Konzertant oder szenisch?

Ab 3. Oktober ist im Opernhaus Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“ in vier konzertanten Vorstellungen zu erleben. Aber was heißt schon „konzertant“? Und wo beginnt eigentlich das, was man gemeinhin „Szene“ nennt? Generalmusikdirektor Cornelius Meister wird den Abend leiten, hier gibt er bereits einige Einblicke in seine Arbeit mit dem Sängerensemble, mit dem Staatsorchester und natürlich mit Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss‘ Meisterwerk.
Wörtlich genommen, handelt es sich bei jeder Aufführung, die auf einer Bühne stattfindet, um eine szenische Aufführung, bezeichnete doch im klassischen griechischen Amphi­theater die σκηνή (skē'nē) ein gleichzeitig als Kulisse fungierendes Gebäude, in dem sich die Darsteller umkleiden konnten, bevor sie das προσκήνιον (pro'skēnion) oberhalb der ὀρχήστρα (or'chēstra), die eigentliche Spielfläche des Theaters, betraten. Wer aus diesem mehr oder weniger unveränderlichen Einheitsbühnenbild, das gleichzeitig Nutzgebäude war, sichtbar wurde, trat in besonderer Weise, eben szenisch, in Erscheinung, und zwar bevor man ein Wort oder einen Ton von ihm hören konnte, denn er setzte sich den Blicken eines Publikums aus. Diese Art, Präsenz herzustellen, prägt unser Verständnis von Theater- und Konzert­aufführungen bis heute.
Zum Bühnenbild und zur Haltung
Ein wesentliches Kennzeichen vieler szenischer Theater­­aufführungen in unserer Zeit, so könnte man annehmen, sei ein aufwändiges Bühnenbild. Das mag durchaus für zahlreiche Opern- und Schauspielproduktionen im 20. und 21. Jahrhundert zutreffen, aber nicht notwendigerweise für alle. Ich erinnere an Peter Brooks „Leeren Raum“ (seinen Hamlet, dessen Protagonisten mit nichts als einem auf den Boden gezeichneten Viereck auskamen, habe ich 2002 in Aix-en-Provence bewundert) oder an Sandra Leupolds Heidelberger Don Giovanni-Inszenierung aus dem Jahr 2005. Die acht Sängerinnen und Sänger teilten sich mit lediglich einem halben Dutzend Stühle die ansonsten vollkommen leere Bühne, die Handlung aber vermittelte sich dank der dramatischen Kraft dieser Aufführung unmittelbar. Unter den schlicht gehaltenen Stuttgarter Bühnen­­bildern der jüngeren Vergangenheit seien Raimund Orfeo Voigts Lohengrin (Regie: Árpád Schilling) und Katharina Pia Schütz' Werther (Regie: Felix Rothenhäusler) genannt.
„Ein wesentliches Kennzeichen vieler szenischer Theater­­aufführungen in unserer Zeit, so könnte man annehmen, sei ein aufwändiges Bühnenbild. Das mag durchaus für zahlreiche Opern- und Schauspielproduktionen im 20. und 21. Jahrhundert zutreffen, aber nicht notwendigerweise für alle.“
Cornelius Meister
Wenn nicht das Bühnenbild, wäre es dann die Aktion, die äußere Bewegung der Künstlerinnen und Künstler, die eine Aufführung zu einer szenischen machte? Aber ist nicht bereits die innere Haltung desjenigen, der auf einer Bühne sichtbar ist, Voraussetzung dafür, dass er nicht „privat“ ist – ob er es will oder nicht, und auch unabhängig davon, ob er besonders talentiert ist? Ist nicht allein durch die Bühnen­­situation, in der sich der Blick des Publikums auf eine Person fokussiert, notwendigerweise gegeben, dass diese Person Teil einer Szene, eine szenische Person, wird?
Stil und Tradition
Offensichtlich gibt es nicht nur den einen, den einzigen Interpretationsstil eines dramatischen Werks auf der Bühne. Wie glücklich können wir uns im Jahr 2021 schätzen, dass es eine solch reichhaltige Geschichte dramatischer Umsetzungen in Schauspiel und Oper gibt, auf die wir unsere Aufführungstradition gründen! – und ein Ende ist nicht in Sicht. Dieser Umstand berechtigt, ja fordert uns geradezu auf, die gleichen Titel und Vorlagen über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte in immer wieder verschiedener Weise auf die Bühne zu bringen.
Ein Musikstück ist nicht lebendig, solange es nicht hörbar gemacht wurde (und sei es im inneren Ohr; ein für mich übrigens besonders inspirierender Vorgang, wenn die kleinen Notenkügelchen, die ich in der Partitur betrachte, in meinem Ohr zu klingen beginnen und dadurch erst ihren Sinn erhalten). Die eine zeitlos gültige Interpretation gibt es nicht, bei keinem Werk, – wenngleich jeder Interpret sich bestimmt mit dem Ziel aufmacht, dem Kern möglichst nahe zu kommen.
Rollengestaltung
Am liebsten arbeite ich Monate im Voraus, selbst am Klavier spielend, viele Stunden mit Sängerinnen und Sängern an der Rollengestaltung ihrer Partien. Dabei geht es niemals nur um im engeren Sinne musikalische Fragen. Ich würde sogar so weit gehen, dass es in einem musik­dramatischen Werk beinahe überhaupt keine Fragen gibt, die allein die Musik beträfen: die Gestaltung des Textes und der musikalische Ausdruck sind untrennbar verbunden mit ihrer dramatischen Aussage.

Bei diesen Proben ist es zunächst unerheblich, welche Art der Aufführung am Ende unser Ziel ist: sei es eine sogenannte „szenische“, sei es eine als „konzertant“ angekündigte Produktion. Denn am Anfang muss immer die Frage um den rechten Ausdruck, die tief empfundene i n n e r e Beziehung, stehen. Die Frage, wie wir diese Haltung nach a u ß e n so kommunizieren, dass sie das Publikum unmittelbar erreicht, sollte erst danach beantwortet werden. Zuerst muss es um die Emotion (in der Barockzeit hätte man gesagt: um den Affekt) an sich gehen, das Wie der theatralischen Umsetzung erwächst daraus. Wer sich zuerst um den Effekt und nicht um den Kern der Sache kümmert, verwechselt meiner Meinung nach die Reihenfolge.
„Sobald Sängerinnen und Sänger auf der Bühne sichtbar sind, müssen sie sich, ob sie es wollen oder nicht, zu ihrer nicht nur auditiv wahrnehmbaren Präsenz verhalten.“
Cornelius Meister
Mit diesen Überlegungen war ich bisher jedes Mal konfrontiert, wenn ich allein, ohne die Unterstützung durch ein Regieteam, ein Opernwerk neu erarbeitet habe, an der Staatsoper Stuttgart zuletzt einen konzertanten Don Giovanni im Oktober 2020. Sobald Sängerinnen und Sänger auf der Bühne sichtbar sind, müssen sie sich, ob sie es wollen oder nicht, zu ihrer nicht nur auditiv wahrnehmbaren Präsenz verhalten. Sicherlich: Es wäre möglich, Beteiligte einer konzertanten Opern­produktion zu bitten, sich als Solisten eines Orchester­konzerts zu begreifen. Aber auch das wäre eine bestimmte Art des Agierens, eine, wenn man so will, szenische Anweisung: Spiel einen Konzertsänger. Dass Sänger „nichts” tun außer Singen, ist schon rein logisch nicht möglich; es stellt sich daher immer die Frage: Was tun sie, in welcher Art und wie viel?
Die Stuttgarter „Rosenkavalier“-Produktionen
Ich bekenne mich als Verehrer von Stefan Herheims Inszenierungen und habe die Zusammenarbeit mit ihm, als wir 2012 für die Dresdner Semperoper gemeinsam Alban Bergs Lulu auf die Bühne gebracht haben, in bester Erinnerung. Daher hatten wir zu meiner Freude lange vor März 2020 fest geplant und disponiert, im Oktober 2021 wieder seine Stuttgarter Rosenkavalier-Inszenierung aufzuführen. Die Notwendigkeit, sich körperlich nicht zu nahe zu kommen, verhinderte allerdings im Frühsommer 2021 die für diese fantasievolle Produktion notwendigen zahlreichen Kostüm­anproben. Im Wort gegenüber hochmotivierten Sängerinnen und Sängern sowie dem Staatsorchester, im Herbst 2021 den Rosenkavalier aufzuführen, entschlossen wir uns zu einer Fassung, die gänzlich unabhängig von Stefan Herheims Inszenierung sein würde, aber vereinbarten gleichzeitig, seine Arbeit für eine spätere Aufführung in einer der folgenden Spielzeiten aufzubewahren.

Recht selten kommt es vor, dass ein Opernhaus sich glücklich schätzen kann, zwei voneinander unabhängige Versionen des gleichen Stücks im Repertoire zu haben. Diesen Luxus leisten wir uns nun. So werde ich hoffentlich einst auch Stefan Herheims Stuttgarter Rosenkavalier dirigieren können.
„Die Gestaltung des Textes und der musikalische Ausdruck sind untrennbar verbunden mit ihrer dramatischen Aussage.“
Cornelius Meister
Jetzt aber präsentieren wir das Ergebnis der Probenarbeit der letzten Monate, in denen wir mit Richard Strauss' und Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier gelebt haben: mit seinem klangvollen Text und seiner sprechenden Musik. Glücklicherweise sind wir 110 Jahre nach der Uraufführung an keinerlei Zensur mehr gebunden und führen daher das gesamte Werk ohne Kürzungen auf.

Ein paar Produktionsgeheimnisse kann ich bereits ausplaudern: Auch wenn es keinen Statisten geben wird, der sich im ersten Akt um die Frisur der Marschallin kümmert, so wird sie dennoch einen (musikalischen) Anlass haben, sich als „altes Weib“ zu fühlen, wie es das Libretto vorsieht. Der Kinderchor mit seinen „Papa“-Rufen sorgt für mächtig Leben auf der Bühne, das Staatsorchester ist den ganzen Abend sichtbar, und die „Mordwaffe“ ist auch musikalisch dienlich …

Cornelius Meister



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