Hèctor Parra ist in der Spielzeit 2022/23 der Composer in Focus des Staatsorchesters Stuttgart. Der in Barcelona geborene Komponist hat bereits mit international renommierten Klangkörpern zusammengearbeitet und wurde für seine Werke mit einigen der wichtigsten Preise der Szene ausgezeichnet. Für uns hat er das Monodram „Ich ersehne die Alpen“ von Händl Klaus für Sopran, Elektronik und Orchester vertont. Ein Gespräch über die Sehnsucht nach Natur und deren Klang.
Am 26. März wird in unserem 3. Sinfoniekonzert der Saison dein Monodram für Sopran, Elektronik und großes Orchester uraufgeführt. Wie ist die Idee entstanden, auf Grundlage des Theaterstücks Ich ersehne die Alpen; So entstehen die Seen von Händl Klaus ein Werk für diese Besetzung zu komponieren?
Mit Händl Klaus verbindet mich eine langjährige Zusammenarbeit, vor allem im Bereich der Oper, wie etwa mit den Werken Wilde oder Les Bienveillantes (Die Wohlgesinnten). Sein sehr persönlicher literarischer Stil hat mich bei der Komposition von Vokalmusik stark beeinflusst. Gemeinsam haben wir auch das konzertante Werk Wanderwelle für Bariton und Orchester geschrieben. Nach dessen Premiere hat Klaus vorgeschlagen, ein neues Werk auf Grundlage seines Textes Ich ersehne die Alpen zu schreiben. Es war ein langjähriger Wunsch von ihm, diesen Text in einem völlig anderen Licht erscheinen zu lassen: mit großem Orchester und Singstimme. Der Monolog der Figuren – ursprünglich besteht das Theaterstück aus zwei ineinander verschränkten Monologen – ist sehr lyrisch und poetisch. Die Mehrdeutigkeit der Verse und ihr vielseitiger Klang eignen sich besonders gut für den Gesang.
Wie verstehen Sie Olivias Situation und ihre Sehnsucht nach der Natur im Kontext der heutigen Zeit?
Olivia sehnt sich danach, mit den hohen Bergen zu verschmelzen und der stechenden Hitze im beengenden Zimmer zu entkommen. Mal sehnt sie sich nach den Gletschern, mal nach den Wasserflüssen, die aus dem schmelzenden Frühlingsschnee hervorquellen. Ihre Todessehnsucht projiziert sie jedoch vor allem auf die Vorstellung, sich in einen Gebirgsstein zu transformieren, mit seinen Flechten, den Furchen und scharfe Ecken, die den eisigen Wind zerschneiden. Vielleicht ist dieses Bild eine Metapher dafür, dass wir selbst ein untrennbarer Teil der Natur sind, die wir misshandeln und irreparabel schädigen. Olivias Tragödie und Verzweiflung sind gewissermaßen ein literarisches Spiegelbild jener Situation, in der wir uns selbst befinden, da wir den Klimawandel nicht rechtzeitig gestoppt haben.
Inwiefern spiegeln sich die Natur und Olivias grenzenlose Sehnsucht in der Musik wider?
Als ich mich mit Klaus’ Text beschäftigt habe, habe ich sofort gespürt, dass meine eigenen tiefen Gefühle für die Natur wiedergeweckt wurden. Obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens in großen Städten wie Barcelona, Paris oder Rom verbracht habe, war ich als Kind im Sommer oft in den Bergen wie etwa in den Pyrenäen oder den Alpen. Diese Erfahrungen von starker Verbundenheit mit der wilden Natur haben bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen – ein Gefühl der Freiheit und der inneren Balance sowie eine große Faszination für Fauna, Flora und Geologie. Im Entstehungsprozess von Ich ersehne die Alpen habe ich mir von Anfang an eine
ausgesprochen lyrische und orchestrale Musik vorgestellt, die – bildlich gesprochen – große Mengen an Sauerstoff atmet und uns sowohl auf die hohen Gipfel der Alpen als auch in tiefe Täler mitnimmt. Die orchestrale Textur musste beides sein: der harte Stein und die Flechten, die auf ihm wachsen. Die Stimme hingegen schwebt über der Landschaft wie ein großer Vogel. Vielleicht ist sie sogar ein Abbild der menschlichen Seele. Der Einfluss von Gustav Mahlers Musik, aber auch der von Anton Bruckner und Richard Strauss ist sehr präsent in diesem Monodram.
Wie ging der Kompositionsprozess nach diesen ersten Ideen weiter?
Zuerst haben Klaus und ich an der Adaption des originalen Theatertextes gearbeitet. Die theatrale Prosa wurde zur lyrischen Poesie. Als wir das Gefühl hatten, dass der Text bereit ist, habe ich eine erste Version für Sopran und Klavier komponiert. Erst als diese fertig war, habe ich mir die orchestrale Version vorgenommen. Diese ist keine einfache Orchestrierung des Klavierparts, sie ist vielmehr eine Paraphrase und Steigerung. Während der Arbeit am Orchesterpart bin ich nach Lyon gereist, um mit dem Elektronikkünstler Max Bruckert am GRAME, Centre National de Création Musicale die elektronischen Klänge zu entwickeln. Dies war eine sehr inspirierende Erfahrung, die mir geholfen hat, die orchestralen Farben und die Textur der zweiten Hälfte des Monodrams zu kreieren.
Welche Bedeutung haben die elektronischen Klänge und wie sind sie entstanden?
Die elektronischen Klänge sind ein essenzieller Bestandteil der Komposition, der vollständig in das orchestrale Magma integriert ist. Alle elektronischen Klänge basieren auf Aufnahmen von originalen Naturklängen aus der Umgebung von Berglandschaften, wie etwa der Klang von Steinen, Gletschern, Eis, Wind und anderen Naturelementen. Diese Aufnahmen wurden elektronisch modifiziert, die Quelle des originalen Klangs ist jedoch erkennbar. Dadurch entsteht eine enge Verbindung zwischen den Orchesterinstrumenten und der Singstimme mit Naturphänomenen, wie etwa der Reibung zwischen Wind und Stein, dem Zerbrechen einer Eiszunge oder dem Tröpfeln eines Wasserlaufs. Die elektronischen Klänge bilden einzelne Gruppen von Gesten und Texturen, sodass sie zusammengenommen dem Werk eine architektonische Struktur verleihen.
Welchen Einfluss haben die elektronischen Klänge auf den Orchesterklang?
Durch die Vermischung des Orchesterklangs mit den elektronischen Klängen lässt sich der reine Instrumentalklang nicht immer heraushören. Dieser wird im Zusammenspiel mit der Elektronik stellenweise stark transformiert, wie etwa durch das Geräusch eines Taubenflügelschlags. Bei der Produktion der elektronischen Klänge haben wir auch die sogenannte Granularsynthese eingesetzt, bei der kleinste digitale Klangfragmente verwendet werden, um ein „gekörntes“ Klangbild zu kreieren. Durch die Wirkung der elektronischen Klänge auf den Orchesterklang entsteht eine vielschichtige dramatisch-poetische Klanglandschaft, in die die Sopranstimme eingebettet ist.
Wie ist die Sopranstimme im Monodram gestaltet und was vermittelt sie den Zuhörer*innen?
Die Sopranstimme drückt die Gefühle der Protagonistin Olivia unmittelbar aus. Mir ist es wichtig, dass über die Stimme ein wirklicher Mensch zum Ausdruck kommt, mit all seinen Gefühlen, Gedanken und Widersprüchen. Über die Stimme äußert sich die Tragik der Figur auf intimste Weise. Das versuche ich auch bei meinen Opern, immer in engem Kontakt mit dem Libretto. Alles Musikalische entsteht aus dem Libretto heraus.
Das Gespräch führte Claudia Jahn-Schuster
Hèctor Parra
Hèctor Parra, wurde 1976 in Barcelona geboren. Er studierte Komposition bei Jonathan Harvey, Brian Ferneyhough und Michael Jarrell in Genf. Seinen Master of Arts schloss er mit Auszeichnungen an der Universität Paris VIII ab. Er war Professor für elektro-akustische Komosition am Konservatorium für Musik Zaragoza (Spanien) und unterrichtet zurzeit Komposition am Forschungsinstitut für Akustik/Musik (IRCAM), in Paris.

Seine Kompositionen wurden von zahlreichen berühmten Orchestern und Ensembles, wie dem Ensemble Intercontemporian, dem Philharmonieorchester Tokio, dem Radio Sinfonieorchester Stuttgart und dem Freiburger Barockorchester. Zahlreiche Arbeiten wurden im Rahmen des Lucerne Festival, des Warschauer Herbst, der Wittener Tage für Kammermusik, des San Francisco International Arts Festival sowie von den Donaueschinger Musiktagen, der Stuttgarter Oper und dem Wiener Konzerthaus uraufgeführt. In enger Zusammenarbeit mit Schriftstellern wie Marie NDiaye und Händl Klaus komponierte Hèctor Parra fünf Opern. Seine Oper Das geopferte Leben wurde 2014 vom renommierten Magazin Opernwelt als eine der besten Premieren des Jahres nominiert. Darüber hinaus wurde er im Jahr 2011 mit dem Ernst von Siemens Kompositionspreis ausgezeichnet. 2007 gewann er den Donald Aird Memorial Prize of San Francisco und ein Jahr später erhielt er den Impuls Kompositionswettbewerb Graz.

3. Sinfoniekonzert: Sehnsuchtsort Natur

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