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20.02.2020 Eine Partiturseite erklärt von Titus Engel

Eine BORIS-Partiturseite

Bei der Vorstellung BORIS verzahnen sich zwei Opern zu einer: Modest Mussorgskis "Boris Godunow" und Sergej Newskis "Secondhand-Zeit". Wie das auf dem Papier aussieht, zeigt uns Titus Engel, Dirigent der Premierenserie, an einer beispielhaften Seite.
Zwei Werke, eine Doppelseite

Wir befinden uns auf Seite 78 von Newskis Secondhand-Zeit, am Schluss des Intermezzos II B, das mit dem gesprochenen Wort des jüdischen Partisans endet: "Ich erinnere mich an ein ständiges Gefühl von Scham". Das neue Werk geht direkt über auf die Seite 167 der Partitur von Mussorgskis Boris Godunow. Zwei Werke, deren Uraufführungen knapp 150 Jahre auseinander liegen, werden hier zu einem Werk.
1. Fermate

Hier habe ich unter anderem eine Fermate eingezeichnet. Ich warte bis der gesprochene Text des Partisans zu Ende ist und gehe dann auf Tempo 54 beim zweiten und dritten Schlag. Dann dirigiere ich diesen Teil zu Ende, denn wir springen dann Attacca, also ohne Übergang, auf Mussorgski. Newski endet hier mit einem Des-Dur Septakkord. Bei exakt diesem Akkord von Mussorgski wurde das Intermezzo von Newski zwischengeschoben. Der Ausschnitt beginnt und endet damit mit dem gleichen Akkord, dadurch wirkt es wie ein logischer Einschub; der Übergang zurück zu Boris Godunow ist fließend. Dem Zuhörer wird an dieser Stelle kurz unklar: Ist man bei Mussorgski oder bei Newski? Ein genialer Moment.

2. Texte in mehreren Sprachen

Bei Mussorgski geht es weiter in der Schenkenszene. Sergej Newskis Secondhand-Zeit wird auf Deutsch gesungen, Boris Godunow auf Russisch. Den russischen Originaltext sehen wir hier in kyrillischer Schrift, darunter die russische Lautschrift für die Sänger*innen. Darüber habe ich mir händisch die wörtliche deutsche Übersetzung aufgeschrieben. Diese wurde vom Dramaturgen der Produktion, Miron Hakenbeck, und vom Sprachcoach Dimitry Kunyaev angefertigt. 
3. Instrumente

Bei der Erstellung meiner Gesamtpartitur sind nicht alle Seiten immer komplett sauber kopiert. Stellenweise sind daher nicht alle Instrumente und Partien zu lesen. Für diesen Fall habe ich mir alles noch einmal eingezeichnet. Die einzelnen Gesangspartien habe ich in rot abgekürzt: An dieser Stelle singen Missail, Warlaam und ein Polizeioffizier. In blau habe ich mir die Instrumente notiert.
4. Off String

Hier habe ich Off String reingeschrieben, also ich lasse die Streicher hier ein springendes spiccato spielen, damit wird klanglich eine größere Spannung für diesen Schlüsselmoment erzeugt, als wenn man an der Saite spielen lassen würde. Außerdem kann man hier zwei Aufstriche für die Streicher erkennen (rechts im Bild), das haben wir gemeinsam mit den Stimmführern so eingerichtet. Dafür habe ich verschiedene Versionen von Boris Godunow verglichen und mir Anmerkungen dazu angesehen. Bei einer eigenen Stimmführerprobe haben wir dann gemeinsam erarbeitet, welche Strichrichtung uns am vernünftigsten erscheint. Und damit die "Stuttgarter Fassung" erstellt. 
5. Fehler

In der gesamten Geschichte von kopierten Noten gibt es immer auch Fehler in Uraufführungspartituren, die erst beim Arbeiten mit dem Material erkannt werden. Man kann sich das wie ein Buch vorstellen, das viele Menschen Korrektur lesen, aber trotzdem kann sich der ein oder andere Fehler einschleichen. Das war auch ausnahmsweise hier der Fall. Hier sieht man einen Bass-Schlüssel, das war ein kleiner Fehler des Kopisten, der hier vom C-Schlüssel vergaß wieder zurück in den Bass-Schlüssel zu wechseln. Genauso wie das Vorzeichen, deswegen habe ich das mit Bleistift hinzugefügt.
6. Instrumente erkennbar machen

Gerade für das Schlagzeug sind aufgrund der Diversität der unterschiedlichen Schlaginstrumente nicht immer alle einzeln in der Partitur aufgeführt. Oft gibt es nur einen kleinen Verweis am Rand, so wie man das auch hier sehen kann. Dieser ist allerdings so klein, dass ich das nicht schnell genug erkennen kann. Das ist in diesem Fall mein Zeichen für die kleine Schlagzeugtrommel.
7. Tempo

Hier habe ich mir eigens nochmals das Tempo notiert. Ein wesentlicher Teil der Vorbereitung auf ein Dirigat ist die Tempokonzeption. Gerade bei diesem Abend ist dies besonders kompliziert, da sowohl Mussorgski also auch Newski mit sehr vielen Tempowechseln gearbeitet haben. Das erstellte Konzept kann sich dann am Abend selbst natürlich noch leicht ändern. Man arbeitet dann mehr aus der Emotion heraus, und es ist nicht jeden Abend die exakte gleiche Geschwindigkeit, aber so weiß ich zumindest: Hier muss es in Tempo 80 weitergehen.

8. Taktgruppenanalysen

Hier mache ich Taktgruppenanalysen und schreibe mir beispielsweise nur 4+1 rein. (Anm.: Eine Taktgruppe, ist eine Motiv, das sich über mehrere Takte zieht) Meine Anmerkung 4 + 1 heißt, dass 4 Takte auf dieser Seite sichtbar sind sind und dann ist noch einer übrig ist. Ich muss daher an dieser Stelle nicht zwingend blättern, sondern weiß, das kann ich auswendig machen.