Verzauberung und Maskierung

Dirigent Alan Hacker, Regisseur Jossi Wieler, Bühnen- und Kostümbilderin Anna Viebrock und Dramatur Sergio Morabito im Gespräch über Händels "Alcina".
Morabito: Es gibt einiges über den dramaturgischen Aspekt dieser Oper zu bemerken. Wir haben es bei Alcina mit einer besonderen Ausprägung der opera seria zu tun, nämlich mit einer sogenannten Zauberoper. Was heißt nun eigentlich »Zauber« in Alcina und wie findet man einen Umgang mit ihren zum Teil übernatürlichen Geschehnissen? Die Zauberoper war damals die einzige Möglichkeit, im Theater illegitime Beziehungen darzustellen. Die Darstellung etwa eines Ehebruchs war aufgrund der Konventionen innerhalb der opera seria nicht möglich. Das Genre der Zauberoper erlaubte unmoralische Handlungen, weil diese unter magischem Einfluss begangen wurden und daher entschuldbar waren. Unser Stück Alcina etwa erzählt von Ruggiero, der seine Verlobte Bradamante verlassen hat und aus seinem gesellschaftlichen Kontext geflohen ist, um mit einer anderen Frau anders zu leben. Vor allem aber − und dieser Aspekt ist für uns heute sicherlich der entscheidende − erlaubt der Zauber, komplexe emotionale Zustände und Abhängigkeiten zu entäußern und dadurch zu theatralisieren. Dies ist, denke ich, eine Überlegung, die für unsere szenische Annäherung an das Stück eine große Rolle spielt.

Wieler: Das ist genau die Frage: In welcher Form läßt sich Magie auf dem Theater darstellen? Die eine Möglichkeit wäre sicher, den Zauber mit äußerem Zauber zu zeigen, die andere − und für die haben wir uns entschieden −, zu zeigen, wie die Menschen verzaubert werden von einem Zauber der Persönlichkeit, der Erotik, der Liebe. Dadurch werden innere Vorgänge nicht mit Hilfe von »Bühnenzauber« illustriert, sondern die Befangenheit in einem Labyrinth von Gefühlen thematisiert, die es außerhalb dieses Nichterlaubten so nicht geben darf. Es war ein wichtiger Schritt in unserer Vorarbeit, die Analogie dieser Ästhetik zum surrealistischen Film zu entdecken: Auch dort begegnen rational nicht auflösbare Setzungen, durch die sich erotische Obsessionen konkretisieren. Die Psychologie ist dort ähnlich sprunghaft, die Blöcke, in denen sich Figuren bewegen, ähnlich diskontinuierlich wie in Alcina.

Viebrock: Der einzige äußere Zauber, den das Stück zeigt, ist, dass Alcinas Liebesinsel am Anfang aus dem Nichts auftaucht und danach wieder verschwindet. Er reduziert sich also auf eine Art Rahmung des eigentlichen Stücks. Interessant ist erst die Frage: Wie geht es in Alcinas Reich zu? Sie zaubert ja gar nicht mehr und kann Ruggiero zum Schluss nicht halten. Ihre Identität als mythische Zauberin ist, wenn das Stück beginnt, bereits Geschichte und ihr Versuch, sie noch einmal zu beschwören, scheitert.

Wieler: Das Stück fängt in der Tat da an, wo Alcina es nicht mehr nötig hat zu zaubern. Sie bezaubert nur noch Ruggiero. Aber dass sie ihre Männer in Tiere verwandelt − wie einst Circe die Gefährten des Odysseus in Schweine − ist Vergangenheit. Nur äußerst widerstrebend und gegen ihre innere Überzeugung wird sie von Ruggiero dazu gedrängt, Bradamante alias Ricciardo in ein Tier zu verwandeln. Sie erklärt sich nur dazu bereit, weil sie hofft, ihre Liebe zu Ruggiero dadurch retten zu können. Es ist im Grunde das alte Märchenmotiv: Dadurch, dass die Göttin, Priesterin oder Zauberfrau sich in einen Menschen verliebt, verliert sie ihre magischen Kräfte. Die Liebe zu Ruggiero hat Alcina wirklich verwandelt.

Morabito: Ihre Menschwerdung ist die zentrale Setzung Handels. Der Aspekt, der in der literarischen Vorlage, dem Rasenden Roland, noch eine gewisse Rolle spielt, nämlich dass Alcina ein altes Weib ist und nur durch ihre Hexenkünste zur Schönheit wird, hat Händel nicht interessiert.

Wieler: Alcina macht in dem Stück eine unglaubliche Verwandlung durch. An der Erfahrung, von einem Mann verlassen zu werden, droht sie zu zerbrechen. Sie, die so viele Männer gehabt hat, weiß, dass sie nur noch einen Mann lieben will. Bis zu diesem Punkt kennen wir die Geschichte aus vielen Opern und Dramen, die eine unbedingt Liebende in den Mittelpunkt stellen. Doch was Händel dann im Laufe des dritten Aktes erzählt, ist in seiner Modernität absolut überraschend: nämlich, dass es Alcina gelingt, sich von dieser Liebe zu lösen und mit der Erfahrung des Verlustes, des Schmerzes und der Verzweiflung umzugehen. Was alle anderen Figuren des Stückes einschließlich Ruggiero in höchstem Grade irritiert, ist, dass Alcina ihm und seiner Braut im letzten Bild nicht nur ohne Haß, sondern sogar voll Anteilnahme und Sorge um ihr Glück entgegentritt. Das halten sie nicht aus.

Morabito: Man müsste das Libretto, wollte man es nach den Kriterien einer »wasserdichten«, stringenten Schauspieldramaturgie abklopfen, als voller Fehler, Brüche und Ungereimtheiten bezeichnen. Wir denken, dass genau diese Momente seinen ästhetischen Reiz ausmachen. Das Stück ist kein naives Zauberspektakel. Verwandlung oder Verfremdung von Welt oder Wirklichkeit ist in ihm weniger abgebildet als im irritierenden, diskontinuierlichen Rhythmus seiner Dramaturgie konkretisiert: als Vexier-Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers. Das ist seine eigentlich magische Dimension. Man entdeckt sie erst, wenn man sich auf den − zunächst fremd erscheinenden − Rhythmus der Musik und der Erzählung einlässt. Diese entwickeln dann einen unglaublichen Sog.
In unserer Aufführung findet keine Psychologisierung in dem Sinne statt, dass man sich verabschiedet von den im Stück behaupteten Situationen, die alle in einem hohen Grade unwahrscheinlich oder magisch motiviert sind. Was mir interessant erscheint, ist, dass Situationen ausagiert werden können, in denen Ichfremdes, negierte Persönlichkeitsanteile zugelassen sind. Widersprüche von Figuren können theatralisiert werden: zentral der Widerspruch Ruggieros, der zwischen diesen beiden Frauen steht. Die Metapher der Magie, die dazu dient, die zeitgenössische Zensur zu unterlaufen, ermöglicht zugleich, extreme emotionale Situationen und Erfahrungen ohne jeden Zwang zur Plausibilität formulierbar zu machen. Durch die theatralische Behauptung von Alcinas magischem Universum entgleiten die Figuren permanent sich selbst, ihrem eigenen Bewusstsein.

Viebrock: Es geht ja alles viel schneller, viel direkter, viel heftiger und unvermittelter als im psychologisch-realistischen Theater. Hier passiert während eines Theaterabends, was sonst in mehreren Menschenleben passiert.

Morabito: Die Beobachtung von einer teilweise verwirrenden Vielfalt und Vielgestaltigkeit einerseits, von einer starken, bezwingenden Stringenz andererseits scheint mir für die musikalische und szenische Dramaturgie dieser Oper insgesamt kennzeichnend. Herr Hacker, Sie haben darauf hingewiesen, dass Händel sich in Alcina von Arie zu Arie verschiedener musikalischer Idiome und Nationalstile bedient und trotzdem unverwechselbar bleibt. In der Musikwissenschaft wird dagegen die musikalische Dramaturgie der Barock-Oper und damit auch die Werke Händels oft auf eine Art >Patchwork< reduziert.

Hacker: Gewiss, aber auch Mozarts Werke ließen sich dann als Patchwork bezeichnen. Er bedient sich beispielsweise des italienischen Stils oder der Stile von Jomelli, C. Ph. E. Bach und nicht zuletzt von Händel. Der Hauptunterschied zwischen Mozart und Händel liegt darin, dass bei Mozart meist das Sonaten-Prinzip vorliegt, das Händel noch nicht zur Verfügung stand. In den Fünfziger und Sechziger Jahren unseres Jahrhunderts fand nur der Oratorienkomponist Händel, nicht der Opernkomponist Händel Beachtung. Damals stand neben Mozart, Brahms und Wagner vor allem Beethoven im Mittelpunkt. Der Grund dafür war, dass der Entwicklungs- und Durchführungsgedanke der Sonaten-Form sich mit dem modernen Verständnis psychologischer Prozesse parallelisieren ließ. Ihre Abwesenheit bei Händel wurde als Mangel empfunden.

Morabito: In der Barock-Oper dominiert dagegen die Da capo-Form. Können wir heute einen neuen Umgang mit dieser angeblich mechanischen, undramatischen und statischen Form finden?

Hacker: Ich denke, es ist falsch und naiv von uns anzunehmen, dass eine Da capo-Arie langweilig sei. Das rührt von dem Verdikt Glucks über die Da capo-Arie her. Händel hat die A-B-A-Struktur sicherlich nicht als Einschränkung empfunden. Er war in der Lage, das Formschema unendlich zu variieren und auszudifferenzieren. Unter seinen Händen wurde es zu einem äußerst flexiblen Medium, das allen dramatischen Situationen gerecht werden konnte. Es ist überhaupt ungenau und irreführend, von einer Da capo-Arie zu sprechen, wenn man nicht hinzufügt, dass Händel keine einzige Arie geschrieben hat, die das Formschema mechanisch reproduziert. Nicht zuletzt aufgrund dieser Vorurteile hatte man früher Schwierigkeiten, mit dem Da capo auf dem Theater umzugehen, aber ein Theatermann wie Jossi Wieler bezieht seine szenische Phantasie gerade aus dem Umgang mit dieser Form.

Wieler: Durch die szenische Ausarbeitung kann diese Form nicht nur als statische Situation, sondern auch als Entwicklung verstanden werden. Man sollte sie nicht auf die abstrakte Struktur reduzieren, sondern eher als szenisch-emotionalen Prozess begreifen, der nicht nur den jeweils singenden, sondern alle involvierten Charaktere erfasst. Das ist es, was wir bei der Arbeit entdecken. Das Anhören einer CD-Aufnahme trügt: Wir sind in Alcina nicht mit einer langen Kette von Rezitativen und Solo-Arien konfrontiert, sondern mit einer Fülle von szenischen Duetten, Terzetten, Quartetten usw. − wobei das Gefalle der Tonlagen und Emotionen von Arie zu Arie schier atemberaubend ist. In der ersten Arie der Bradamante (Nr. 10) erfahren wir viel über die Beziehung von Alcinas Schwester Morgana und ihrem Verlobten Oronte. Das folgende Rezitativ zwischen den beiden bedeutet dann keinen Spannungsabfall, sondern in ihm versuchen die beiden mit dem umzugehen, was in der Arie passiert ist.

Morabito: Dies ist nicht die einzige Arie, in der einer oder mehrere Partner vom jeweils Singenden direkt angesprochen werden. Auch wenn sie nicht selbst mitsingen, sind sie doch mitkomponiert, wenn auch nicht im psychologischen Sinne. Die Arien sind wie Prismen, in denen sich immer mehrere Blicke, Gesten und Haltungen reflektieren: Ein und dasselbe musikalische Material lässt − nacheinander oder gleichzeitig − verschiedene Lesarten zu. Aber auch ein und dieselbe Figur kann −etwa durch einen kontrastierenden B-Teil − im Da capo in eine neue situativ-emotionale Dimension vorstoßen.
Erstaunlich ist es, wie extrem sich die Präsenz einer Figur primär über die Szene herzustellen Vermag: Ich denke beispielsweise an Bradamante. Sie ist von ihrem Verlobten Ruggiero verlassen worden und tritt zu Beginn des Stückes auf der Suche nach ihm auf: In Männerkleidung gibt sie sich für ihren Zwillingsbruder Ricciardo aus und dringt so in Alcinas Reich. Obwohl sie „nur“ drei Arien zu singen hat − die Protagonisten Alcina und Ruggiero singen je sechs! − zeigt sich, dass sie bei den ändern permanent Arien provoziert − und genau darüber stellt sich ihre überwältigende Präsenz her! Ihre subversive, destabilisierende Strategie setzt bei den ändern heftige, teilweise unkontrollierbare Energien frei, die sich dann auch gegen sie selbst richten. Gerade ihr Inkognito, ihre Lust an der Maskierung − die sich in der musikalischen Spiegelung im Blick des ändern realisiert − macht sie zu einer unglaublich faszinierenden und anziehenden Figur. Nicht nur für uns übrigens, sondern auch für Alcinas jüngere Schwester Morgana, die sich prompt in sie verliebt...

Wieler: Bradamante wird dadurch zu einer wirklichen Gegenspielerin Alcinas: Gegen Alcinas Verzauberung setzt sie die Strategie der Verkleidung.

Morabito: Wir haben verhältnismäßig zurückhaltend zu streichen versucht. Mich freut, dass drei Striche in den Proben »von selbst« wieder aufgegangen sind: Wir haben bemerkt, dass die Szene das Da capo braucht!

Viebrock: Die Form A-B-A ist doch eigentlich dialektisch: Wenn man A nach B wiederholt, wird es doch zu etwas ganz anderem.

Morabito: Unsere Beschäftigung mit Händel erinnert mich in einem Punkt an unsere Inszenierung von Rossinis Italienerin in Algier. Auch bei Alcina handelt es sich um eine höchst artifizielle Opernform mit einem zunächst fast rituell erscheinenden Stilisierungsgrad. Doch es ist wie bei einem Teppich: Von einer gewissen Distanz aus betrachtet sieht man nur das Muster und die Ornamentik; je näher man herantritt, desto mehr bemerkt man, dass sich die Arabesken aus unendlich vielen figürlichen Darstellungen, aus ganz konkreten Geschichten zusammensetzen.

Hacker: Die Arien stellen große emotionale Reisen dar. Das ist für mich das Aufregende an unserer Entdeckung Handels. Und das betrifft nicht nur die einzelnen Arien, sondern auch die Gesamtstruktur. Eines ihrer Geheimnisse ist etwa die subkutane Präsenz eines durchgehenden metrischen Pulses in der Partitur, der die einzelnen Nummern miteinander verbindet und − oft über große Abstände hinweg − zueinander in Beziehung setzt. So schwingt der Rhythmus von Morganas erster Arie (Nr. 1) im folgenden Chorsatz bei Alcinas Erscheinen (Nr. 2) weiter, und auch Morganas zweite Arie (Nr. 14) ist wieder auf diesen Puls bezogen. Diese Verhältnisse müssen dem Komponisten übrigens gar nicht bewusst gewesen sein, sondern haben wahrscheinlich mehr mit einem inneren Rhythmus zu tun. Bei meiner Vorbereitung versuche ich nie, metrische Verhältnisse sklavisch aufeinander abzustimmen, sondern ich entdecke die Relationen erst im Nachhinein. Händel ist zudem einer jener Komponisten, die in der Lage waren, für die menschliche Stimme zu denken und zu schreiben. Die musikalische Faszination einer Arie erschließt sich oft nicht auf dem Papier, sondern erst, wenn sie gesungen wird. Dieses sinnliche Verhältnis zur menschlichen Stimme unterscheidet Händel von Bach und ist die zentrale Kraft seines Schaffens. Und Händel war ein Mann des Theaters, er hat 30 Jahre seines Lebens dem Theater gewidmet. Wir wissen wenig, eigentlich nichts über das Gefühlsleben dieses Mannes, der uns in seiner Musik so tiefe Einblicke in seine Gestalten gibt, dass wir uns immer wieder an Shakespeare gemahnt fühlen.

Wieler: Ich glaube, Händel war nicht nur ein Theatermacher, sondern auch ein Mann mit viel Lebenserfahrung: Er arbeitete in Halle, Hamburg, Venedig, Florenz, Rom, Hannover und London. Auch wenn wir nicht viel über ihn wissen: Händel muss unglaublich intensiv gelebt haben. Mir fällt auf, dass seine Rezitative und Arien voller Leben und Wahrheit sind jenseits jeder aufgesetzten, falschen Theatralik.

Hacker: Anna, Sie haben bei Ihrem Bühnenentwurf das barocke Verhältnis von Orchester und Bühne berücksichtigt...

Viebrock: Wir haben uns natürlich Darstellungen damaliger Aufführungen angesehen. Da bei uns die Chorsätze des Stückes vom Solistenensemble gesungen werden, ist nicht so viel Platz von Nöten. Diese Intimität war uns wichtig. Warum sollte man die Bühne dann nicht auch nahe an das Publikum heranbringen? Die relativ kleine, podestartig erhöhte Bühne und der − nach barockem Vorbild − hochgefahrene Orchestergraben bilden auf diese Weise eine Einheit.

Morabito: Annas Bühne bedient nicht die Regie sondern will von ihr und den Darstellern erobert werden. Das setzt große kreative Energien frei. Sie ermöglicht und provoziert eine fast filmische close-up-Technik. Durch das Ausgestelltsein der Darsteller − nicht zuletzt auch durch die Thematisierung der Körper durch die Kostüme − entstehen eindringliche, leidenschaftliche „Nahaufnahmen“. Es war richtig, dieses Risiko einzugehen, denn es zeigt sich, wie aufregend diese Geschichte wird, wenn sie durch eine sensible und differenzierte Personenführung zur Darstellung gelangt.

Viebrock: Wir wollten kein barockes Maschinentheater imitieren. Die heutige Aufgabe des Theaters sind nicht die special effects. Das ist Aufgabe des Films. Im Grunde folgen wir mit dieser Entscheidung Händel, der das Zauberreich auch nicht mit kompositorischen Show-Effekten illustriert, sondern die subjektiven Zustände fokussiert.

Hacker: Die Entscheidung für einen einheitlichen Grundraum reagiert auch auf die musikalische Dramaturgie dieser Oper: Man muss wissen, dass in der barocken Kulissenbühne szenische Verwandlungen eine Frage von Sekunden waren und es zwischen den einzelnen Szenen oder Akten keine Zwischenvorhänge gab. Das heißt, auch wenn zwei musikalische Nummern durch einen Szenenwechsel voneinander getrennt sind, darf es keine längere Umbauzeit geben, weil sonst die intendierte musikalische Kontrastwirkung verloren geht.

Morabito: Dieser abgeschottete Raum hat natürlich mit der Behauptung „Insel“ zu tun. Eine Insel ist etwas, das sich von seiner Umgebung abspaltet. Um das Stück zu verstehen, ist es wichtig, sich zu fragen, was jenseits dieser Insel ist. Was macht diesen Ort zu einer Insel?

Wieler: Um diese Insel herum herrscht Krieg...

Viebrock: ... vor dem sich die Menschen dieses Stückes in eine Art von Salon, Boudoir oder Bunker zurückgezogen haben, den sie zu einer Gegenwelt ausbauen, in der sie ihre Wünsche und Sehnsüchte zu leben versuchen.

Morabito: Die Oper hat kein befriedigendes Ende. Man sieht, dass die wunderbare Liebesbeziehung zwischen Alcina und Ruggiero zerstört ist, dass Bradamante um diesen Mann gekämpft hat, aber auch sie ihn am Ende verlieren wird: Alle wissen, dass Ruggiero vom Schicksal bestimmt ist, im Krieg jung zu sterben.

Wieler: Genau an dieses Wissen, das von allen ändern verdrängt wird, versucht Alcina im Terzett des dritten Aktes zu erinnern. Aber sie wird mundtot gemacht.

Morabito: Auf eine gewisse Weise ist die Geschichte Ruggieros die eines Deserteurs. Er floh vor dem Krieg und der heroischen Bestimmung, jung zu sterben. Am Ende hat ihn beides eingeholt. Es gibt keine Genugtuung darüber, dass Ruggiero die Insel verlässt.

Hacker: In der berühmtesten Arie dieser Oper, »Verdi prati« (Nr. 25), ist genau dies ausgedrückt: Ruggieros Trauer über den Verlust von Alcinas Schönheit...

Wieler: Es ist nicht sinnvoll, die Geschichte aus nur einer Perspektive, etwa aus der Sicht Alcinas oder der Ruggieros, zu erzählen, oder dem Zuschauer eine eindeutige, ordentliche und überschaubare Sicht mit klaren Wertungen anzubieten. In Alcina gibt es keine objektive Wahrheit. Das macht die Sache so interessant.