Antigone-Tribunal

Ein Stück, dass uns die Ungewissheit auszuhalten lehrt
Am 9. März feiert eine ganz besondere Produktion ihre Premiere im JOiN: Leo Dicks „Antigone-Tribunal“ auf ein Libretto von Slavoj Žižek beschäftigt sich mit dem antiken Mythos um Antigone – und befragt ihn ganz neu. Hanna Schlieder hat sich mit dieser Uraufführung auseinandergesetzt.
Stellen Sie sich drauf ein: Sie werden beim Besuch von Antigone-Tribunal zu einer Entscheidung provoziert. Denn diese Produktion wird Ihr Verständnis von Vernunft und Wahrheit – im philosophischen und politischen Sinne – herausfordern und in Frage stellen.
 
Der „gefährlichste Philosoph des Westens“, Slavoj Žižek, formulierte 2015, ausgehend von der antiken Tragödie, sein Stück Die drei Leben der Antigone. Wie der Titel vermuten lässt, gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied zu dem Ursprungstext von Sophokles – es gibt drei gleichwertige Enden der Geschichte.
Ölgemälde von Giuseppe Diotti (1845): Antigone wird von Kreon zum Tode verurteilt
Doch worum geht es genau?

Man kennt vielleicht die Mythen, die sich um Ödipus ranken. Unwissentlich erschlug dieser seinen Vater, heiratete seine Mutter und bekam vier Kinder mit ihr: Antigone, Ismene, Eteokles und Polyneikes. Nach dem Tod ihrer Eltern wachsen diese bei ihrem Onkel Kreon auf. Die Söhne Eteokles und Polyneikes regieren nun Theben gemeinsam. Doch wie es bei Geschwistern nicht ganz unüblich ist, geht das nicht lange gut.
Polyneikes wird schließlich verbannt und verbündet sich überdies mit den Feinden der Stadt Theben. Im ausbrechenden Krieg sterben schließlich beide Brüder und Kreon übernimmt den frei gewordenen Herrscherposten. Von dort aus regelt er, dass Polyneikes im Gegensatz zu seinem Bruder keine ordentliche Bestattung erhalten darf. Antigone widersetzt sich Kreon und beerdigt ihren in Ungnade gefallenen Bruder gemäß dem göttlichen Gesetz. Als Strafe wird sie lebendig begraben. Haimon, der nicht nur Kreons Sohn ist, sondern auch Antigones Verlobter, kann seinen Vater nicht umstimmen. Der Seher Tiresias versucht ebenfalls sein Glück und fordert Kreon auf, Polyneikes zu beerdigen und Antigone zu befreien – die Missachtung uralter Gesetze würde ansonsten zu einer Katastrophe führen.
Nun geht Žižek, dessen Umschreibung die Grundlage für das Libretto darstellt, einen Schritt weiter. In Sophokles’ Tragödie beerdigt Kreon letztlich doch Ployneikes und will Antigone befreien. Doch sie ist bereits tot, und auch sein Sohn Haimon nimmt sich, nach einem missglückten Versuch seinen Vater zu ermorden, das Leben. Kreon wird zu einem „lebendigen Toten“. Wie der Chorführer in der Schlussszene beschreibt, sei dies die Strafe der Götter.
Žižek widerstreben an diesem Ende zwei Dinge: Zum einen, dass in der antiken Tragödie das Schicksal des Kreon bereits vorbestimmt ist – er kann sich diesem nicht entziehen. Zum anderen, dass Antigone, indem sie für die ordentliche Beerdigung ihres Bruders ihr Leben riskiert, zur Heldenfigur wird. Er selbst empfindet Antigones Rolle als sehr problematisch.
Dies war die Grundlage für die Erweiterung der Geschichte. Und so gibt es bei Die drei Leben der Antigone drei Enden. Ähnlich wie bei Tom Tykwers Film Lola rennt kehrt Žižek mehrmals  zur Ausgangssituation zurück, um dann einen weiteren Ausgang auszuprobieren. Alle drei Enden laufen in gewisser Weise jedoch ins Leere, keines gibt uns die Befriedigung, die wir aus Hollywood-Filmen kennen und vielleicht sogar für seine Berechenbarkeit schätzen.
"Meine Idee war einfach Sophokles‘ Version als ein Bruchstück eines zerbrochenen Gefäßes zu behandeln und es durch andere Bruchstücke zu ergänzen, in der Hoffnung, dass vielleicht auf diese Weise eine Art Wahrheit erkannt werden kann."
Slavoj Žižek: "Eine kontrafaktische Antigone". S. Fischer Verlag GmbH 2015.
Žižek nimmt somit den Rezipienten in die Verantwortung: Wenn es kein lineares Geschehen mehr gibt, wenn man unterschiedliche Verläufe angeboten bekommt, wenn man keine Wahrheit hat, auf die man sich berufen kann und die Vernunft nicht siegt, dann rückt die subjektiv empfundene Wahrheit in den Fokus.

Und so brechen die Solist*innen und allen voran der Chor der Bürger*innen die Grenzen zwischen Publikum und Bühnengeschehen auf und fordern die passiven Betrachter dazu auf eine Entscheidung zu treffen, Stellung zu beziehen.
Leo Dicks nie zuvor gehörte Komposition zementiert diese Aufforderung musikalisch: Er schafft einen rauen, die Harmonie störenden Gegenpart zum hochvirtuosen Gesang der Solist*innen. Häufig wird der Raum erfüllt durch ein Wispern und Flüstern, als würden die zahlreichen Wahlmöglichkeiten in Klänge übersetzt werden. Und wie ein finaler Weckruf dröhnen den Zuschauer*innen Vuvuzelas entgegen.
Die Inszenierung von Blanka Rádózy schlägt – ganz nach dem Vorbild von Bertolt Brecht – die Brücke zu der aktuellen gesellschaftlichen Situation, zu den Entscheidungen, die es zu treffen gilt. Den Zuschauer*innen wird in gewisser Weise die Wahlfreiheit zurückgegeben, von der viele dachten, sie nicht mehr zu haben. Gleichzeitig werden sie jedoch auch gezwungen die eigene Comfort Zone zu verlassen und Entscheidungen zu treffen – im Rahmen der Vorstellung von Antigone-Tribunal über den Ausgang der Geschichte, im Kontext unserer Gesellschaft über die großen Themen unserer Zeit.
 
Antigone-Tribunal ist ein Stück, das uns die Ungewissheit auszuhalten lehrt und dazu auffordert von unserer Entscheidungsfreiheit Gebrauch zu machen.