Swetlana Alexijewitsch – eine Nobelpreisträgerin für Stuttgart

Am 2. Februar steht die Premiere eines außergewöhnlichen Opernabends ins Haus: „BORIS“ – eine Verzahnung von Modest Mussorgskis Historiendrama „Boris Godunow“ von 1869 und der Uraufführung von Sergej Newskis Auftragswerk „Secondhand-Zeit“. Newskis Neukomposition basiert auf sechs Lebenserinnerungen aus dem Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Hier erfahren Sie mehr über die Autorin.
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948, kurz nach dem Krieg, in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen geboren. Schon früh ist sie von der oral history, den mündlich erzählten Erinnerungen der Menschen fasziniert gewesen:

„Stimmen ... Stimmen ... sie sind in mir ... verfolgen mich ... Ich hörte diese Stimmen seit meiner Kindheit. In dem weißrussischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, lebten nach dem Krieg nur noch Frauen, sie arbeiteten von früh bis zum Dunkelwerden, am Abend aber graute ihnen vor ihren leeren Hütten, sie gingen hinaus auf die Straße, saßen auf Bänken zusammen. Und redeten über den Krieg, über Stalin, über ihren Kummer. Von ihnen hörte ich, dass der Krieg im Frühling und im Herbst am schlimmsten zu ertragen war, wenn die Vögel fortzogen oder wiederkehrten; sie wussten ja nichts von den Angelegenheiten der Menschen. Sie gerieten oft in Artilleriebeschuss. Zu Tausenden stürzten sie vom Himmel. Die Frauen sprachen über Dinge, die ich mit meinem kindlichen Verstand nicht begriff, aber im Gedächtnis behielt.“ Swetlana Alexijewitsch

Werdegang
Nach einem Journalismus-Studium an der Universität von Minsk arbeitete Alexijewitsch zunächst als Lehrerin, Redakteurin und Korrespondentin verschiedener Zeitungen und Literaturmagazine und versuchte sich in unterschiedlichen literarischen Genres, bevor sie einen zufriedenstellenden Weg fand, schreibend auf die Wirklichkeit zu reagieren – jenseits der Belletristik, jenseits auch vom Journalismus der Reportage. Nach einem Journalismus-Studium an der Universität von Minsk arbeitete Alexijewitsch zunächst als Lehrerin, Redakteurin und Korrespondentin verschiedener Zeitungen und Literaturmagazine und versuchte sich in unterschiedlichen literarischen Genres, bevor sie einen zufriedenstellenden Weg fand, schreibend auf die Wirklichkeit zu reagieren – jenseits der Belletristik, jenseits auch vom Journalismus der Reportage.

Werke und Auszeichnungen
In ihrem 1983 abgeschlossenen Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht erfasst sie eine kollektive historische Erfahrung erstmals über die Methode der Collage hunderter in Interviews aufgezeichneter individueller Stimmen. So brachte sie das lange verschwiegene Schicksal von Frauen in der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges zur Sprache. Das Buch konnte erst 1985, mit Beginn der Perestroika erscheinen. In allen folgenden Büchern bleibt Alexijewitsch dem von ihr begründeten Genre des „Romans der Stimmen“ treu. Der Krieg und seine Folgen ist auch Thema von Die letzten Zeugen. Kinder im zweiten Weltkrieg (erschienen 1985). Die Traumata eines Krieges ihrer unmittelbaren Gegenwart beleuchtet Alexijewitsch in Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen (1989). Es folgt Im Banne des Todes (1993), worin sich Alexijewitsch mit dem Phänomen anwachsender Selbstmordraten bzw. Selbstmordversuche nach dem Ende der Sowjetunion auseinandersetzt. In Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft (im Original Tschernobyl. Ein Gebet, 1997) verleiht sie den menschlichen Tragödien der Reaktorkatastrophe Gehör. Den Abschluss bildet bislang Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus (2013). Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück (2001), dem National Book Critics Circle Award (2006), dem polnischen Ryszard-Kapuściński-Preis (2011), dem mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus (2011) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2013). 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

„Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolutionen, Gulag, Krieg ... Tschernobyl ... der Untergang des „roten Imperiums“ ... Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der „kleine Mensch“ von sich. Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist für mich ein Chor, eine Sinfonie.“ Swetlana Alexijewitsch

Secondhand-Zeit
In ihrem 2013 erschienenen Buch Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus untersucht Swetlana Alexijewitsch, welche Auswirkungen der Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 auf die Biographien der einzelnen Menschen hatte, die jahrzehntelang in ihr lebten. Deren individuelle Erfahrungen formen sich zu einem vielstimmigen Chor kollektiver Erinnerung: an den Verlust von Werten und Lebensplänen mit dem Umbruch des politischen Systems, an sich plötzlich brutal entladende ethnische Konflikte, an Orientierungslosigkeit angesichts neuer Freiheiten und Verarmung in unsolidarischen Zeiten eines entfesselten Turbokapitalismus. Zugleich kommen traumatische Erfahrungen zur Sprache, die zuvor über Jahrzehnte verschwiegen und damit auch aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeblendet wurden: die unheroische Seite des Krieges, staatlicher Terror und seine Auswirkung auf die privatesten Beziehungen, Antisemitismus, die Opfer von Repression und Gewalt. Die Stimmen der vielen Einzelnen, die Alexijewitsch in Gesprächen zwischen 1991 und 2012 aufgezeichnet hat, geben ein kaleidoskopartiges Zeugnis von der Komplexität der Geschichte. Das Buch portraitiert auf diese Weise die postsowjetische Welt auf der Suche nach einer neuen Identität. Die Zeit der neuen Freiheit ist eine Zeit des  "secondhand", der gebrauchten Ideen und Worte. In ihr dient der Blick zurück, der die Geschichte des Landes und der einzelnen Menschen neu bewertet, dazu, eine Orientierung für die Gegenwart und Zukunft zu finden.

Der Komponist Sergej Newski hat individuelle Stimmen aus dem Buch Secondhand-Zeit von Swetlana Alexijewitsch ausgewählt und in seiner gleichnamigen Neukomposition vertont, die Sie in der Oper BORIS hören können. Die Textgrundlagen der sechs Figuren aus der Komposition finden Sie in der Taschenbuchausgabe von Alexijewitschs Buch auf folgenden Seiten:

Die Mutter des Selbstmörders - S. 164
Der Jüdische Partisan - S. 225
Die Frau des Kollaborateurs - S. 236
Der Obdachlose - S. 371 (bei Alexijewitsch aus der Perspektive einer Frau, der Tochter erzählt)
Die Geflüchtete - S. 275
Die Aktivistin - S. 452 ff. und 461 ff.


Ab 2. Februar 2020 ist die Oper BORIS im Opernhaus zu sehen. Am 4. Februar können Sie Swetlana Alexijewitsch bei der Lesung Der Ton der Erinnerung im Literaturhaus Stuttgart erleben.

Foto: Margarita Kabakova


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