Wer ist wir?

„Wer ist wir?“ – diese Frage behält den pandemiebedingten Planänderungen der letzten Monate zum Trotz ihre Dringlichkeit für das Team der Staatsoper Stuttgart. Die Frage zielt dabei gar nicht so sehr darauf, eine einzige Antwort zu finden. Wenn überhaupt, geht es um viele Antworten. Um Gemeinsamkeiten. Um Unterschiede, die nicht trennen, sondern erweitern.

In seinem Essay Es gibt keine kulturelle Identität schreibt der Philosoph François Jullien: „Das Gemeinsame ist das, was geteilt wird. Im Gegensatz zum Gleichförmigen ist das Gemeinsame nicht das Gleichartige – eine besonders wichtige Unterscheidung in einer Zeit, in der wir versucht sind, das Gemeinsame auf das Ähnliche zu reduzieren.“ Die Frage nach dem Gemeinsamen hat sich im vergangenen Jahr in immer wieder neuer Art gestellt: Black Lives Matter in den USA und ein neuer Diskurs über Alltagsrassismus in Deutschland. Die Verfestigung von Gräben zwischen verschiedenen Wirs und ihrem Umgang mit „Realität“ und Fakten. Und die Feststellung, dass die Pandemie bereits bestehende Unterschiede und Ungerechtigkeiten verschlimmert.

Auch bzw. gerade in der Coronapandemie ist das Wir eine zentrale Kategorie, weil uns das Virus auffordert, Verantwortung zu übernehmen, auch für andere. Gesellschaft, Öffentlichkeit, Gemeinwohl – damit wollen wir uns weiterhin im Lockdown (und hoffentlich bald danach) beschäftigen. Unsere Kommunikationsformen – Arten, ohne leibliche Kopräsenz zu einem „Wir“ zu finden – haben sich dem Innovationsdruck der Pandemie angepasst. Auch wenn immer alles anders kommt als gedacht, versuchen wir in den kommenden Monaten, den Kontakt zu den Themen unserer Spielzeit in Online-Formaten zu halten.

Mit immer neuen Expert*innen zum Thema „Wer ist wir?“: Gästen aus der Forschung, local players aus Stuttgart und Umgebung und natürlich mit Ihnen, die wir herzlich zur Teilnahme und zum Mitdiskutieren einladen wollen. Dass das Leid der Anderen uns etwas angeht – auch und insbesondere als universelle Kategorie des Menschlichen – tritt in dieser Zeit in aller Deutlichkeit hervor.


29. März 2021
In der Karwoche 2021 geht es dieses Jahr im Zusammenhang des Parsifal-Streams und der anstehenden Premiere von J. S. Bachs Johannes-Passion um Fragen des geteilten Leids. Mit Pfarrerin Gabriele Ehrmann von der Stuttgarter Leonhardsgemeinde, die das jährlich stattfindende karitative Projekt „Vesperkirche“ leitet, und Prof. Holger Zaborowski von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt sprechen wir über Möglichkeiten, Dimensionen und Herkunft des Karitativen einer Gemeinschaft.

8. Juni 2021
In Kooperation mit dem Literaturhaus Stuttgart spricht Mithu Sanyal über ihr Romandebüt „Identitti“ und die Frage, wie wir das Thema der Zugehörigkeit wieder produktiv machen können. Mezzosopranistin Alexandra Urquiola singt am Klavier begleitet von Vlad Iftinca „Cinco canciones negras“ von Xavier Montsalvatge.
Die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal, 1971 in Düsseldorf geboren, begegnet heiklen Themen bevorzugt mit unvergleichlichem Humor ergänzend zur gnadenlos scharfen Analyse. Ihre 2009 veröffentlichte Dissertation „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ machte so bereits Furore und stieß einen breiten Diskurs an. Nun erzählt sie in ihrem Romandebüt „Identitti“ wie die Studentin Nivedita sich mitten in einem Skandal um ihre hochverehrte Dozentin Saraswati wiederfindet, deren Bluff auffliegt, als Deutsche eine indische Identität angenommen zu haben. Mithu Sanyal nimmt uns mit auf einen irre komischen (und notwendigen!) Parforceritt von „postkoloniale-Theorie-meets-real-life“, der es aber auch versteht, den Finger in die Wunde zu legen, wo die postmigrantische Gesellschaft Rassismus duldet.