Sind wir nicht alle ein wenig Kunst?

Individualität und Selbstverwirklichung sind die Themen heutiger junger Menschen – und sie waren es auch bereits für die jungen Kreativen des 19. Jahrhunderts. Hanna Schlieder, Mitarbeiterin der Staatsoper und selbst Millenial, nimmt Andrea Moses’ Inszenierung von „La Bohème“ zum Anlass, einmal selbstkritisch über Selbstinszenierung und das Ich als Ware nachzudenken.
Ich gehöre, wie rund ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland, zu den Millennials – auch Generation Y genannt. Definitorisch sind wir irgendwann zwischen 1980 und Ende der 1990er Jahre geboren und somit mit der Jahrtausendwende erwachsen geworden oder zumindest auf dem Weg dahin gewesen. Gesellschaftlich ist aus dem Begriff jedoch in den letzten Jahren eine hochemotionale Debatte rund um ein paar Wahrheiten und noch mehr Vorurteile geworden. Man hat Respekt vor uns – vielleicht ein wenig Angst – denn Leben hat eine ganz andere Bedeutung für uns als die Generationen vor uns.

Wir halten nichts von Hierarchien, sondern wollen von Anfang an mitreden. Der klassische Nine-to-five-Job und die dauernde Sehnsucht nach dem Feierabend sind ein Graus für uns. Wir stolpern aus den Schulen und Hochschulen der Republik und suchen nach Sinn. Wir machen unsere Leidenschaft zum Beruf – wir wollen für die Sache brennen und Spuren hinterlassen. Doch was unsere Großeltern, Eltern und Arbeitgeber als romantische Idee, Naivität und vielleicht sogar Narzissmus abtun, ist letztlich kein neue Erfindung, und genau darum soll’s hier gehen!  

Gerade ist an der Staatsoper Stuttgart wieder La Bohème von Giacomo Puccini zu sehen. Falls einem dieses Stück etwas sagt, kennt man es vielleicht als leichte Opernkost, passend für die Weihnachtszeit: Ein Haufen mittelloser Künstler, die das Leben so nehmen wie es kommt; eine zarte Liebe die entfacht und auf den Prüfstand gestellt wird. Ein knapp zweistündiges Panoptikum über das Leben, die Liebe – und ja, auch das Leid. Auf der Oberfläche ist Puccini sicherlich eine Oper für Jedermann gelungen (so jedenfalls sein erklärtes Ziel), bei aller launigen Alltagsbeschau sicherlich aber mehr als nur das GZSZ eines anderen Jahrhunderts. Andrea Moses' Inszenierung fordert den Zuschauer aber auch über die reine Handlungsebene hinaus heraus – und zwar vor allem uns, liebe Mit-Millenials: Nicht nur wird schnell deutlich, dass unsere Ideale schon früher einmal sehr in Mode waren, sondern wir müssen auch einstecken – mit ein wenig Distanz betrachtet, sieht unser Gestrampel dann nämlich doch ein wenig absurd aus. Aber mehr dazu später – fangen wir erstmal am Anfang an und zwar beim Titel dieses Opernwelterfolges:

La Bohème lehnt sich an den Roman Scènes de la Vie de Bohème von Henri Murger an. Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht, beschäftigt sich dieser mit einer einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die sich dem gut-bürgerlichen und gesittetem Leben verweigert. Identitätsfindung und Selbstverwirklichung sind die wichtigsten Stichwörter für sie. Das kommt uns doch in den Grundzügen bekannt vor, das ist doch auch heute noch aktuell... Wie die Schlaghose sind unsere Ideale also auch ein wiederkehrendes Phänomen.

Ich bin Kunst, ein Gesamtkunstwerk – unersetzlich und einzigartig. Und so polieren wir unsere Lebensläufe auf, pokern auf dem Arbeitsmarkt und ganz privat vielleicht manchmal ein wenig zu hoch. Schließlich wartet man nur auf uns, nicht wahr?!
Die Vierer-Künstler-WG mit Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline in Andrea Moses' Inszenierung
Ähnlich mögen die vier Kreativen denken, die sich zu Beginn von Andrea Moses' La Bohème-Inszenierung in einem Künstlerappartement zusammenfinden – das gerade fertig gestellte Manuskript wird spontan verheizt, und der Vermieter noch einmal gekonnt um seine Mietzahlung gebracht. Und weil alles Kunst ist, auch die Banalität des Lebens, wird alles via Live-Cam auf Bildschirme übertragen. Spielt die Regisseurin hier etwa auf unseren Hang zur Selbstdarstellung im Leben selbst und den sozialen Medien an?

Während die anderen sich dem Leben und dem Alkoholkonsum widmen, bleibt Rodolfo im Appartement zurück. Ganz zufällig stolpert dort dann Mimì herein, welche nicht nur ihre Wäschestickerein verkauft... Kurzerhand wird sie von ihm zur Muse erklärt. Im vierten Bild kommen alle vier und Mimì wieder zusammen. Eine Galerie, darin die Leben der anwesenden Bohèmiens als Ausstellungsgegenstand. Und während Mimì einer langen Krankheit erliegt, stromern die Zuschauer herum und begutachten die Inszenierung. Spätestens jetzt kippt die Stimmung und wir müssen uns die Frage stellen: Was zum Henker passiert dort? Der Drang nach Verwirklichung der Kreativen überschattet sogar das Sterben. Ganz nach dem altbewährten Motto: The show must go on – bis es zu spät ist, um es anders zu machen.
Mimì stirbt – und die Galeriebesucher spenden Applaus dazu.
Natürlich schreibe ich, wenn ich die Verbindung zwischen uns und Andrea Moses' Inszenierung von La Bohème darstelle, nur über einen Bruchteil des Gesamten. Trotzdem möchte ich Euch, meine lieben Mit-Millenials, herzlich einladen, das Spektakel selbst zu erleben. Denn schließlich tut uns die Distanz der Zuschauerperspektive vielleicht mal ganz gut, um wieder auf den Teppich der Tatsachen zurückzukommen: Wir haben im Durchschnitt 85 Jahre auf diesem Planeten, und wir sollten alles rausholen – aber es gibt ein Preisschild. Und manchmal kommt Selbstverwirklichung mit einem hohen Preis. Wenn man sich selbst auf den Markt wirft, dann verkauft man sich zwangsläufig: Und so tragen auch die Solisten in Andrea Moses' Inszenierung rote, kreisrunde Sticker auf ihren Kostümen, welche sie als verkaufte Kunstwerke im Ausstellungsraum des Lebens kennzeichnen.

Andrea Moses hält uns mit ihrer Interpretation von Puccinis Stück den Spiegel vor und das nicht nur, was unsere hochgeschätzte Individualität betrifft. Sie führt unser Konstrukt aus Idealen und Annahmen ad absurdum. Zum Teil.