nie zuvor gespürt, wie wichtig es für mich ist, neben jemandem zu sitzen, den ich nicht kenne. Um diese Gegenwart zu teilen.“
Silvia Costa, Regisseurin von „Juditha triumphans“
Das Stück, das für Silvia Costa für den Wiederbeginn steht, ist Combattimento, la théorie du cygne noir, eine Arbeit für die vergangenen Festspiele in Aix-en- Provence über Claudio Monteverdi. Die Künstlerin hat sich oft zur Bedeutung der Gegenwart, des gegenwärtigen Daseins, geäußert. Das Theater, das lebendige Spiel, ist die Zeit der Gegenwart. Man hält sein eigenes Leben an, um diese Begegnung zu erleben, um in genau diesem Augenblick da zu sein. Alles läuft auf diesen Moment zu. „In diesem Sommer habe ich wie noch nie zuvor gespürt, wie wichtig es für mich ist, neben jemandem zu sitzen, den ich nicht kenne. Um diese Gegenwart zu teilen. Und in diesem Dasein in der Gegenwart habe ich auch mehr Empathie, im Theater zum Beispiel noch mehr als im Kino. Ich lebe mit der Schauspielerin, die vor mir spielt, vielleicht auch weil ich selbst zur Schauspielerin werde. Ich kann mir vorstellen, was sie fühlt.“

Zum einen ihre Hochschule in Venedig, die sie sich ausgesucht hat, weil es dort den Studiengang Visuelle Künste und Theater gibt, um nicht nur Theater zu studieren, was ihr zu akademisch vorkam. An der Universität Beaux-Arts de Nantes wurde ihr bewusst, wie wichtig der Körper ist, weshalb ihre ersten Stücke auch eher Performances waren, „gestische Partituren“. Nachdem sie zunächst ihren persönlichen Ausdruck suchte, indem sie ihre eigenen Texte schrieb, hat sie ihre wahre Sprache erst durch die Texte anderer gefunden.

Entscheidend war die Begegnung mit dem Regisseur Romeo Castellucci, der sie darin bestärkte, dass man alles miteinander verbinden kann, Text, Gesten, Musik, Gegenstände, um ein Totalspektakel zu inszenieren. In Silvia Costas innerer Welt spielt das Lesen eine zentrale Rolle. „Ich lese
abends vor dem Einschlafen oder auf Reisen, im Flugzeug, im Zug.“ Zuletzt las sie unter anderem Die Sanfte von Fjodor Dostojewski und Das Parfum von Patrick Süskind. Außerdem den Philosophen Byung-Chul Han. „Da ich die Dinge durch Bilder ausdrücke, ist es für mich von entscheidender Bedeutung, mich mit den Worten anderer zu füttern.“

In ihrer Ausbildung war vor allem Pavese für sie wichtig. Wegen seiner dunklen, melancholischen Poesie, seiner Beziehung zum Tod. Und auch Victor Hugos Roman Die Elenden. Die Beschreibung der inneren Qualen der Figuren, etwa in dem berühmten Kapitel Ein Sturm unter einem Schädel. Aber ihre Lektüren reisen auch durch die russische und die amerikanische Literatur, Sherwood Anderson zum Beispiel, mit seiner Stille, und zur Poesie, zu Rainer Maria Rilke. Und dann gibt es natürlich noch die Musik. „In der Schule bekamen wir kostenlose Eintrittskarten für die Oper. Ich glaube, ich war die Einzige, die das genutzt hat. Auch hatte ich immer Freunde, die Musik machen. Ich mag ihre Gesellschaft, weil sie neugierig sind, weil sie immer Lust haben, etwas zu teilen. Meine ersten Konzerte gingen eher in Richtung Underground, Elektro, Noise, aber ich habe auch schon früh, mit 24 Jahren, bei einem Parsifal die Gelegenheit bekommen, mit Castellucci zusammenzuarbeiten. Und dieses unermessliche Werk kennenzulernen.“

Inzwischen ist es dunkel geworden in Paris. Bald werden die Menschen aus den verschiedenen Stadtvierteln und von außerhalb herbeiströmen, um sich im Théâtre zu versammeln und den Mann auf der Bühne zu hören, der eine schreckliche Nachricht überbringen muss. Bald wird dieser gemeinsame Moment kommen, der Silvia Costa so viel bedeutet. Ein paar Stunden, für die so viele Menschen so viel Zeit und Kraft aufgewandt haben, Arbeit, Einsatz, Gefühle. In einer Zeit, in der sich Ideen radikalisieren, Worte Gewalt ausüben, kann man kaum umhin, daran zu denken, dass diese Momente der Gemeinschaft wertvoll und selten sind und dass man alles dafür tun muss, sie aufleben zu lassen und zu bewahren.

Die Empathie, das Gefühl fordern das ein. Das ist ihr erster Zugang zu einem Werk. Doch dann kommt die Form. Die Gegenstände, die auf der Bühne die Atmosphäre eines Stücks von Samuel Beckett oder eines Cesare-Pavese Texts, gewissermaßen seine „Temperatur“, suggerieren sollen. „Ich interessiere mich sehr für die zeitgenössische Kunst. Für die Formen und die Art und Weise, wie sie durch die Geschichte reisen. Aber ich betrachte auch die Formen der Stadt, eigentlich alles. Die Gebäude, die Straßen. Der Raum ist mein Ausgangspunkt. Bei jeder Inszenierung. Auch für die Kostüme. Und die Arbeit am Körper, an den Gesten. Aus der Form entsteht die Handlung. Bei meiner Arbeit mit Beckett wollte ich ein Bühnenbild aus Holz haben, um die Kälte seines Universums sozusagen etwas aufzuwärmen. Dieses nostalgische Mobiliar hat zu einer bestimmten Gestik, zu bestimmten Bewegungen im Raum geführt.“ Mit Blick auf ihren Werdegang betont Silvia Costa, wie sehr sie nach Offenheit strebt, wie wichtig ihr Begegnungen sind.

Silvia Costa wurde 1984 im italienischen Treviso geboren und studierte Bildende Kunst und Theater an der Universita Iuav in Venedig. Sie ist Autorin mehrerer Performances, Theaterarbeiten sowie Installationen und Videowerke. An der Staatsoper Stuttgart bereitet die Regisseurin jetzt die Premiere ihrer Inszenierung von Antonio Vivaldis Juditha triumphans vor. Die Bilder entstanden im Pariser Theatre du Chatelet und im Jardin des Tuileries
Dieser Beitrag erschien in der Januar-Ausgabe des Monatsmagazins Reihe 1 der Staatstheater Stuttgart.

Juditha triumphans