In „Rusalka“ will eine Nixe Mensch werden, in „MELUSINE“ wird eine Frau als Wasserfee mit Schlangenleib entblößt. Beide Stücke erzählen von Wunderwesen, deren Körper von der Norm abweichen, mit verstörenden Zügen. Was passiert, wenn man die Geschichten queer-feministisch liest? Ein Essay über den Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung
Text: Jayrôme C. Robinet
Fotos: Liam Woods/Kintzing
„Bist du schon verheiratet? Oder bist du grässlich krank? Warst du mal ein Mann? Was immer es ist, es ist mir egal!“, sagt Allen Bauer (Tom Hanks) zu Meerjungfrau Madison (Daryl Hannah) in Splash – Eine Jungfrau am Haken. Der Film lief 1985 im französischen Fernsehen, da war ich gerade acht. Mitgerissen sah ich zu, wie Madison in einem wehenden rosa Kleid und mit langen, ätherisch blonden Haaren über dem Eisstadion schwebte, mit Allen Händchen haltend, als würden sie gemeinsam atmen. Und mehr als ihr Fischschwanz, der sich an Land in Beine verwandelte, wunderte mich, wie Allen mit Anzug und Krawatte Schlittschuh laufen konnte. Was mir damals als Metapher der bedingungslosen Liebe erschien – Wassernymphe liebt sterblichen Mann –, das war in der Literatur schon immer ein beliebter Topos, von Jean d’Arras’ Roman de Mélusine über Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung Undine bis zu Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau. Wasserfeen, Schlangenfrauen, Nymphen, Nixen – sind sie der Triumph der körperlichen Selbstbestimmung? Und was beleuchtet eine queer-feministische Lektüre dieser Narrative, wie sie in Stuttgart nun neu produziert werden?

Erfreulich am Motiv der Meerjungfrau – ehrfürchtige Freude: Ihre Hybridgestalt fungiert weder als Mittel zum Zweck (um jemanden zu vergewaltigen) noch als Strafe, im Gegensatz zu vielen Figuren in Ovids Metamorphosen. In Antonín Dvořáks Rusalka will die Nixe eine Seele erwerben – damals ein wichtiges Thema für das Christentum – und eine Frau werden. Gefangen fühlt sich Rusalka im Körper eines Halbfisches, gefesselt von Wellen, umschlungen durch Seerosen. Aus Liebe ist sie bereit, ihrer Welt zu entsagen und ihre Stimme aufzuopfern. Nun ahnt man das Apokalyptische. Mal wird Rusalka als heranwachsendes Mädchen dargestellt, das romantische Liebe und sexuelles Begehren entdeckt. Mal ist sie ein geschundenes Opfer sexuellen Missbrauchs. Mit Blick auf den Text ist das nachvollziehbar. Im See, in diesem feuchten Spiegel, um es mit Fouqué auszudrücken, warnt der Wassermann: „Ein Mensch willst du werden? Ein sterbliches Geschöpf?“ Der Wassermann schnappt nach dem Fräulein, hascht nach den Waldnymphen, will diesen goldgelockten Kindern einen dicken Kuss geben, aber seine Frau zieht ihm die Ohren lang. Nicht sterblich soll Rusalka werden – das heißt auch, dass sie nicht altern soll. „Nymphchen“: Mit diesem Wort bezeichnet Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs Lolita die Art von präpubertären Mädchen, die er sexuell attraktiv findet.
Queer Reading ist eine fantastische Form der Hermeneutik. Es eröffnet rhizomartige Bedeutungsebenen, die nicht nur textimmanent, sondern auch anhand von historischen und biografischen Zusammenhängen produziert werden. Rollen wir nun einen Purpurteppich aus und lesen gegen den Strich. Bringen wir versteckte queere Subtexte und Codes innerhalb der heteronormativen Erzählstruktur an die Oberfläche. Der schüchterne Junge Hans Christian Andersen soll in einen Freund, Edvard Collin, hoffnungslos verliebt gewesen sein. Als Edvard schließlich eine Frau heiratete, soll Hans Christian aus Liebeskummer Die kleine Meerjungfrau verfasst haben. „Wie Moses schaue ich in das gelobte Land, in das ich selbst niemals komme“, schreibt er. Biografin Signe Toksvig sieht in Andersen selbst „diese Meerjungfrau im Versuch, den geliebten, unerreichbaren sterblichen Prinzen zu gewinnen“. Was ist mit den Schmerzen, die die Meerjungfrau bei jedem Schritt spürt, als träte sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer? Das erinnert an einen Spaziergang auf sehr hohen, extradünnen Nadelabsätzen. Nachts geht die Meerjungfrau heimlich auf die Marmortreppe hinaus, um ihre brennenden Füße zu kühlen. Auch manche trans Männer oder nicht binäre Personen warten, bis alle schlafen, um ihr Kompressionsshirt, das die Brust flach macht, auszuziehen. Meist können Dragqueens sich nur im Schutz der Nacht und in bestimmten Räumen entfalten – Gewalt im öffentlichen Raum ist bekannt.

Bastian Kraft inszeniert in Stuttgart Dragperformer*innen, die die Wald- und Wasserwesen Dvořáks kaleidoskopartig vervielfältigen. Körperliche Vielfalt ist für eine Gesellschaft genauso notwendig wie Biodiversität für die Natur. Ein Hoch auf Meerjungfrauen, Meerjungmänner, Meerjungenbys und Meeraltmenschen! Natürlich sind trans Personen, Enbys, Dragqueens, -kings und Inbetweens keine Märchenwesen. Die Metapher der trans Person, „gefangen im falschen Körper“, wird heute meist abgelehnt. Im Gegensatz zu Rusalka will auch keine trans Person „aus Liebe“ eine Transition durchführen. Die eigene Geschlechtsidentität ist unabhängig vom Gegenüber, und das grammatikalische Ich hat ohnehin weder Geschlecht noch Gender.

Was entblößt denn die Figur der Melusine, der Wasserfee mit Schlangenleib, samstags? Sie heiratet Raymondin unter der Bedingung, dass er sie niemals an einem Samstag nackt sieht, während sie im Bad ihren Schwanz so stark ins Wasser klatscht, dass er bis zur Decke wedelt. Das Baden im kalten Wasser wurde im Mittelalter als Mittel gegen die Begierden des Fleisches wärmstens empfohlen, eine häufige Selbstkasteiung im Leben der Heiligen. Im zwölften Jahrhundert entstand das Motiv der Dame, die ins Wasser taucht. Der Klerus war der Meinung, dass aufgrund von triebhaftem Sexualverhalten Frauen Macht über die Männer ausüben würden – eine Macht, die es zu brechen galt. Wenn die Hormone in Wallung gebracht werden und eine die Lust überkommt, dann gibt es nur eines: kalt baden. Der Körper musste diszipliniert, weibliche Sexualität reguliert werden. Schade nur, dass inzwischen klar ist, dass Kaltduschen meist die Libido stimuliert. Auch während der Menstruation müssen sich Frauen in manchen Kulturen für die Reinigung verstecken. Wenn Raymondin seiner Neugierde nicht mehr widerstehen kann, schlägt er mit dem Schwert ein Loch in die Tür und spioniert seiner Frau im Bad nach. Hokuspokus! Da verwandelt sich Melusine vollständig in eine Schlange. Oder besser gesagt: Erst wenn Raymondin ihr Geheimnis der Öffentlichkeit erzählt, verliert sie ihre Menschlichkeit. Solange nur die beiden die Wahrheit kennen, ist alles in Ordnung. Die Geheimhaltung scheint eine Bedingung für die Entfaltung einer Liebe zu sein, die als unnatürlich gilt.

Anzügliche Witze, in denen ein heterosexueller Cismann entsetzt feststellt, dass er von einer trans Frau in eine sexuell peinliche Situation gebracht wurde, sind gang und gäbe. Bei trans Menschen stellt sich die Frage, wann der richtige Augenblick ist, um anderen anzuvertrauen, dass sie trans sind. Manche teilen es erst mit, wenn sie mit jemandem bereits im Bett liegen – andere sagen es gar nicht. In Schottland wurde ein trans Mann, der seinen Partnerinnen „vorgaukelte, er habe einen echten Penis, indem er beim Sex eine Prothese benutzte und verhinderte, dass sie ihn nackt sahen“, zu drei Jahren Haft verurteilt. Das Gericht urteilte, es sei „rape by deception“ – Vergewaltigung durch Täuschung. Für die Namens- und Personenstandsänderung brauchen trans Menschen medizinische Gutachten, für die manche Sachverständigen ihrer Neugier nicht widerstehen können und nach den sexuellen Fantasien fragen oder den nackten trans Körper mal sehen wollen. Das ist kein Gute-Laune-Spiel. Wie für Melusine verursacht fremde Neugier und die Disziplinierung des Körpers die Entmenschlichung von trans Personen.
Tag für Tag wurde Andersens Meerjungfrau dem Prinzen lieber, „wie man nur ein gutes, liebes Kind lieben kann, aber sie zur Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn“. Den Vorzug gibt der Prinz der irdischen Prinzessin. Die kleine Meerjungfrau hat doch den Prinzen gerettet – das stellt ja die Geschlechterrollen auf den Kopf! Zwar ist das eine feministische Lesart, aber die Meerjungfrau kann den Prinzen eben nur retten, weil sie keine Frau ist. In Rusalka verstößt der Prinz die Wassernixe zugunsten der fremden Fürstin. Die Nixe vögeln, ja, sie heiraten, nein. Die Autorin Alex Alvina Chamberland beschreibt, wie heterosexuelle Cismänner trans Frauen für einen wandelnden Cruising-Platz aus Fleisch und Blut halten. Lebensgroße Sexpuppen, exotisierte, fetischisierte und entmenschlichte Körper.

Der rebellische Körper muss Stück für Stück gezähmt werden. Das war schon immer so. Betrachten wir die Hexe Ježibaba in Rusalka. Hopplahopp, mit ihren Elixieren verleiht sie der Nixe menschliche Gestalt und verlangt einen zu hohen Preis dafür: Rusalkas Stimme. Die Hexe gilt als böses Wesen par excellence. Ihre Disziplinlosigkeit wird verurteilt. In zwei Jahrhunderten wurden Hunderttausende Frauen als Hexen gefoltert, gehenkt und verbrannt. Ein Massaker. Hexen, Nixen – zwei Seiten derselben Medaille. Auch das Schlangenweib ist ein hybrides Monster, das rehabilitiert werden muss, wie Catalina Rueda und Lisa Pottstock in ihrer im Auftrag der Staatsoper Stuttgart komponierten Oper MELUSINE – Was machst du am Samstag? eindrücklich zeigen. Der Vorwurf der Häresie, Teufelsverehrung und Nähe zu Naturgeistern, wurde von Kirche und Staat benutzt, um jegliche Form sozialer und politischer Aufsässigkeit anzugreifen. Gemäß der Philosophin und Aktivistin Silvia Federici vertiefte die Hexenverfolgung die Spaltung zwischen Männern und Frauen. Männer sollten lernen, die Macht der Frauen zu fürchten. Ein Kaleidoskop von Praktiken und Glaubensvorstellungen wurde zerschlagen, die mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin unvereinbar waren.

Opfer der Hexenjagd wurden vor allem bäuerliche Frauen. Lohnenswert wäre eine Analyse der sozialen Herkunft im Stoff der Wasserfrau. In Fouqués Märchen entpuppt sich Undine als Tochter eines mächtigen Herzogs: Eine Fischerstochter könne sie nicht sein, glaubt Ritter Huldbrand. Die verstoßene Bertalda seufzt: „Ich fühle mit Beschämung, wie ich nur eine arme Fischersdirne bin.“ Melusine hat viele Burgen errichtet – und zahlreiche Kinder geboren. Die Disziplinierung des proletarischen Körpers war nicht nur eine Vorbedingung kapitalistischer Entwicklung, sondern fügte sich auch in das koloniale Projekt ein. Missionar*innen und Konquistador*innen hätten den Vorwurf der Teufelsverehrung nach Abya Yala getragen, so Federici, als Mittel zur Unterwerfung der dortigen Bevölkerung. Wie Normvorstellungen vom Rassismus geprägt sind, zeigt auch folgendes Ereignis um die Realverfilmung des Disney-Zeichentrickfilms Arielle, die Meerjungfrau. Als Sängerin Halle Bailey die Rolle der Arielle übernehmen sollte, empörten sich viele Fans: Bailey sei doch Schwarz! Keine Flosse? Kein Problem. Aber Schwarz? Die Fantasie der Fans reichte ja nur für eine weiße Meerjungfrau aus.
Nixen, Feen, Dämonen, Nymphen – Opfer der Hexenjagd wurden als perverse Frauen dargestellt. In öffentlichen Gerichtssitzungen mussten sie ihre sexuellen Fantasien beichten. Es hieß, sie hätten es genossen, die Männer der Inquisition aufzugeilen. „Lausemädchenbande«, singt der Wassermann, während der Heger vor den „zarten Nymphen ohne Hemd und ohne Röckchen« warnt, durch deren Anblick „dich wilde Liebesgier berauscht! Der Herr behüte uns vor dem Bösen!“. Doch die Figur der Hexe in Dvořáks Rusalka hat eine Vision, in der auch Zukünftigkeit mitschwingt. Historisch belegt hat Musikwissenschaftler Jürgen Schläder die Darstellung des Menschseins durch Ježibaba mit der Entwicklung hin zum Ersten Weltkrieg. Mit den Worten der Hexe: „Der Mensch wird erst dann zum echten Menschen, wenn er sich in fremdem Blut suhlt.“ Rusalkas Tod sowie der Tod des Prinzen, der weiß, dass ihr Kuss ihn umbringt, ist ein Extremfall der Selbstbestimmung des eigenen Körpers. 2021 übergoss sich die trans Frau Ella Nik Bayan auf dem Berliner Alexanderplatz mit Benzin, zündete sich an und starb. Ihren Körper entzog sie einer Gesellschaft, die sie transfeindlich und rassistisch behandelte.

Bis heute hat die Disziplinierung des rebellischen Körpers Kontinuität. Wenn Körper bei der Geburt anders sind als sogenannte männliche oder weibliche Körper, werden sie häufig ohne Einwilligung der Betroffenen an normative Vorstellungen von „männlich“ oder „weiblich“ angepasst. Das Gesetz zum Verbot geschlechtsverändernder Operationen an intergeschlechtlichen Kindern ist erst 2021 in Kraft getreten. Allerdings können durch Gesetzeslücken Genitalverstümmelungen weiterhin stattfinden. Oder die Vagina von Kindern wird durch Bougieren aufgedehnt, um sie für die Penetration vorzubereiten. Körperliche Selbstbestimmung gibt es ja nicht, ohne dass das Umfeld – Gesellschaft, Gesetzgebung – mitmacht. Im queeren Gestus können wir uns von den sich gegenseitig ausschließenden Kategorien, vom Entweder-oder, befreien. Stattdessen plädiere ich für Sowohl-als-auch: Fremdbestimmung und Selbstbestimmung gehen ja Hand in Hand.

Am Ende des Films Splash hört Allen auf sein Herz und folgt Madison ins Unterwasserreich. Händchen haltend tauchen sie davon und werfen kleine Luftblasen wie durchsichtiges Konfetti. Als Kind wunderte ich mich, dass Allen unter Wasser atmen konnte. Heute wundere ich mich, dass er mit schweren Lederschuhen schwimmen kann. Auch Staunen ist fluid.

Jayrôme C. Robinet ist Schriftsteller, Übersetzer und Spoken Word Performer. Er promoviert an der Universität der Künste Berlin über queere Performance Poetry. Zuletzt erschien sein Memoir Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund (2019) bei Hanser Berlin.