Es herrscht Krieg in Europa. Auch uns, die Mitarbeitenden und die Künstler*innen der Staatsoper Stuttgart schockiert der russische Angriff auf die Ukraine. Zusammen mit dem breiten gesellschaftlichen Bündnis, das in den letzten Tagen spürbar wurde, solidarisieren wir uns mit dem ukrainischen Volk. Derzeit versuchen wir, unseren Schock zu überwinden und Unterstützung in Symbolen und Taten auszudrücken: Musikalische Statements, Diskursveranstaltungen sowie Spendensammlungen, die den Menschen in der Ukraine helfen sollen.
„Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz“, heißt es im Prolog zu dem Musiktheaterabend BORIS, dessen Wiederaufnahmepremiere wir am kommenden Samstag feiern. Es geht darin um den historischen Zaren Boris Godunow, um die Mittel, mit denen er an die Macht gekommen ist, seinen Wahn und sein Sterben. Im Mittelpunkt steht daneben jedoch auch noch ein anderer Protagonist: das russische Volk. Das Libretto spielt im 17. Jahrhundert, Mussorgski hat die Oper im 19. Jahrhundert komponiert, wir kombinieren das Werk mit einer Uraufführung aus dem 21. Jahrhundert mit Texten von Swetlana Alexijewitsch und Musik von Sergej Newski.

Dass etwas nicht mehr „an seinem Platz“ ist, gilt seit vergangener Woche auch für das Heute: Ein Angriffskrieg wird auf europäischem Boden geführt, die Ukraine und Russland sind im Krieg. Was über Jahrzehnte kaum vorstellbar schien, ist nun traurige Realität. Das, was wir für Vergangenheit hielten, hat uns wieder eingeholt.

All diejenigen, die sich noch in postsowjetischen Erinnerungen wiegten und vom „Brudervolk“ schwärmten, haben nun einen entschiedenen Weckruf bekommen: Ein wahrer Bruder kommt nicht mit dem Gewehr zu dir und lauert dir vor der Tür auf – nur ein Mörder.
Oksana Lyniv, Dirigentin der Neuproduktion von „Rusalka“
Die Herrschenden und die Beherrschten stehen im Mittelpunkt von BORIS, aber auch die Allgegenwart der Geschichte: Russland, das russische Volk und seine facettenreiche Geschichte, seine komplexen Herrscherfiguren, die Kontinuitäten und Brüche, die sich auch in die Biographien der „einfachen Menschen“ einschreiben, werden emotional erlebbar. Parallelen zum Heute drängen sich auf.

Kunst fordert auf zu Perspektivwechseln, zur Empathie, zur Geschichtskenntnis und zu klarer Haltung. In diesem Sinne gilt unsere Solidarität auch besonders allen Kunstschaffenden und Künstler*innen, die in der Ukraine unter dem Krieg und in Russland oder Belarus unter den Repressionen der Regimes zu leiden haben und die ihre Stimmen nur mit Furcht um ihr Leben erheben können.

Um all diese hochkomplexen Vorgänge besser einordnen zu können, haben wir bereits vor einiger Zeit zwei Diskursveranstaltungen ins Leben gerufen:

Am Samstag, 5. März, um 15 Uhr vor der ersten Aufführung von BORIS, werden der Komponist Sergej Newski, der Politikwissenschaftler und Historiker Dominik Tomenendal sowie der Dramaturg Miron Hakenbeck sprechen. Russland-Bilder – Von Boris Godunow über die Post-Sowjet-Ära bis ins Russland der Gegenwart ist der Titel dieser Veranstaltung. Der Eintritt ist frei.
Es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht um Europa. Es geht um unsere Zukunft. Mein Herz schlägt für die Ukraine. Die Gerechtigkeit wird siegen.
Sergej Newski, Komponist von „Secondhand-Zeit“
Zwei Wochen später, am Samstag, 20. März, um 15 Uhr wird die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu Gast sein. Mit ihr werden wir über die Träume von Aufbruch und Veränderung in Belarus und ihre Zerschlagung durch das Regime Lukaschenkos im Spätsommer 2020, darüber, wer die Held*innen dieses Sommers waren und welche Geschichten noch erzählt werden müssen.

Neben diesen beiden inhaltlichen Auseinandersetzungen planen wir derzeit noch weitere Aktionen, gemeinsam mit den Kolleg*innen der Staatstheater Stuttgart, dem Stuttgarter Ballett und dem Schauspiel Stuttgart. Das Staatsorchester Stuttgart und der Staatsopernchor Stuttgart werden sich ebenso engagieren.

Es bleiben viele Fragen. Was können wir als Kunstschaffende einer solchen Aggression entgegensetzen? Welche Rolle als Brückenbauer können wir einnehmen in einer solchen Situation? Wie schaffen wir Dialog zwischen all den Waffen? Kann der Blick auf die Geschichte, auf die Kunstwerke der vergangenen Jahrhunderte helfen, die aktuelle Situation einzuordnen?

Wir sind hilflos. Lassen Sie uns trotzdem gemeinsam helfen – zum Beispiel durch Spenden an eine der vielen Organisationen wie „Deutschland hilft“.
–– Viktor Schoner