Gastbeitrag von Viktor Schoner in der Süddeutschen Zeitung

Raus aus Oberjammergau

Nach mühsamen Corona-Monaten wird endlich wieder gespielt. Aber soll die Oper zurück zur Normalität? Lieber nicht. Ein Gastbeitrag von Intendant Viktor Schoner in der Süddeutschen Zeitung, erschienen am 21. September 2021.
Es geht wieder los, endlich. Nach zwei zähen Corona-Spielzeiten blicken Publikum und Künstler hoffnungsfroh auf die neue Saison. „Der Lappen muss hoch“ ist das alles verbindende Moment einer Branche, die auf die Bretter, die die Welt bedeuten, gehört. Was aber ist passiert in der Zwischenzeit?

Überraschend viel. Erstens haben sich Dinge herauskristallisiert, die natürlich unbedingt wieder so werden sollten, wie sie vor Beginn der Pandemie waren. Zweitens Dinge, die auf keinen Fall wieder so werden sollten wie zuvor. Und drittens Dinge, die unbedingt so bleiben sollten, wie sie während der Pandemie entstanden sind. Das gilt vermutlich für die Gesellschaft als Ganzes, aber auch für die Bühnen im Besonderen.

Was gern so bleiben sollte: Die Substitute, die überall im Land für die Bühnenkunst entstanden sind, als kein Publikum kommen durfte. Bei uns in Stuttgart etwa: 1:1-Konzerte, bei denen sich jeweils ein Musiker und ein Gast ganz persönlich begegneten, solidarische Aktionen für Freischaffende, Oper im Autokino – und natürlich die ganze Bandbreite eines digitalen Programms. Das fand statt, während in den großen Tankern gleichzeitig die Produktion der Repertoire-relevanten Premieren weiterging – die zum Teil bisher nicht stattfanden.
Das Gefühl, dass wir in kürzester Zeit so viel umkrempeln und neu schaffen können, dass wir in Verbindung bleiben können mit unserem Publikum: Das sollten wir uns erhalten.
Natürlich waren das aus der Not geboreneInitiativen, aber sie zwangen uns auch in eine Selbstreflexion: Was ist Oper eigentlich? Wie live kann oder muss digital sein? Und wie können wir anders arbeiten?An manchen Opernhäusern entwickelte sich eine Energie, wie sie schon lange nicht mehr gesehen wurde. Das Gefühl, dass wir in kürzester Zeit so viel umkrempeln und neu schaffen können, dass wir in Verbindung bleiben können mit unserem Publikum: Das sollten wir uns erhalten.

Um zu verstehen, was da noch so los war, muss man auch hinter die Kulissen, genauer, unter die Teppiche schauen. Denn in den Schließzeiten wagten die Theaterschaffenden einen Blick genau dorthin, wo – so stellte sich heraus –viel gekehrt worden war. Da kam Einiges zutage. Wieder mal behandelt das Theater stellvertretend Themen, die gesamtgesellschaftlich virulent sind, wenn auch diesmal nicht auf der Bühne.

Da wäre zum Beispiel der komplexe Sachverhalt Machtmissbrauch – der sexualisierte und auch der nicht sexualisierte. Wir haben gelernt: Fehlverhalten wird nicht mehr geduldet – und das ist sehr gut so. Wir haben auch gelernt: die „Fälle“ wurden erst wirklich angegangen, als publizistisch Krach geschlagen wurde. Arbeiten wir also alle daran, dass bereits bestehende Warnsysteme innerhalb unserer Institutionen besser funktionieren und juristische Instanzen genügend Zeit bekommen, bevor vereinfachende Schlussfolgerungen getroffen werden.

Gleichzeitig sollten wir zum Thema Machmissbrauch keine pauschalisierende Strukturdebatte führen. Gerne wird ja darauf verwiesen, dass das große Machtgefälle in den Häusern das Problem sei, dass die Verteilung von Entscheidungskompetenz die einfache Lösung des Problems wäre. Nun, in der Oper wird das seit gut 400 Jahren in verschiedensten Ausprägungen praktiziert: Die großen Kollektive Chor und Orchester suchen traditionell ihre zukünftigen Kollegen nahezu in Eigenregie aus (der Chefdirigent hat in manchen Institutionen allenfalls eine Stimme). Es sind nicht neue Strukturen, die ein humanes Theater ermöglichen oder verunmöglichen, sondern es sind Menschen, die es eben human oder inhuman zugehen lassen.
Wir brauchen Genie ohne Wahnsinn.

Welchen Künstlerinnen und Künstlern, die ebenso (sozial-)kompetent wie künstlerisch genial sind, bieten wir also unsere Institutionen als künstlerische Heimat an? Und wie verführen wir die Politik gleichermaßen (sozial-)kompetent und visionär, die Rahmenbedingungen zu schaffen? Wir brauchen Genie ohne Wahnsinn.
Die Frage von Repräsentation einer diversen Gesellschaft war die andere große Debatte. Sie stellt sich nicht nur bei Besetzungsfragen, zum Beispiel wer und wie den Othello spielt, sondern wirft auch Schlaglichter auf das Urheberrecht, wenn etwa Andrew Lloyd Webber verbietet, dass Judas in seinem „Jesus Christ Superstar“ von einer Frau dargestellt wird. Darüber hinaus stellt sie sich natürlich auch bei allen Mitarbeitenden des größten Mehrspartentheaters der Welt, bei uns in Stuttgart. Wir würden lügen, wenn wir behaupteten, unsere Staatsopern-Ensembles seien nachhaltig diversifiziert – auf und hinter der Bühne, in der Verwaltung. Es ist höchste Zeit, das Thema offensiver anzugehen. Ein langwieriger Prozess – die freie Szene im Theater und im Tanz sowie die zeitgenössische bildende Kunst müssen uns hier dringend Vorbild sein.

Zum Thema Digitalisierung konnten wir alle selbst unter dem Teppich nicht viel finden. Natürlich gehören regelmäßige Livestreams zum guten Ton eines jeden Opernhauses. Aber nun war auch unser analoges Publikum gezwungen, sich mit diesem Medium auseinanderzusetzen. Eine Erfolgsstory: Unser digitaler Opernball war mit bewusst eingeschränkten 1404 möglichen Teilnehmern (das ist die Platzkapazität des Opernhauses Stuttgarts) in Windeseile ausverkauft. Das Projekt „Jesus Christ Superstar“, das wir in Zusammenarbeit mit Computerspiel-Profis unter dem Titel „Glaube Liebe Hoffnung“ ins Netz verlegten, führte nicht selten zur Überforderung der Grafikkarten unseres Stammpublikums.
Hatten wir diese künstlerischen Berufe nicht eben genau deswegen ergriffen, weil wir Systeme hinterfragen und zur Not aushebeln wollten, um genau deswegen relevant zu sein? Relevant für Menschen, aber nie relevant für ein System.
Bleibt die Frage der Relevanz. Wie aktuell, situationsbezogen, wichtig waren die Stoffe auf deutschen Bühnen nach der ersten Schließzeit? Theater als tagespolitische Kommentieranstalt hat noch nie funktioniert. Erwartungen zu erfüllen nach unmittelbaren Reaktionen der Bühnenkunst auf einen Virus und Lockdown-Erfahrungen sind nicht unsere Aufgabe. Eine Einordnungen unseres Menschseins mit diesen Erfahrungen jedoch – intellektuell, historisch, sinnlich – ist es durchaus und die wird es die nächsten Jahre sicherlich geben – die Belletristik bereitet ja bereits den Weg. Vollmundig hatten viele Künstlerinnen und Künstler von der eigenen Systemrelevanz gesprochen, es war gejammert und geklagt worden. Wenn es um Respekt für unsere Arbeit und Existenzen ging, völlig zurecht. Aber hatten wir diese künstlerischen Berufe nicht eben genau deswegen ergriffen, weil wir Systeme hinterfragen und zur Not aushebeln wollten, um genau deswegen relevant zu sein? Relevant für Menschen, aber nie relevant für ein System.

Und teilen wir nicht gerade jetzt die Sehnsucht, alles Schmerzhafte, alles Fabelhafte, alles Unverständliche, alles Große und alles Kleine, alles Traumhafte und Albtraumhafte, das wir während dieser Pandemie erlebt haben, gemeinsam zu verdauen? Gut, dass er wieder anläuft, dieser alte und immer wieder neue, verrückte und so wunderschöne Tanker, das Kraftwerk der Gefühle: die Oper.

Viktor Schoner ist Intendant der Staatsoper Stuttgart
© Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content
Foto: Julia Sang Nguyen