Antigone-Tribunal

Neue Macht dem Chor

Der Chor der Bürger*innen
In der Uraufführungsproduktion von Leo Dicks „Antigone-Tribunal“ stehen neben den Sänger*innen der Staatsoper Stuttgart auch 19 Laien auf der Bühne: der Chor der Bürger*innen verkörpert das Volk von Theben – und ist doch viel mehr als das. Hanna Schlieder hat mit den Mitwirkenden gesprochen.
Es ist kein Stück, bei dem man sich gemütlich zurücklehnen könnte: Leo Dicks Oper Antigone-Tribunal, die vergangenen Samstag im JOiN ihre Uraufführung feierte, zwingt uns Zuschauer*innen bereits auf Grund ihrer drei verschiedenen Enden, den Rahmen der bloß passiven Rezeption zu verlassen – und selbst eine Wahl zu ergreifen. Ein Stück, das uns lehrt, die darin liegende Ungewissheit auszuhalten.
„Wir sind nur Schatten. Vor Euch breiten wir drei verschiedene Schicksale aus. Ihr habt die Wahl, auf eigene Gefahr müsst Ihr sie treffen. Niemand kann Euch dabei helfen, Ihr seid allein.“
aus dem Libretto
Aber von wem – sieht man mal von der inhaltlichen Finesse des dem Abend zugrunde liegenden Stücks des Philosophen Slavoj Žižek ab – werden wir Zuschauer*innen eigentlich aus unserer Comfort Zone geworfen? Wer fordert uns da eigentlich heraus? Welche Gestalt hat der personifizierte Störfaktor auf den Brettern, die die Welt bedeuten?

Schon zu Beginn der Vorstellung tritt uns der Chor der Büger*innen gegenüber. Eine Gruppe aus 19 Menschen, bunt durchmischt. Um diesen Chor wird es im Folgenden gehen. Denn es gibt mindestens drei Gründe, warum diese Menschen eine ganz besondere Rolle spielen.

Wie du und ich: Das Casting

Der Chor der Bürger*innen ist tatsächlich alles andere, alsein institutionalisierter Chor. Es handelt sich um eine Gruppe von Menschen –von Laien – die ausschließlich für unsere Produktion Antigone-Tribunal gecastet wurden. 19 Menschen, die einem Aufruf gefolgt, die vorstellig gewordensind und uns nun auf der Bühne begegnen.
„Es war mein erstes Casting überhaupt, so dass die Neugier auf was auch immer jetzt geschehen würde, ein dominierendes Gefühl war. (...) Zum Glück musste ich nicht lange auf das Ergebnis warten – diese Zeit war für mich sehr spannend, weil ich nach dem Casting keine Ahnung hatte, ob das nun gut und erwünscht oder voll daneben war, was ich abgeliefert habe.“
— Erika, 66 Jahre
Dabei wurde die Auswahl nicht ausgehend von den musikalischen Fähigkeiten getroffen, sondern im Vordergrund stand die Lust, sich mit dem Themen rund um die Produktion auseinanderzusetzen und auf der Bühne zu stehen.
„Zur Überraschung musste ich nicht vorsingen.“
— Runi, 69 Jahre
„Früher hieß es ‚Vorsprechen’ und da hab ich einiges erlebt...“
— Rolf, 77 Jahre
Resultat ist eine Gruppe von Menschen zwischen 15 und 77 Jahren, die gemeinsam den Chor der Bürger*innen bilden und gleichzeitig starke Individuen sind: Niemand geht in der Masse unter, sondern jede und jeder einzelne bleibt durch seine Rolle und seine Persönlichkeit in unserer Erinnerung verhaftet.
„Der Chor repräsentiert die Vielfalt, obgleich er als Kollektiv auftritt.“
— Sarah, 32 Jahre
Als Auftakt zur aktiven Probenarbeit nahmen die Chormitglieder an Workshops mit dem Regisseur Árpád Schilling teil. Schilling selbst ist einer der wichtigsten ungarischen Theatermacher der letzten zwei Jahrzehnte und inszenierte zu Saisonbeginn im Opernhaus Wagners Lohengrin. Seine Arbeit geprägt durch das Politische. Die Arbeit im Rahmen dieser Workshops sollte nicht der Inszenierung an sich dienen, sondern es dem Chor ermöglichen eine eigene Rolle im Kontext der Uraufführung und des Antigone-Textes zu finden.
Carina Schmieger als Antigone und der Chor der Bürger*innen (Foto: Martin Sigmund)
„Ich habe gelernt auf meine Chormitglieder zu achten, in einem Team zu agieren, auf andere einzugehen und meine Sorge, vor Publikum zu spielen, zu überwinden.“
— Christiane, 54 Jahre
„Am meisten beeindruckt hat mich die Erfahrung in eine Rolle zu schlüpfen und wie diese Person zu denken und zu handeln. Die Möglichkeit, die Welt aus einem völlig anderen Blickwinkel, mit den Augen einer anderen Person zu sehen.“
— Werner, 51 Jahre
„Ich fand die Workshops mega cool, weil Árpád sehr viel Erfahrung hat und genau wusste, wie er uns diese überbringen soll.“
— Ronja, 15 Jahre
Letztlich hat der Chor der Bürger*innen, jedes einzelne Mitglied, die Uraufführung aktiv mitgestaltet: sowohl musikalisch, als auch szenisch. So finden beispielsweise ihre Wünsche und Fähigkeiten in Leo Dicks musikalischer Komposition Beachtung. Diese 19 Menschen sind am Ende des Tages wie du und ich, und stehen vor uns, um uns eine Geschichte mit drei möglichen Enden zu erzählen. Sie tun dies auf eine Art, die ihnen entspricht. Sie haben sich das Stück angeeignet.
Die finale Szene der Oper: Der Chor der Bürger*innen hat die Macht übernommen. (Foto: Martin Sigmund)

19 Menschen und die Bedeutung des Chors

Ein weiterer Aspekt des Chors der Bürger*innen ist interessant: die Frage nach der Bedeutung und Entwicklung der Chorinstanz im Theater.

In der griechischen Antike spielte der Chor eine zentrale die Handlung begleitende Rolle. Er bot den Zuschauern zusätzliche Informationen an, um dem Verlauf der Tragödie folgen zu können. Er kommentierte und spiegelte das Publikum wider. Sophokles ging sogar noch einen Schritt weiter und wies dem Chor die Rolle des allwissenden Kommentators zu, der mal aktiv zu dem Geschehen beitrug und mal eine scheinbar unsichtbare Beobachterrolle einnahm.
Nach und nach verblasste jedoch die Bedeutung des Chors bis er als Element des Theaters nur noch wenig Aufmerksamkeit erhielt. Heute wird der Chor vor allem mit Oper assoziiert, in der er vor allem einen musikalischen Bestandteil der Gesamtkomposition darstellt.
 
Im Kontext der Uraufführung von Antigone-Tribunal findet nun nicht nur die Auseinandersetzung mit einem antiken Stück statt - diese Tatsache alleine wäre nicht von Brisanz – sondern die Instanz des Chors wird in seiner ursprünglichen Bedeutung neubelebt. Er bekommt eine aktive, eine die Grenze zwischen Bühnengeschehen und Zuschauerraum überwindende Rolle.
„Der Chor ist hier nicht nur Zuschauer, der sich zu den Ereignissen äußert. Der Chor dieser modernen Antigone nimmt teil, hat eine eigene Identität und beurteilt die Protagonisten moralisch und politisch. Der Chor von Antigone-Tribunal ist keine Schafherde.“
— Paco, 44 Jahre
David Kang als Kreon und der Chor der Bürger*innen (Foto: Martin Sigmund)

Der Chor der Büger*innen: Ein wichtiges Signal, auch unabhängig von Antigone

Und wo wir gerade bei der Rolle des Chors sind: Wussten Sie, dass in der Antike ebenfalls die Bevölkerung, je nach Stück, die Mitglieder des Chors stellte. So bestand Sophokles' Antigone-Chor aus 15 älteren Männern, welche das thebanische Volk darstellten. Durch die Einbindung von Laien ist die Distanz zwischen Publikum und Akteuren geringer.

Die Aufführung ist nicht nur ein Ereignis für die Gesellschaft, sondern wird gestaltet durch eine Teilgruppe der Gesellschaft.

Dies gilt auch für die Uraufführung von Antigone-Tribunal. Man könnte jedoch noch einen Schritt weitergehen: Bei der Zusammenstellung eines Chors mithilfe eines offenen Casting-Aufrufs und die aktive Einbindung der Chormitglieder wird nicht nur eine Nahbarkeit und Identifikationsmöglichkeit geschaffen. Vielmehr handelt es sich auch um ein Zeichen der Öffnung. So erscheint gerade die Kunstform Oper häufig als ein elitäres in sich geschlossenes System. Der Gesang der Solist*innen und die musikalische Darbietung des Orchesters sind hochvirtuos. Der Besuch einer Vorstellung häufig noch einer privilegierten und hochgebildeten Gesellschaftsschicht vorbehalten. Und wie man in persönlichen Gesprächen häufig feststellt, sind es die kleinen Unterschiede und Fragen, die den Zugang zur Kunstform und den Institutionen erschweren: Was ziehe ich an? Sind Opernkarten nicht sehr teuer? Ist meine Meinung zu einem Stück überhaupt qualifiziert genug? Doch während es keinen Dresscode gibt, Oper teilweise preiswerter ist als ein Besuch im Kino und natürlich jede Meinung zählt, hält sich das klischeehafte Bild wacker.

Der Chor der Bürger*innen stellt sich diesem entgegen und ist ein klares Zeichen für die Öffnung der Oper. Die Rolle dieser 19 Menschen in Antigone-Tribunal ist ein Signal der Demokratisierung einer Kunstform.
Der Chor der Bürger*innen in Antigone-Tribunal:
Paco Aldeguer, Eva Castner, Ulrike Dengler, Birgit Filzek, Christiane Frey, Hilmar Friedel, Elisabeth Geywitz, Erika Hahn, Andrea Häuser, Anna Holzhammer, Ronja Kriegshaber, Wolf Liebermann, Sarah Panten, Runi Reinhard, Naoko Saka, Ronja Schweizer, Rolf Siemsen,Werner Stein, Betina Weisenberger