„Unser Lebensstil
tötet unsere Kinder“

Gibt es ein neues Morgen für die Generation, die nach uns kommt? Die Antwort des Regisseurs Bastian Kraft in seiner Neuinszenierung von Mozarts „Idomeneo“ liest sich als Parabel von der Angst der Väter vor ihren Söhnen.
„Mozarts Oper ist groß und klein zugleich“, sagt Bastian Kraft. „Zum einen ein geradezu archaischer Mythos, zum anderen eine intime Familiengeschichte.“ In Idomeneo geht es um einen König, der sich gegen Götter und Natur auflehnt und für seinen Machterhalt kämpft, es geht aber auch um einen Vater und seinen Sohn. Damit steckt in dieser Oper ein Stück von Mozarts Autobiografie: Wolfgang Amadeus, das vom Vater Leopold gepushte Wunderkind, versucht, sich zu emanzipieren. Tatsächlich ist das 1781 in München uraufgeführte Werk die erste Oper, in der der damals 24-jährige Komponist wirklich eigene Wege geht und auch die Gattung Opera seria in eine neue Richtung führt.

„Der Generationenkonflikt ist in Idomeneo ein zentrales Thema“, sagt Kraft. Wie kann man die Macht an eine neue Generation weitergeben? Was bedeutet Fortschritt, was Restauration? Was kann man für eine bessere Zukunft tun? Welche Verantwortung trägt die Elterngeneration für all das, was auf die Welt zukommt? Solche Fragen haben den Regisseur beschäftigt, und er sieht in Idomeneo, dem kretischen König, der vom Kampf um Troja heimkehrt, den Repräsentanten einer Kriegsgeneration, während Idomeneos Sohn Idamante und dessen Geliebte, die trojanische Prinzessin Ilia, die Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung verkörpern.

„Ich will in meiner Inszenierung die Wucht der griechischen Tragödie mit einer feinen psychologischen Figurenzeichnung, die Gefühle und Konflikte nachvollziehbar macht.“ Diesen Gegensatz zwischen Überhöhung und Realismus bringt Kraft auch visuell zum Ausdruck, indem er den handelnden Figuren ihre eigenen Schatten zur Seite stellt als wesentlich größeres, aber eben auch dunkles und schablonenhaftes Abbild. Diese Schatten bedeuten für Kraft noch etwas anderes: „In der Opera seria wird oft von Menschen gesungen, die gerade weit weg und gar nicht auf der Bühne anwesend sind. In solchen Momenten können die Figuren dann mit den Schatten der Abwesenden interagieren, ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ängste in sie hineinprojizieren.“

Und auch hier gehe es oft um die Angst der Älteren vor den Jüngeren. Idomeneo hat als Dank für seine Rettung aus einem Seesturm geschworen, dem Meeresgott Neptun das erste Lebewesen zu opfern, das ihm an Land begegnet. Wie es das Schicksal will, ist dies sein Sohn Idamante. Ein tragischer Zufall oder Vorsehung, um den Vater, der als König die Macht in den Händen hält, zu prüfen? Es wäre einfach, diese Macht zu erhalten, indem er seinen Nachfolger vollkommen legitim aus dem Weg räumen würde. Für Idomeneo selbst würde das die Rückkehr zu altem Glanz bedeuten, für sein Land die Weiterführung eines überkommenen Regimes. All das nicht nur auf Kosten eines Einzelnen, der geopfert würde, sondern der ganzen jungen Generation, die dem Herrschaftssystem der Alten zum Opfer fiele.

Diesen Gedanken findet Kraft aktuell: „Wir alle leben heute auf Kosten der zukünftigen Generationen. Unser Lebensstil tötet unsere Kinder.“ Dabei müsse man nicht nur an die realen Kriege denken, sondern auch an den durch nachlässiges, egoistisches und nicht nachhaltiges Verhalten bedingten Klimawandel und dessen fatale Folgen. Auch hierfür haben Bastian Kraft und sein Bühnenbildner Peter Baur eine szenische Metapher gefunden, indem die Bühne im Verlauf der Aufführung ganz langsam und zunächst fast unbemerkt mit Wasser geflutet wird. „Wie das langsam schmelzende ewige Eis. Wir ignorieren die ersten Anzeichen, und wenn es offensichtlich ist, ist es schon zu spät.“ So wie die heutige Politik die richtigen Weichen für die kommenden Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte stellen sollte und dies oft verpasse, so drohe auch Idomeneo, der immer noch das Zepter in der Hand hält, die Zukunft der nächsten Generation zu verspielen.

In der Titelfigur stecke ein gutes Stück freudscher Psychologie des Unbewussten, findet Kraft: „Man hat den Eindruck, Idomeneo hegt bisweilen sogar richtiggehend den Wunsch, seinen Sohn zu töten.“ Dieser rühre von seiner diffusen Angst, als Mensch und Politiker von der nächsten Generation abgelöst zu werden. Sie könnte ihn entmachten, vor allem aber könnten moderne Ideen sein Weltbild unterlaufen. Aus ethischen Gründen muss er derartige albtraumhafte Tötungsfantasien gegenüber dem eigenen Sohn jedoch unterdrücken. Aber auch umgekehrt, so spinnt Kraft diese Idee weiter, müsste der Sohn den Vater erst überwinden – also im übertragenen Sinn vernichten –, um herrschen zu können. „Das rückt Idamante schon fast in die Nähe eines Ödipus, der seinen Vater erschlägt.“ Und in seinem tiefsten Innern wisse Idomeneo, dass er eigentlich abdanken muss, da er nicht mehr zeitgemäß ist, zugleich sei er jedoch nicht zum Verzicht bereit. „Eine Oper voller Traumata und Angstvorstellungen also.“

Idomeneo ist aber nicht nur eine Geschichte über den Konflikt zwischen Alt und Jung, zwischen Vater und Sohn, sondern auch eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern sowie zwischen Mensch und Natur. Damit wird die reine Familiensaga auf eine höhere Ebene gehoben, sie wird zum Mythos. Es geht um übergeordnete, allgemeingültige Dinge der Menschheit. In seiner Inszenierung will Bastian Kraft der Frage nachgehen, wer diese Götter, die Mozart und sein Librettist Giambattista Varesco auf der Bühne zeigen, überhaupt sind. Existieren sie als eine höhere, das Leben bestimmende Kraft, oder sind sie Projektionsfiguren, die die Menschen heranziehen, um die Welt zu erklären und ihr Handeln zu rechtfertigen?

„Letztlich mangelt es den Figuren des Stücks an der nötigen Selbstreflexion, um ihren Platz in der Gesellschaft und die richtigen Verhaltensweisen zu erkennen“, sagt der Regisseur, der Idomeneo, Idamante, Ilia und Elettra auf der Bühne im buchstäblichen Sinne immer wieder den Spiegel vorhält.

Bastian Kraft zweifelt stark daran, dass das von Mozart vorgegebene Happy End, bei dem Idomeneo abdankt und die Jugend ans Ruder lässt, tatsächlich Frieden für alle und eine bessere Zukunft bedeutet. „Auch in der neuen Generation gibt es Störfaktoren und Konfliktherde.“ Die nächste Generation könnte die letzte sein, und wenn am Ende die Sonne über einer Welt am Rande einer Katastrophe untergeht, dann stellt sich die Frage, ob es wirklich ein neues Morgen gibt.
Florian Heurich ist Autor, Musikjournalist und Videoredakteur. Er schreibt und produziert Reportagen und Features für BR-Klassik, den SWR, MDR und andere ARD-Anstalten über Oper, Literatur, neue Musik und Weltmusik.

Dieser Beitrag erschien zunächst in der ersten Ausgabe der Spielzeit 2024/25 von Reihe 5, dem Magazin der Staatstheater Stuttgart.

Foto Bastian Kraft: Alice Ionescu

Idomeneo

Nov 2024
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Dez 2024
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