Zum Tod von Hans Zender

Der Welt und Zeit umarmt

Am 22. Oktober ist der große Komponist, Dirigent, Interpret, Essayist und Lehrer Hans Zender verstorben. Eine Würdigung von Barbara Eckle.
Er war ein Täter, ein Überzeugungstäter, der nicht davor zurückschreckte, sich die Finger schmutzig zu machen. Für den 1936 geborenen Wiesbadener war Musik zum Anfassen da, zum Erleben am eigenen Leib. Aus den Bücherregalen stoßen Zenders Titel wie „Waches Hören“ oder „Die Sinne denken“ im Vorbeigehen immer wieder den Appell aus, den er unermüdlich an Musikschaffende wie Musikliebende richtete, nämlich Musik als persönliches, subjektives Abenteuer zu begreifen, nicht als klassifizierbares, schubladisierbares oder hierarchisierbares Objekt, das sich zur Positionierung oder Profilierung usurpieren lässt. In den Dienst dieses Credos stellte er sein gesamtes Schaffen: als Komponist, Dirigent, Interpret, Essayist, Lehrer und Mensch.

In Zeiten des Serialismus sozialisiert, schöpfte er aus dieser Überzeugung auch den Mut, ein multiperspektivisches, multitemporales Weltbild in seinem Musikdenken zuzulassen. Wie sein Kollege Bernd Alois Zimmermann hat er die Tür zur Vergangenheit nicht geschlossen. Im Gegenteil: Er hat die westliche Musiktradition – gerade jetzt, aus der Nachkriegsperspektive – zur Konfrontation eingeladen. Zu artifiziell, realitätsfern und eskapistisch erschien ihm die Prämisse der Darmstädter Avantgarde, die Zähluhr auf Null zu stellen und die Tradition zu negieren. Seine abendländische Bildung und Prägung waren für ihn – wie für so viele, die in diesen Jahren rat- und fassungslos über das Kriegsgrauen sich eine Existenz aufbauen mussten – eine Tatsache, an der kein Weg vorbeiführte.

Doch wer die Zeit nicht zählt, sie nicht als lineares Kontinuum versteht, braucht sie auch nicht anzuhalten oder zu brechen. So war die westliche Musiktradition für ihn automatisch in der Gegenwart und damit in seiner Musik präsent: Beethoven, Schubert, Schumann, Mozart, Haydn – Zender führte mit ihnen Dialog im Heute und ließ Publikum und Musiker*innen von heute am Austausch teilhaben. Diesen Dialog erweiterte er auch in die Literatur. Er gilt als maßgeblicher Motor für die geradezu inflationäre Hölderlin-Renaissance im Musikleben, die in den 70er-Jahren begann und jahrzehntelang anhielt.

Als Generalmusikdirektor in Kiel, Saarbrücken und Hamburg, als Chefdirigent des Niederländischen Rundfunkorchesters, erster Gastdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg und langjähriger Partner des Frankfurter Ensemble Modern trat er unter Einsatz all seiner Ressourcen immer auch als Vermittler auf. Egal, wo Zender wirkte: kontinuierlich und beharrlich arbeitete er an seinem großen Bauprojekt, der Brücke zwischen Tradition und Gegenwart weiter – nach außen, zum Publikum, wie nach innen, zu den Musiker*innen der Orchester und Ensembles. Unter seiner Ägide wurden auch sie Botschafter einer gegenwartsbezogenen Musikauffassung, womit er bis heute ein entscheidendes Stück Weg für Komponist*innen unserer Zeit mitbereitet hat.

Als einer im Kräftefeld von Tradition und Innovation angesiedelten Institution war Hans Zender auch der Staatsoper und dem Staatsorchester Stuttgart ein wichtiger Partner und blieb dem Haus auch nach 1993, als hier seine Oper „Don Quichote“ zur Uraufführung kam, verbunden. Die „31 theatralischen Abenteuer“, wie er seine Oper umschrieb, setzte er mit dem Staatsorchester Stuttgart auch im sinfonischen Bereich fort. Hier dirigierte er seine eigene Musik und kombinierte sie etwa mit Werken eines anderen neugierigen und innovativen Geistes der deutschen Musikgeschichte: Felix Mendelssohn Bartholdy.  

So wie Hans Zender – à la Zimmermann – die Zeit als Kugel begriff, war für ihn die ganze Welt eine Kugel. In seiner Konfrontation mit fernöstlicher Literatur, Musik und Philosophie wurde er, der an der Musikhochschule Frankfurt Professor für Komposition war, immer wieder zum blutigen Anfänger und stellte sich andersartigen Denkansätzen zur Verfügung. Ohne Furcht vor ästhetischem Neuland ließ er sich von fernöstlichen Einflüssen zu einer für ihn ganz ungewohnten Musik inspirieren, was ihn in die Nähe Klaus Hubers und vor allem Giacinto Scelsis rückte, für dessen Musik er sich pionierhaft einsetzte.

Zender suchte bewusst nach diesem Neuland in seiner Musiksprache: „Ich will keine Städte bauen, in denen ein Werk aussieht wie das andere.“ Diesen Impuls teilte er mit John Cage, der sein Musikdenken ebenfalls um eine entscheidende Dimension reicher machte. Eine erkennbare Handschrift interessierte ihn nicht. Wichtiger war ihm, der Fährte zu folgen, auf die ihn neue ästhetische und geistige Erfahrungen schickten. Diese entwaffnende Offenheit und die Risikolust, mit der er als Künstler auf die Welt reagierte, trugen zu seiner - trotz aller kritischen und reservierten Ernsthaftigkeit - inspirierenden Aura bei. Sie erlaubte den Widerspruch, die Veränderung, die Unschärfe und das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung.

Subjektivität und Unschärfe sind auch die Schlüsselbegriffe für die Kompositionen, die Zender in aller Welt berühmt gemacht haben: die „Schumann-Fantasie“ für großes Orchester ebenso wie seine Antwort auf Beethovens Diabelli-Variationen „33 Veränderungen über 33 Veränderungen“, und natürlich sein Hit „Schuberts Winterreise – eine komponierte Interpretation“, mit der auch die Staatsoper Stuttgart in dieser Spielzeit ihre Freundschaft mit Hans Zender auf der Opernbühne fortleben lässt. Seine „Winterreise“ ist in Musik geronnene Erinnerung - Erinnerung an ein Kulturgut, das er durch subjektive Überzeichnung und Verzerrung aus der Trance der Gewohnheit befreit und in die lebendig erlebbare und erschütterbare Gegenwart entlässt.

Seine geistige Beweglichkeit hat sich Hans Zender bis ins hohe Alter erhalten. Eine Freiheit, für die man ihn beneiden darf. Nun ist er zu Hause, in Meersburg am Bodensee, gestorben.