„Vergißt sich in Äonen ein einziger Augenblick?“

Warum „Ariadne auf Naxos“ die beste aller Opern ist. Bekenntnisse eines hemmungslosen Fans.
Haben Sie eine Lieblingsoper? Fragt man den Autor dieses Beitrags, ist seine Antwort klar: Bei Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Ariadne auf Naxos beginnen seine Augen zu leuchten. Eine kleine, sehr subjektive Hymne auf ein so merkwürdiges wie faszinierendes Werk anlässlich der anstehenden Wiederaufnahme von Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung.

Von Johannes Lachermeier

Zugegeben: Was Ariadne auf Naxos betrifft, bin ich ein geradezu hemmungsloser Fan. Warum das so ist? So ganz kann ich es auch nicht erklären – und doch gibt es ein paar Anhaltspunkte für die Faszination ausgerechnet für dieses eine Werk.
Klar: die Musik!
Natürlich, da ist Richard Strauss’ Musik. Nur rund 30 Musiker*innen im Orchestergraben entfachen bei dieser Oper eine Diversität an Klangfarben, die mich bei jedem Hören wieder umhaut. Da sind zwei Harfen, Klavier, Harmonium, Celesta, umfangreiches Schlagwerk – ein nicht alltägliches Instrumentarium also. Aber dennoch: Verglichen mit anderen Strauss-Opern (Nehmen Sie nur Elektra – da sitzen dreimal so viele Musiker*innen im Graben!) ist das natürlich ein Witz. Und doch schafft es Strauss immer wieder, geradezu magische Klänge zu entfachen. Und das in einer Intensität, dass man den Eindruck hat, ein Wagner-Orchester säße im Graben. 
Worum geht's eigentlich?
Aber was wäre in der Oper die schönste Musik ohne den musikdramaturgischen Zusammenhang? Also, in aller Kürze die Handlung: Wir befinden uns im Haus „des reichsten Mannes von Wien“, gleich soll die Oper Ariadne auf Naxos des jungen Komponisten (eine Hosenrolle!) stattfinden. Viel Trubel herrscht im Backstage, bevor sich der Vorhang hebt. Als der Komponist jedoch erfährt, dass nach der Uraufführung seines Werks noch eine etwas schlüpfrige Komödie aufgeführt werden soll, ist er völlig außer sich. Jugendliches Pathos trifft auf größte Verzweiflung – doch sein Lehrer und das erste Aufeinandertreffen mit der bezaubernden Zerbinetta, der Protagonistin der geplanten Komödie, können ihn gerade noch beruhigen. Es soll allerdings noch schlimmer für ihn kommen: Der Hausherr lässt durch seinen Haushofmeister ausrichten: 
Die Tanzmaskerade wird weder als Nachspiel noch als Vorspiel aufgeführt, sondern mit dem Trauerstück Ariadne gleichzeitig.

Das sitzt. Große Konfusion unter allen Beteiligten, eine mögliche Lösung, der erste Funken einer aufkeimenden Liebe zwischen Komponist und Zerbinetta, dann wieder große Verzweiflung – doch schließlich geht nach allerhand Verwicklungen der Vorhang auf...

…für Ariadne auf Naxos, wild gemixt mit der Komödie um „Die ungetreue Zerbinetta und ihre vier Liebhaber“: Ariadne ist von ihrem Geliebten Theseus verlassen worden. Sie hat sich in ihrem Schmerz vergraben, seit langem hat sie keinen Menschen mehr zu Gesicht bekommen; lediglich drei Nymphen bewohnen mit ihr die „wüste Insel“ Naxos. Plötzlich taucht „eine muntere Gesellschaft“ auf: Zerbinetta mit ihren vier Begleitern versuchen Ariadne mit Liedchen, Tänzen und einer umwerfenden Koloraturarie aufzumuntern – vergeblich. Die fünf Komödianten spulen ihr Programm ab, Zerbinetta entscheidet sich schließlich für den attraktiven Harlekin, und Ariadne ist wieder allein. Doch da taucht ein Schiff auf: Es ist der Gott Bacchus. Als er auf Ariadne trifft, wissen beide nicht, mit wem sie es zu tun haben: Er hält sie nach seiner vorhergegangenen Begegnung mit Circe für eine Zauberin, sie glaubt in ihm den Todesboten Hermes zu treffen. So richtig klärt sich das Missverständnis bis zum Ende nicht auf – und doch schafft die aufkeimende Liebe zwischen beiden eine große emotionale Verwandlung. Ariadne verlässt mit Bacchus die Insel. Zerbinetta kommentiert süffisant: „Kommt der neue Gott gegangen, hingegeben sind wir stumm!“
Ein wilder Mix
Eigentlich ist es völliger Wahnsinn, dieses merkwürdige Hybrid aus ganz hohem Ton, pathetischer Geste und derber Komödie. Dieser Gegensatz wird am offensichtlichsten an Ariadne und Zerbinetta, den beiden großen Frauenfiguren der Oper. Das Versprechen ewiger Treue auf der einen Seite, promiske Leichtigkeit auf der anderen. Kein Wunder, dass sich Ariadne wortlos abwendet, als ihr Zerbinetta die Grundlagen des Umgangs mit der Männerwelt darlegt. Und doch: Auch Zerbinetta ist vom Leben gestreift, auch sie ist von ihren Liebhabern verwundet worden. Der Komponist des Vorspiels glaubt zwar unerschütterlich an die unverbrüchliche Treue seiner Hauptfigur – doch auch Ariadne findet in Bacchus einen neuen Liebhaber. Beide Frauen sind sich also viel näher als es zunächst den Anschein hat. Nur Zerbinetta in ihrem unerschütterlichen Pragmatismus durchschaut von allem Anfang an, was es mit Ariadnes ewigem Treuegelübde auf sich hat: Schall und Rauch.
Meine Lieblingsfigur
Und dann ist da noch die Figur des Komponisten: Er changiert in einem fort zwischen fast noch pubertärer Aufgeregtheit, größtem Weltschmerz, tiefer Verzweiflung und höchstem Liebesrausch. Mir ist er die liebste Figur der Oper. Er ist voller Idealismus, nichts bedeutet ihm mehr als sein Werk, doch selbst die aufkeimende Liebe zu Zerbinetta und die (vorläufige) Aussöhnung mit der Profanität seiner Umgebung kann ihn nicht retten. Am Ende des Vorspiels steht seine völlige Desillusionierung: „Wer hieß dich mich zerren in diese Welt hinein? Lass mich erfrieren, verhungern, versteinen in der meinigen!“ Man muss das Pathos dieser Figur nicht ernst nehmen („Musik ist eine heilige Kunst“), und doch ist die unverstellte, immer auf den Impuls reagierende Leidenschaft des Komponisten für mich am berührendsten in dieser Oper. Ein Wiedergänger von Mozarts Cherubino vielleicht, reflektierter zwar, aber genauso schwankend und flatterhaft – und doch von Hofmannsthal nicht mit einem Happy End beschenkt. (Wobei: Wir Zuschauer wünschen ihm natürlich von ganzem Herzen, dass sich seine Stimmung nach der Aufführung seiner – leicht veränderten – Oper dann doch wieder zum Guten wendet…)
Das schönste Missverständnis der Operngeschichte
So sehr das Vorspiel mit all seinen grotesken Situationen, den wunderbaren Parodien auf Sängerklischees und der wechselhaften Handlung als Gegensatz zur eigentlichen Oper wirkt, winkt dann auch im großen pathosgeladenen Finale die Komik – auch abseits der Szenen mit den Komödianten um Zerbinetta. "Ich weiß nicht, was du redest", erwidert Ariadne Bacchus, und bis zum Ende der Oper hat sich ein ganzer Berg von Missverständnissen zwischen den beiden angehäuft. Das in Liebe entbrannte Paar verlässt die Insel – und Ariadne hat noch immer keine Ahnung, mit wem sie es eigentlich zu tun hat. Glaubt sie nach wie vor zu sterben? Es scheint so – und doch ist sie glücklich. Zwanzig Minuten allerherrlichstes aneinander Vorbeisingen zwischen Ariadne und Bacchus stehen am Ende des Stücks. Das schönste Missverständnis der ganzen Operngeschichte.
Ariadne in Stuttgart
Nun kehrt Ariadne also zurück ins Stuttgarter Opernhaus. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer Inszenierung die traditionelle Reihenfolge der beiden Teile, also Vorspiel und Oper, getauscht und zeigen die Handlung um Ariadne zunächst als melancholisch-nostalgische Rückschau, auch auf die Stuttgarter Historie des Werks – denn die Urfassung von „Ariadne auf Naxos“ eröffnete 1912 das Kleine Haus der Staatstheater. Danach erst folgt das Vorspiel als desillusionierte Abrechnung über das Abhängigkeitsverhältnis von Kunst und Privatwirtschaft.

Ich freue mich auf die Besetzung dieser Wiederaufnahme: Diana Haller gibt ihr Debüt als Komponist, Beate Ritter ist Zerbinetta. Und auch Simone Schneider debütiert in der Titelrolle. Die drei großen Frauenpartien und fast alle weiteren Rollen sind ausschließlich besetzt aus dem Ensemble! Die einzigen Gäste sind David Pomeroy als Bacchus, der nach vielen großen Tenorrollen nun in dieser Rolle debütiert – und Harald Schmidt, der große Zyniker des Fernsehens der 90er Jahre, für den die kleine, aber zentrale Rolle des snobistischen Haushofmeisters wie gemacht scheint.

Und falls Sie noch Stoff für den Pausentalk brauchen: Im Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Generalmusikdirektor Cornelius Meister erklingt das über hundert Jahre alte Harmonium des Hauses, das bereits in der Uraufführung verwendet wurde!
Die schönste Stelle
Und zum Schluss dieser kleinen Hymne die Kür: Was ist die schönste Stelle der Oper? Es ist mit jedem Hören und Sehen eine andere, aber stellvertretend für die vielen diese eine: „Vergißt du gleich wieder diesen einen Augenblick?“ fragt Zerbinetta den Komponisten. Er fragt zurück: „Vergißt sich in Äonen ein einziger Augenblick?“ Eine Stelle über die Ewigkeit, eine Stelle für die Ewigkeit. Und unmittelbar danach: absoluter Wechsel der Stimmung, vom Liebesduett geht es wieder mitten rein in den aberwitzigen Backstage-Trubel.

Und genau diese Wechsel machen sie aus, diese völlig wahnsinnige, kluge und so berührende Oper.