Die Winterreise - ein Trip

Mit seiner komponierten Interpretation „Schuberts ‚Winterreise‘“ von 1993 wagte Hans Zender, das romantische Meisterwerk der Gattung Lied aus seinen bürgerlichen Riten von Frack und Förmlichkeit zu befreien. Er wollte die Dramatik und den Schrecken dieser Musik wieder unmittelbar erfahrbar machen und für die Hörkultur der jungen Neunzigerjahre aktualisieren. Der Klavierpart ist auf ein 24-köpfiges Orchester übertragen, das sich teilweise durch den Raum bewegt und damit den gewohnten Darbietungsrahmen sprengt. In seiner Inszenierung von Zenders „Winterreise“ treibt der Videokünstler Aernout Mik die Erweiterung des Raumes noch weiter und untersucht, wie die musikalische Idee Zenders durch eine visuelle Handschrift für unsere Zeit erfahrbar zu machen ist. Kammersänger Matthias Klink taucht in die Figur des Wanderers ein. Während der Vorbereitungen haben wir uns zum Gespräch getroffen.
MATTHIAS KLINK IM GESPRÄCH MIT JULIA SCHMITT UND BARBARA ECKLE

JS     Matthias, du beschäftigst dich in diesem Jahr zum ersten Mal in deiner Karriere mit der Winterreise, demnächst mit dem Original von Franz Schubert in deiner Heimatstadt Fellbach und im März mit Hans Zenders „komponierter Interpretation“ Schuberts „Winterreise“ von 1993. Braucht es eine gewisse Lebenserfahrung, um diesen Liederzyklus zu interpretieren?

MK     Ursprünglich hat Schubert diese Lieder für hohe Lage komponiert, während meiner Studienzeit in den Neunzigerjahren ordnete man die Winterreise jedoch in der Tradition von Fischer-Dieskau als Bariton-Zyklus ein. Daher war ich damals überzeugt, dass meine jugendliche lyrische Tenorstimme, die sich für Die schöne Müllerin gut eignete, sich für die Winterreise erst noch setzen muss. Außerdem liegt mein Schwerpunkt doch insgesamt mehr in der Oper.

BE     Hans Zender hat den Gesangspart in seiner Interpretation der Winterreise ganz unberührt gelassen und die Klavierbegleitung ins Orchester projiziert, sie dabei auch stark verändert, verzerrt, mit Geräuschen und Farben versetzt, die sich vom Original zum Teil sehr weit entfernen. Spielt es für dich bei der Einstudierung eine Rolle, dass du es mit einer „komponierten Interpretation“ zu tun hast und nicht mit dem Original?

MK     Auf jeden Fall. Alles, was im Orchester zu hören ist, wird unsere szenische Darstellung ausmachen und ausschlaggebend sein, daraus einen Theaterabend kreieren zu können. Wie wandeln wir die Klänge, die aus dem Orchester kommen, in etwas Gegenständliches, Bildliches, Sinnfälliges um? Um die Idee nicht entgleiten zu lassen, müssen wir eine feine. Balance finden: nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig interpretieren. Aus meiner Sicht geht es Zender auch sehr stark um Ausdrucksebenen, um Variationen des Klangs.

JS     Zender hat das Stück eigentlich konzertant konzipiert. Wir bringen es szenisch mit dem Videokünstler Aernout Mik auf die Bühne. Wo witterst du das Potential der Bühne für diese Interpretation?

MK     In der Körperlichkeit, ganz klar. Wir müssen heraustreten aus dem Korsett, das das Werk von Schubert trägt und nach Möglichkeiten suchen, für das heutige Publikum eine Sogwirkung zu erzeugen. Darin liegt der große Reiz dieses Stücks, dem wir in der Konstellation mit einem Videokünstler sicher auf die Spur kommen werden.

BE     Zender wollte das, was in der musikalischen Substanz von Schuberts Winterreise vorhanden ist, uns heute aber vielleicht nicht mehr erreicht, wieder erlebbar machen. Er hoffte, diese Unmittelbarkeit zu rekonstruieren, die 1827 beim intimen Liederabend im bürgerlichen Wohnzimmer noch empfunden wurde, für uns aber im Laufe der Zeit zu einem edlen Kulturgut der Romantik geworden ist. Denkst du, dass heute, also 27 Jahre nach der Uraufführung von Zenders Version, eine neue Unmittelbarkeit durch das Visualisieren und Verkörperlichen möglich oder auch nötig ist?
MK     Das von Zender beschriebene Klischeebild „zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal“ ist heute genau so obsolet und wird in dieser Produktion ein weiteres Mal hinterfragt. Um diese Intimität von damals wiederherzustellen, reflektierte Zender 1993 die Hörgewohnheiten eines zeitgenössischen Publikums und reagierte darauf in seiner Instrumentierung. In diesem Kontext müssen wir auch heute, 2020, wieder entsprechende Fallhöhen generieren.

JS     Intimität spielt hier ja auch für Aernout Mik eine große Rolle. Er plant, Videofilmer auf der Bühne agieren zu lassen, die deinen Körper teilweise live in Bildern auflösen. Welche Bedeutung misst du dem Körper als Instrument des Opernsängers zu?

MK     Ich arbeite ausschließlich über die Körperlichkeit. Ich versuche mich von dem reinen Singen zu lösen und über einen körperlichen Zustand die Geschichte einer Figur zu erzählen. Der Körper ist unser Werkzeug, zur Jetztzeit. Aus diesem Blickwinkel gesehen kommt mir Aernouts Ansatz sehr entgegen.

BE     In der Winterreise steht diese Wanderer-Figur, dieses Ich im Zentrum. Wer steckt hinter diesem Ich? Hast du dazu schon einen Schlüssel gefunden?

MK     Nein, zurzeit noch nicht. Müller und Schubert muten uns ziemlich viel zu. Man muss in jedem Lied den Punkt finden, der am meisten wehtut – oder aber den Punkt, der den Schmerz auflöst. Schubert und Müller verfolgen diese Suche konsequent, bis zum Schluss. Für uns ist es eine Frage der Dosierung, und die können wir nur mit der Intuition steuern. Während der Probenzeit werden wir uns Lied für Lied zu diesem Ich vorarbeiten. Faktisch bin ich zudem nicht alleine auf der Bühne. Es gibt zum einen die Musikerinnen und Musiker, die sich bewegen und auch als Körper wahrnehmbar werden, zum anderen gibt es das Publikum, in das wir mit dem Bühnenaufbau förmlich hineingebaut sind. Gleichzeitig spielen wir mit der unglaublichen Tiefe der Bühne. Es wird ein Trip.

JS     Du hast im Januar mit Cornelius Meister am Klavier einen Liederabend gegeben und Schuberts Schöne Müllerin gesungen – also genau die Situation: „zwei Herren im Frack, Steinway“ etc. Sollte man auch Die schöne Müllerin aktualisieren? Oder sind die zwei Zyklen dahingehend nicht vergleichbar?

MK     Die Zendersche Idee der „komponierten Interpretation“ wäre natürlich auch mit der Schönen Müllerin möglich gewesen, die Schubert ja nur ein paar Jahre vor der Winterreise komponiert hat. Es wäre sicher einfacher zu erzählen, denn es gibt hier einen echten Plot. Genau diese Hilfe haben wir in der Winterreise nicht. Das ist der Unterschied. Da steht eine erste Strophe, die eigentlich schon alles erzählt: Der Wanderer spricht vom Mädchen, von Schnee, Kälte und Eis. Der Rest ist Verarbeitung, Erinnerung, Rückreisen, Kreisen. Erlösung kann nur der Tod sein. Im Lied Mut kurz vor Schluss habe ich mir in die Partitur das Wort „Wahn“ notiert. Hier ist er bereits in einem jenseitigen Zustand angekommen. Aernout Mik legt den Fokus nicht auf das romantische Individuum, das losgelöst von der Welt sein Inneres in der Natur gespiegelt sieht, sondern auf das Individuum innerhalb einer heutigen Gesellschaft, in einem Zustand zwischen Schlaf, Trance und Tod. Nur für mich stellt sich dann natürlich die Frage: Wo ist die Figur tatsächlich aktiv? Ist es eine tatsächliche Reise? Eine aktive Handlung? Oder passiert uns diese Winterreise einfach?
Bin gewohnt das irre Gehen,
’s führt ja jeder Weg zum Ziel:
Unsre Freuden, unsre Leiden,
Alles eines Irrlichts Spiel!
Wilhelm Müller Irrlicht


Das Interview ist bereits in der Staatsopern-Zeitung am 18. Januar erschienen.

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