Flashback Tauris

Ab 4. Februar steht Christoph Willibald Glucks Meisterwerk „Iphigénie en Tauride“ wieder auf dem Programm im Opernhaus. Dramaturg Miron Hakenbeck über den antiken Mythos, traumatische Erfahrungen und den Inszenierungsansatz von Regisseur Krzysztof Warlikowski.
Wem könnte diese Opernheldin vergeben? Ihrem Vater, der ihr auf dem Opferaltar das Messer an die Kehle setzt? Der Göttin, die dieses Menschenopfer fordert? Die sie dann aber unversehrt an einen Ort versetzt, der nicht weniger traumatische Erfahrungen bereit hält? Dem fremden Herrscher, der sie dort zwingt, regelmäßig junge Männer zu töten, im Namen wiederum der gleichen Göttin? Mit ihren obskuren Opfermotiven handelt diese Oper von gottverlassenen Menschen, der Gewalt zwischen Männern und Frauen, vom Ringen um selbstbestimmtes Handeln angesichts fataler Vorbestimmung.

Gewalt bringt neue Gewalt hervor

Iphigénie en Tauride ist vor allem aber das letzte Kapitel einer langen Familiengeschichte. Wie sehr diese von Gewalt und Zerfall gekennzeichnet ist, verdeutlichen allein deren jüngsten Ereignisse: Für den Krieg ist der Vater zur Opferung seiner ältesten Tochter bereit, nach dem Krieg tötet die Mutter mit ihrem Geliebten den heimkehrenden Ehemann. Der Sohn rächt den Vater, indem er die Mutter erschlägt, und verliert darüber den Verstand. Diese Gewalttaten sind nur eine Wiederholung dessen, was sich in dieser Familie bereits über Generationen abspielt, setzen eine Reihe von Morden und inzestuösen Beziehungen fort. Gewalt bringt ständig neue Gewalt hervor, angeheizt durch Eifersucht, ungebremstes Machtstreben oder blutige Racheinstinkte. Es scheint, als würde von jeder Generation immer wieder aufs Neue ein zerstörerisches Verhaltensmuster der Vorfahren wiederholt werden, wie sehr man ihm auch zu entkommen versucht. Psychologie und Traumaforschung haben dafür Erklärungsmodelle. Der Mythos erklärt diese Verdammung zur Gewalt mit seinen eigenen Bildern: Orakelsprüche, beleidigte Gottheiten, Verfluchungen. Die Götter sollen tatsächlich einen Fluch über diese Familie verhängt haben, als Strafe für den Frevel ihres Ahnen Tantalos. So begründet zumindest der mehr als 2500 Jahre alte Mythos des Atriden-Geschlechts den Urgrund für das nicht endende Morden.

Der griechische Tragödiendichter Euripides und alle Dramatiker und Komponisten, die den Stoff nach ihm zur Hand genommen haben, unter ihnen Christoph Willibald Gluck, bringen diese blutige Familiengeschichte mit Iphigénie en Tauride zum Abschluss. Sie erfinden eine Version des Mythos, die vorher, etwa bei Homer oder Aischylos, nicht existierte: Bevor sie einen Strich unter den Stammbaum des verfluchten Geschlechts ziehen, entwerfen sie dessen letztes Kapitel als Versöhnungsgeschichte. Sie lassen Iphigenie nicht auf dem Opferaltar in Aulis sterben, sondern im fernen Tauris wiederauferstehen – für die Erfüllung einer höheren Aufgabe. Iphigenie löst dort den Fluch, der ihrer Generation als schweres Erbe auf den Schultern lastet. Als sie in einem zu opfernden jungen Fremden ihren Bruder Orest erkennt, verweigert sie weitere Menschenopfer. Indem sie den Mörder ihrer Mutter und den Erben des so geliebten wie gehassten Vaters nicht tötet, beendet sie das jahrhundertelange Töten. In diesem späten Happy-End drückt sich die Notwendigkeit von Vergebung und Entsühnung aus. Ob Iphigenie und ihr Bruder damit tatsächlich von ihren Verwundungen geheilt und von den sie zermürbenden Schuldgefühlen befreit werden, ob sie den Albträumen von Aulis und Tauris entkommen, darüber schweigt der Mythos.

Ein Theater der Erinnerung

In Krzysztof Warlikowskis Version der Iphigénie en Tauride hat die Titelheldin ihr unfreiwilliges Exil Tauris bereits verlassen. Zugleich hat sie diesem Ort niemals den Rücken gekehrt. Sie trägt ihn lebenslang in sich und wird in unangekündigten Flashbacks regelmäßig auf das dort Geschehene zurückgeworfen: in Form nächtlichen Aufschreckens, als ein Krampf in der Magengegend beim Wiedererkennen eines Geräusches oder beim Anblick einer ganz bestimmten Landschaft. Indem Warlikowski die Titelfigur durch eine Schauspielerin verdoppelt, entfaltet er mit Glucks tragédie lyrique ein Theater der Erinnerung: Die räumliche Trennung Iphigenies von ihrer Heimat Mykene wird zur unüberwindbaren zeitlichen Entfernung. Keine jungfräuliche Opferpriesterin im Tempel der Diana ersehnt hier das Ende ihrer Leiden sondern eine „Heldin des 20. Jahrhunderts“ (Warlikowski). Deren Heroismus besteht darin, die Katastrophen ihres Zeitalters überlebt zu haben und sie in sich zu tragen – als ein Zeugnis, nach dem niemand fragt. Sie lebt in einem Altenheim Seite an Seite mit anderen Frauen, die Ähnliches in sich bewahren. Gemeinsam bilden sie einen Chor des würdevollen Überdauerns. Hier brechen die Erinnerungen über Iphigenie herein, unangekündigt wie die Rachegöttinnen, die Orest anfallen, sobald er ein Auge schließt. Die Eltern, die Schwestern Elektra und Chrysothemis, der geliebte Bruder Orest und dessen Freund Pylades, der sich bereitwillig für Orest opfern würde – sie alle bevölkern als Phantome Iphigenies einsamen Tage und Nächte, bis sie irgendwann im Nebel eines sich auflösenden Gedächtnisses verschwinden werden.

Die Figur der Iphigenie ist im Theater Warlikowskis noch ein weiteres Mal aufgetaucht, in (A)pollonia, einer Produktion des von Warlikowski gegründeten Nowy Teatr Warszawa, uraufgeführt 2009 beim Festival von Avignon. In dieser Mythencollage erscheint Iphigenie tatsächlich als junges Mädchen. Mit ihrem weißen Hochzeitskleid scheint sie mehr dem Vater gefallen zu wollen als dem Bräutigam Achill. Euphorisch wirkt sie in ihrer Todesangst und stolz über ihre Einwilligung, für Vater, Krieg und Vaterland geopfert zu werden. Freiwillig opfert sich dort auch Alceste, gibt ihr Leben allerdings nicht für eine höhere Sache sondern für das Weiterleben des todgeweihten Gatten hin. Die beiden antiken Opfergeschichten enthüllen ihre rätselhafte Bedeutung in dieser Aufführung aber erst in Konfrontation mit den Tragödien des 20. Jahrhunderts, von denen die wahre Geschichte der Apolonia Machczyńska zeugt, die der Inszenierung den Titel gab. (Die polnische Schriftstellerin Hanna Krall hat sie in einem ihrer unbedingt lesenswerten Erzählbände festgehalten.) Die junge Polin hatte während der deutschen Besatzung Juden versteckt, wurde denunziert und zum Tod verurteilt. Die SS stellte den Vater Apolonias vor eine Entscheidung von vorgeblich antiker Dimension: Er könne die Tochter retten, wenn er sich an ihrer Stelle hinrichten ließe. Die Todesfurcht war stärker als die Vaterliebe. Von den durch Apolonia versteckten Juden hatte nur ein kleines Mädchen überlebt, aber: „Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet.“ So steht es auf der Medaille, die Apolonia Machczyńska sechzig Jahre nach ihrer Hinrichtung zusammen mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ verliehen wird. Die posthume Ehrung Apolonias in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem nimmt stellvertretend ihr Sohn entgegen. Dass seine Mutter sich für die Rettung anderer geopfert hat, hat er ihr nie vergeben können. Und so fragt er am Schluss der Aufführung die von seiner Mutter gerettete Ryfka: „Hat der Mensch nicht das Recht, sein eigenes Leben zu retten?“

Schmerz und Schönheit

Auch in (A)pollonia erzählt Warlikowski Familiengeschichten. Sie sind unauflöslich verbunden mit den Leiderfahrungen und schuldhaften Verstrickungen des 20. Jahrhunderts. Immer überkreuzen sich im Theater Warlikowskis intimste und kollektive, gegenwärtige und historische Erfahrungen. Jede seiner Inszenierungen zielt darauf ab, das Verborgene, Verdrängte und Tabuisierte freizulegen. Zuallererst in Bezug auf das Individuum: seine Ängste und Obsessionen, sexuellen Wahrheiten, Verletzungen, Schuld- und Schamgefühle. Der französische Theaterwissenschaftler Georges Banu nennt das Theater Warlikowskis deshalb das „gehäutete Theater“. Diese schmerzhafte Häutung der Figuren steht in keinem Widerspruch zur ästhetischen Brillanz der szenischen Darstellung, zur Eleganz perlenbesetzter Abendroben oder, im Fall von Iphigenie, eines goldenen Zweiteilers à la Christian Dior: Der durch seine Schmerzen gehende Mensch erscheint in glamouröser Schönheit. Die theatrale Offenbarung der verborgenen Aspekte des Einzelnen geht einher mit dem Durchleuchten der tabuisierten oder mühevoll anästhesierten Zonen kollektiver Vergangenheit. Durch die emotionale und intellektuelle Beteiligung der Zuschauer*innen vollzieht sie sich als gemeinschaftliche Angelegenheit: Halbtransparente Spiegelwände vervielfältigen auf der Opernbühne Iphigenies phantomhafte Besucher. Sie spiegeln immer wieder auch die dekorative Architektur des Zuschauerraums und alle, die sich darin versammelt haben. Im jahrtausendealten Mythos und in Glucks musikalischen Zeichnungen menschlicher Seelenturbulenzen sollen sie letztlich nichts auffinden, als die eigene Wirklichkeit.