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24.10.2024 Wie klingen Gravitationsfelder?
Wie klingen Gravitationsfelder?
Der diesjährige „Composer in Focus“ des Staatsorchesters Stuttgart heißt Mischa Tangian, und gemeinsam mit seinem Babylon ORCHESTRA werden wir am 27. Oktober sein neuestes Werk „the order of time“ uraufführen. Das Stück reflektiert, wie die Phänomene der Kernspaltung in Musik übertragbar sind. Konzertdramaturg Otto Hagedorn hat sich mit dem Komponisten zum Gespräch verabredet.
Worauf geht der Titel Ihrer Komposition, the order of time, zurück?
Für mein Stück gab es zwei wesentliche Inspirationsquellen: zum einen das Buch Die Ordnung der Zeit des Physikers Carlo Rovelli, zum anderen Christopher Nolans Film Oppenheimer. Die Biografie dieses „Vaters der Atombombe“ bildet einen Hintergrund meiner Komposition; konkret habe ich mich aber stärker der Kernspaltung und -fusion gewidmet. Mich hat vor allem interessiert, wie diese Phänomene auf Strukturen in der Musik übertragbar sind.
Auch den fünf Einzelsätzen haben Sie Titel gegeben. Im ersten geht es um den Atomkern von Uran 238.
Die Zahl gibt die Anzahl der Neutronen und Protonen in einem Isotop, also einer Variante des Uran-Atomkerns an. Die Zahl der Protonen – der positiv geladenen Teilchen – ist bei allen Isotopen gleich. Diejenige der Neutronen – also der Teilchen, die keine elektrische Spannung aufweisen – kann aber unterschiedlich sein. Um den Kern kreisen die Elektronen. Meine Musikalisierung dieses Kreisens basiert auf indischen Rhythmen. Da ich in diesem Satz von einem stabilen Uran-Kern ausgegangen bin, ist die Musik relativ statisch. Es gibt eine ostinato-ähnliche Figur, die sich in mehreren Zyklen wiederholt – quasi wie Elektronen, die mit unterschiedlicher Intensität mal hier hin, mal dort hin schießen.
Grains of Matter bezieht sich auf die kleinsten Teilchen der Materie?
Außerdem geht es um Gravitationsfelder?
Außerdem geht es um Gravitationsfelder?
Mittlerweile weiß man ja, dass es noch kleinere Teilchen gibt als die Atome, nämlich die Quarks. Aus der Quarks-Beschaffenheit von spezifischen Neutronen und Protonen habe ich einen Rhythmus entwickelt: einen Dreier-Rhythmus, der wie beim Urknall als tiefes Brummen quasi in einer dunklen Masse startet. Mit der Zeit entsteht ein Motiv aus drei Tönen, das sich im Verlauf des Satzes beschleunigt und zu Fanfaren und Melodien wird. Der zweite Satz ist der „Hauptsatz“ meines Werks.
Inwiefern behandelt der dritte Satz Newtons Tod? Und was hat es mit dem Untertitel Zeitlosigkeit – eine Relativitätstheorie auf sich?
Hier beruhigen sich die Prozesse. Die Zeit verläuft sehr langsam, fast zeitlos. Wissenschaftlicher Hintergrund ist die Erkenntnis, dass die Zeit nicht, wie Newton angenommen hat, konstant verläuft, sondern flexibel – was durch Einsteins Relativitätstheorie festgestellt wurde. Inhaltlich ist es eine Trauerode, was sich auch auf die negativen Auswirkungen von Nuklearenergie bezieht. Die Melancholie wird unter anderem durch den Einsatz einer persischen Tonskala vermittelt, bei der die zweiten Stufe mikrotonal erhöht ist.
Im vierten Satz machen Sie eine Kettenreaktion hörbar?
Richtig – es geht hier um die Kernspaltung. Der Satz wird allein von den Musiker*innen des Babylon ORCHESTRA gespielt und ist ein perkussiver „Showdown“. Dem Uran-Isotop 238 wird ein Neutron hinzugefügt, wodurch es hörbar destabilisiert wird.
Und im fünften Satz geht es um Wellenreste und Strahlung?
Ich habe versucht, die Folgen der Nuklearenergie zu verklanglichen. Sie sind nicht sichtbar, haben aber große Auswirkungen. Ein fester Rhythmus symbolisiert die radioaktiven Wellen, und darüber entfalten sich freiere Verläufe. Die Streicher*innen geben Impulse wie ein Lufthauch. Mich interessieren in diesem Satz vor allem die leichten Abweichungen vom Grundpuls, was sich wieder auf die Nichtnewton’sche Zeit bezieht, die auch im Haupttitel des Werks, the order of time, mitschwingt.
Foto: Anton Tal