40 Jahre mit dem Staatsorchester Stuttgart

Mit der konzertanten Aufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ verabschiedet sich der Konzertmeister Wolf-Dieter Streicher nach 40 Jahren vom Staatsorchester Stuttgart. Im Interview mit der Konzertdramaturgin Claudia Jahn spricht er über seine Anfänge in Stuttgart, die schönsten Erlebnisse und seine Pläne für den Ruhestand.
Bereits mit 10 Jahren haben Sie Ihr Studium an der Musikhochschule Ihrer Heimatstadt Wien begonnen und als 17-Jähriger bei den Wiener Philharmonikern ausgeholfen. Wenige Jahre später führte Sie Ihr Weg nach Stuttgart, wo Sie erst beim Kammerorchester und ab 1980 an der Staatsoper als Konzertmeister tätig waren. Wie sind Sie zur Violine gekommen?
Meinen ersten Violinunterricht erhielt ich im Alter von 5 Jahren bei meinem Vater, dem bekannten Kontrabass-Solisten Ludwig Streicher. Durch ihn war mein beruflicher Weg stark vorbestimmt, doch es war stets auch meine Entscheidung, diesen Weg zu gehen. Das stundenlange Üben gehörte einfach dazu. Mir war schon früh klar, dass ich Konzertmeister werden möchte, da mich der direkte Kontakt und der künstlerische Austausch mit den Dirigenten immer gereizt haben. Als Konzertmeister hat man zugleich eine Vermittlerfunktion zwischen dem musikalischen Leiter und den Orchestermitgliedern – eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.

Wie waren Ihre Anfänge als Konzertmeister an der Staatsoper Stuttgart?
Sehr aufregend. Mit meinen 23 Jahren hatte ich kaum Opernerfahrung und musste an vielen Abenden ins kalte Wasser springen. Werke wie Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ und Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder auch das Ballett „Romeo und Julia“ von Sergej Prokofjew wurden ohne Probe aufgeführt, was heute kaum denkbar wäre. Zum Glück konnte ich gut vom Blatt spielen. Besonders herausfordernd war auch die Aufführung von Wagners „Götterdämmerung“ nach nur drei Proben. Auch wenn man es mir nicht direkt angesehen hat, war ich immer ein nervöser Typ. Ich habe aber gelernt, mit der Aufregung umzugehen, indem ich mich vor jedem Dienst bestmöglich vorbereitet habe.

Was hat sich in den 40 Jahren im Staatsorchester verändert?
Die Qualität des Orchesters hat sich mit der verbesserten Ausbildung junger Musikerinnen und Musiker sehr gesteigert. Das höhere Spielniveau des Einzelnen überträgt sich auch auf den Gesamtklang. In meinen 40 Dienstjahren habe ich insgesamt 7 Generalmusikdirektoren erleben dürfen, mit denen wir zahlreiche spannende Projekte umgesetzt haben: von Dennis Russell Davies, mit dem ich zusammen angefangen habe, über Luis Navarro, Gabriele Ferro, Lothar Zagrosek, Manfred Honeck, Sylvain Cambreling bis zu Cornelius Meister. In all den Jahren habe ich immer die gute Mischung zwischen Oper, Ballett und Konzert sowie die stilistische Vielfalt des Repertoires von der Barockmusik bis zu Werken des 21. Jahrhunderts geschätzt. An einem Tag habe ich beispielsweise morgens eine Barockoper mit Barock-Bogen geprobt, abends eine Oper von Wagner aufgeführt und am nächsten Tag mit der E-Geige das Ballett „Salome“ gespielt.

Welche weiteren Projekte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Zu meinen schönsten Erlebnissen zählen die Konzerttourneen nach Südamerika oder Venedig. Damals war es für ein Opernorchester sehr ungewöhnlich, auf Reisen zu gehen. Als Konzertmeister hatte ich auch oft die Gelegenheit, solistisch aufzutreten. Die Sinfoniekonzerte in der Liederhalle, in denen ich die Violinkonzerte von Max Bruch, Wolfgang Amadeus Mozart und Camille Saint-Saëns gespielt habe, werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Ein ganz besonderer Moment war für mich auch der gemeinsame Auftritt mit meinem Vater Ludwig Streicher und dem „Grand Duo Concertante“ von Giovanni Bottesini.

Wie empfanden Sie die Atmosphäre im Kollegium des Staatsorchesters?
Die Arbeitsatmosphäre im Staatsorchester Stuttgart war immer sehr angenehm. Das haben auch die vielen Gastdirigenten bestätigen können. Gerade am Anfang habe ich viel Unterstützung durch die älteren Kollegen erhalten, die mich als jungen Konzertmeister nie haben auflaufen lassen. Es ist schön zu sehen, dass sich die unterstützende Haltung heute auf die jüngeren Kollegen überträgt.

Was haben Sie in den 40 Jahren Ihres Konzertmeisterdienstes gelernt?
Wenn ich heute eine Oper durchblättere, dann weiß ich schon nach wenigen Minuten, welche Stellen besonders geübt werden müssen und wo es in der Aufführung heikel werden kann. Diese Erfahrung wäre mir am Anfang sehr nützlich gewesen. Dafür fielen mir früher die spieltechnischen Herausforderungen leichter. Es war mir jedoch stets wichtig, mein Niveau zu halten, auch wenn es mit den Jahren immer mehr Arbeit bedeutete.

Werden Sie auch im Ruhestand Ihre Violine zur Hand nehmen?
Das tägliche Üben werde ich ehrlich gesagt nicht vermissen. Wenn man keinen Dienst hat, dann fehlen auch die Motivation und der Spaß am Üben. Ich werde lieber Radfahren, Wandern und mehr Zeit mit meinem Enkel verbringen. Gerne komme ich auch als Zuschauer in das eine oder andere Konzert des Staatsorchesters. Und vielleicht fange ich ja doch noch an, Saxophon zu lernen. Das Instrument hat mich schon immer fasziniert.

Was wünschen Sie dem Staatsorchester Stuttgart für die Zukunft?
Ich wünsche dem Staatsorchester und der Staatsoper Stuttgart, dass es wieder so weitergehen kann wie vor der Corona-Pandemie. Generalmusikdirektor Cornelius Meister und Opernintendant Viktor Schoner brachten gemeinsam eine außerordentliche Energie auf und entwickelten mit höchster Motivation neue Ideen und Projekte. Ich hoffe sehr, dass wir schnellstmöglich wieder zu einer Normalität im Kulturbetrieb zurückfinden können.