Es fehlt etwas

Die aktuelle Krise kann eine Chance sein – wenn jetzt die Weichen dafür richtig gestellt werden. Generalmusikdirektor Cornelius Meister hat sich Gedanken zum Status quo in der Gesellschaft, in der Bildung und nicht zuletzt in der Kultur gemacht. Ein Essay aus aktuellem Anlass.

I.

Große Veränderungen kennzeichnen unsere Zeit – für den einzelnen, aber auch für die Gesellschaft als Ganze, und das nicht auf Deutschland beschränkt.

In diesen Wochen fragen wird uns: Was ist uns wichtig? Welches sind die Voraussetzungen für ein erfülltes Leben? So individuell jeder einzelne diese Fragen beantworten wird, so klar ist dennoch: Das Messbare, gar das Betriebswirtschaftliche, reicht als Basis des Menschseins nicht aus. Ich bin zusammengezuckt, als ich lesen musste, dass Grundschülerinnen und -schüler sich während der Schulschließungen auf „das Wesentliche“: auf Deutsch und Mathematik, konzentrieren sollten. Ist denn die sinnliche, die nicht-messbare, die kulturelle – und übrigens auch die sportliche – Entwicklung junger Menschen nicht wesentlich?

Was sollen die Ziele einer allgemeinbildenden Schule sein? – Zum einen die Fertigkeiten, selbstständig zu lernen, sich selbstständig Informationen zu besorgen, seriöse von unseriösen Quellen unterscheiden zu können, Arbeitstechniken einzuüben, Lerndisziplin zu verinnerlichen und Grundlagen in verschiedenen Wissensgebieten mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen zu schaffen, auf denen jeder in seinem späteren Leben aufbauen kann.
Zum anderen aber: den Charakter zu bilden, die Moral zu entwickeln, den sozialen Umgang zu schulen, ein Interesse nicht nur an naturwissenschaftlichen und beweisbaren Fakten zu wecken, sondern auch an Themen, bei denen es kein Korrekt und kein Falsch gibt. Das Künstlerische, das Musische, das Philosophische, das Sportliche sind aus meiner Sicht Gebiete, die von klein auf gepflegt werden müssen. Ein Kind, das zwar das Einmal-Eins gelernt hat, aber nicht, wie es anderen zuhört, ist sicherlich nicht vollkommen gefördert worden. Wie aber könnte das Ohren-Öffnen und gegenseitige Zuhören besser gelehrt werden als durch Musik?

Dabei geht es mir für den Musikunterricht nicht in erster Linie darum, dass Kinder die Lebensdaten von Johann Sebastian Bach auswendig lernen oder aber wissen, wie ein Rondo gebaut ist. Im Sinne einer kunstgeschichtlichen Bildung ist dieses Wissen zwar sicherlich ebenfalls sinnvoll, und man kommt auch leichter durchs Leben, wenn man zumindest einigermaßen Noten lesen kann, dennoch spreche ich hier vor allem von der sinnlichen, der sozialen, der musischen Reife, die wir anstreben. Es gibt außerhalb des Verstandes-Wissens einen ebenso wichtigen Teil des Menschseins, der im ganzheitlichen Anspruch einer allgemeinbildenden Schule, auch in Corona-Zeiten, nicht zu kurz kommen sollte.

Seit längerem stellt die Junge Oper im Nord (JOiN) als Teil der Staatsoper Stuttgart eine Vielzahl von Materialien bereit, die für das Homeschooling genutzt werden können. Wenn schon vor Corona in zahlreichen Schulen kaum noch Musikunterricht gegeben wurde – was nicht an den überaus engagierten Musiklehrerinnen und -lehrern liegt! –, dann sollte wenigstens die jetzige Zeit genutzt werden.

II.

Es schmeichelt uns Kulturschaffenden, dass wir in diesen Tagen eine große Zuneigung und Sympathie aus der Bevölkerung empfinden. Uns, die wir es als fast schon selbstverständlich angenommen haben, beinahe jeden Tag auf einer Bühne Applaus zu empfangen, fehlt zwar der direkte Kontakt zum Publikum in seiner archaisch physischen Art – der Schweißgeruch hinter der Bühne, die „hörbare“ Stille von 2000 Menschen im Saal –, aber gleichzeitig freuen wir uns an den zahlreichen Äußerungen und Reaktionen auf unser Online-Engagement dieser Tage, die deutlich machen, wie sehr den Zuhörenden das kulturelle Erlebnis wichtig ist.

Dabei sollten wir allerdings nicht vergessen, dass die allermeisten Aufnahmen dieser Tage – soweit ich es überblicke – kostenlos offeriert werden. Auch Kulturinstitutionen, die ihre Vertragspartner nicht mehr bezahlen, die Lohn und Gehalt ihrer festangestellten Mitarbeiter kürzen oder die sogar vor der Insolvenz stehen, verzichten darauf, für ihre Onlineangebote eine finanzielle Gegenleistung zu verlangen. Viele freischaffende Künstler, die selbst vor dem ökonomischen Abgrund stehen, beteiligen sich an diesen Aktionen.

Dies wird als Zeichen des Miteinanders und der gesellschaftlichen Verantwortung, die Kulturschaffenden am Herzen liegt, dankbar angenommen. Denn viele Menschen in aller Welt sind gerade in größter Not und wissen nicht, was ihre persönliche Zukunft bringen wird; andere schuften über das erträgliche Maß hinaus, um zu helfen – da ist der Beitrag der Kulturschaffenden zur seelischen Gesundheit eine zentrale Aufgabe. Ebenso wichtig ist, dass wir uns für eine weltweite Solidarität einsetzen. Die realen Grenzen, die im Augenblick geschlossen sind, dürfen nicht zu noch mehr Grenzen in unseren Köpfen führen. Wir, wenn es uns besser geht als anderen, müssen unsere uneingeschränkte Hilfe anbieten.

Aber würden kulturelle Onlineangebote, wenn sie nicht kostenlos wären, in diesen Zeiten genauso angenommen? Und wie verhält es sich mit der Nach-Corona-Zeit? Können wir erwarten, dass danach alles wieder so ist wie noch vor wenigen Wochen? Ich meine, nein.

Viele von uns verstehen unter Musik- und Theater-Kultur eine zwei- oder dreistündige Aufführung zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort, für die ich mir eine Eintrittskarte gekauft habe. Diese Aufführungen werden im Feuilleton-Teil einer Zeitung vor- und nachbesprochen. Diese Haltung erklärt den Reflex vieler Redaktionen bereits Ende März, die Feuilleton-Seiten auf ein Minimum zu schrumpfen. Einige Blätter setzten damit allerdings nur einen Trend fort, der bereits vor vielen Jahren begonnen hatte.

Ein solch enger Kulturbegriff ist mir fremd. Es ist auffällig, dass manche Projekte, die meine Kolleginnen und Kollegen in diesen Tagen entwickeln, zum Feuilleton-Teil gerechnet werden, andere zum Lokal-Teil, wieder andere in den Gesundheits- oder Bildungsteil wandern. Gerade daran zeigt sich doch, wie umfassend die Aufgabe und Relevanz von Opernhäusern und Orchestern ist. Wir beschäftigen uns mit Kultur – aber in einem viel umfassenderen Sinne, als vielfach wahrgenommen.

Wenn ein wenig Informierter fordert, ein Orchester müsse sich auch abseits des Podiums um die Gesellschaft, zum Beispiel um die Jugend und die sozial Schwächeren, kümmern, dann lässt sich darauf trocken antworten: Er hat offenbar nicht mitbekommen, was Orchester im Jahr 2020 alles tun. – Zugutehalten muss ich dem Unwissenden allerdings, dass viele solcher Projekte in der Öffentlichkeit wenig bekannt werden, denn Projekte in Schulen, Projekte abseits der „normalen“ Aufführungen gelten bei all denen, die noch in alten Strukturen denken, als Sonderprojekte, die nicht zum Kernbereich der Kultur zu zählen seien oder gar einen geringeren qualitativen Anspruch verfolgten.

III.

Realistischerweise wird es nicht den einen Tag geben, an dem die Theater ihren Betrieb von 0 auf 100 hochfahren dürfen. Vielmehr werden zunächst Produktionen mit wenigen Mitwirkenden und wenigen Zuschauenden aufgeführt werden können, ggf. in Räumen, in denen eine größere physische Distanz möglich ist. Wann und in welchem Ausmaß dies passieren wird, lässt sich derzeit nicht vorhersagen, aber es scheint mir eindeutig, dass wir etwas Derartiges erwarten können. An der Staatsoper Stuttgart stemmen wir daher gerade eine Dreifachplanung:

Zum einen bereiten wir verantwortungsvoll die Produktionen der nächsten Jahre vor. Wenn wir damit jetzt aufhörten, könnten wir in zwei, drei, vier Jahren nicht in gewohnter Qualität spielen.

Zum anderen gestalten alle Mitglieder des Hauses, vielfach auf Eigeninitiative, eine Vielzahl an neuen Formaten, die selten länger als eine Woche im Voraus geplant werden: Dazu gehören Aufnahmen aus dem ad hoc eingerichteten, vom Betriebsarzt genehmigten Tonstudio auf der Großen Bühne. Aber auch die realen Aufführungen nehmen einen wichtigen Raum ein, denn es lässt sich trotz Corona-Beschränkungen, die wir ohne Wenn und Aber einhalten und unterstützen, mehr realisieren, als manch einer vielleicht denkt: Die ganze Region ist eingeladen, jeden Sonntag mit uns von Fenster zu Fenster, von Balkon zu Balkon „Freude schöner Götterfunken“ zu spielen und zu singen; wir gehen in Innenhöfe von Senioren-Einrichtungen und musizieren dort; wir geben Konzerte für einen Zuhörer, gespielt von einem Musiker und, und, und.

Drittens aber verwenden wir viel Zeit darauf, einen mittelfristigen Spielplan zu gestalten, der in den nächsten Wochen und Monaten, vielleicht sogar Jahren, zur Aufführung gelangen soll. Dabei können wir derzeit nur inhaltlich planen, ohne aber das Premierendatum, nicht einmal die Probenbedingungen zu kennen. Das ist eine für uns ungewöhnliche Herangehensweise. Traditionell definierten sich gerade die überregionalen Staatsopern und Staatsorchester darüber, dass sie “große” Werke adäquat aufführen können. Damit erlangten sie üblicherweise die breiteste öffentliche Aufmerksamkeit: Richard Strauss' Alpensinfonie oder Gustav Mahlers achte Symphonie, die Symphonie der Tausend, ziehen mehr Publikum an und werden in den Zeitungen stärker gewürdigt als das Konzert eines Streichtrios oder andere Kammerbesetzungen.

Wir werden uns für unbestimmte Zeit davon verabschieden, nach quantitativ Großem zu streben, und Kammeropern in den Vordergrund rücken. Aber wir sollten uns nicht darüber definieren, dass wir wegen äußerer Umstände etwas nicht dürfen, sondern vielmehr die Chance nutzen, unseren Fokus auf etwas zu legen, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu wenig beachtet wurde: Frühe Haydn-Symphonien (die mit einer kleinen Streichergruppe vor einhundert Zuhörern möglicherweise sogar eine direktere Wirkung erzielen, als wenn sie „groß“ aufgeführt werden), Kammermusik, neue Musiktheater-Formate, ungewöhnliche Räume abseits der großen Säle sind nur einige wenige Beispiele aus einem riesigen Pool, den es zu stärken und teilweise wiederzuentdecken gilt.

Große Kunst ist nicht selten aus einer Beschränkung entstanden. Viele Komponistinnen und Komponisten schätzen es, wenn sie einen äußeren Rahmen haben, der sie begrenzt, bevor sie loslegen („nur“ zwei Hörner, nicht vier; „nur“ acht Quadratmeter Platz für den Schlagzeug-Aufbau usw.). Die vermeintlichen Einschränkungen begünstigen die Kreativität.

Nachdem wir in einiger Zeit – wann auch immer – wieder werden spielen dürfen, aber sicherlich zunächst in kleinerem Rahmen als gewohnt, wollen wir dies als Chance begreifen, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Bereits jetzt zeigt sich, welche Vielzahl an Projekten möglich wurde, über die man in Vor-Corona-Zeiten nicht einmal nachgedacht hätte – davon abgesehen, dass sie innerhalb des üblichen Rasters, wer in seiner Funktion was tun darf und soll, vermutlich niemals realisiert worden wären.

IV.

Das alles wird aber nur möglich sein, wenn sich Politik und Gesellschaft deutlich dazu bekennen, dass die Kulturbranche als unverzichtbar angesehen wird.

Niemand kann vorhersagen, wie schnell sich das Virus ausbreiten wird, aber es muss deutlich und überall hörbar ausgesprochen werden, dass eine Gesellschaft ohne reale, nicht-virtuelle Kulturangebote eine andere sein wird als diejenige, die wir kennen. Das betrifft die nächsten Monate, da Theater nur eingeschränkt arbeiten können, und die Zeit danach. Die Auswirkungen auf unsere Arbeit werden lange spürbar sein, und sie werden in der Kultur nicht mit einem Fingerschnippen behebbar sein, während andere Branchen bereits zur Normalität zurückgekehrt sein werden.

Sicherlich würden nur einige Menschen sagen, dass sie Kultur als etwas Nachrangiges, weniger Wichtiges für ihr Leben ansähen, aber ich befürchte, dass sich viele in unserer Gesellschaft, da sie gerade vor nie dagewesenen persönlichen Herausforderungen stehen, zu sehr in ihrem Tunnel befinden, um überhaupt darüber nachzudenken, was ihnen über den Tag hinaus wichtig ist und wichtig bleiben soll. Eine Krise kann eine Chance sein, aber ohne die gesamtgesellschaftliche Unterstützung und das klare öffentliche Bekenntnis zu Kultur als zentralem Bindeglied für alle Generationen und als Basis für ein solidarisches Miteinander wird es die Kulturbranche – und mag sie noch so kreativ strampeln – aus eigener Kraft nicht schaffen.
Den Stuttgarter Nachrichten hat Cornelius Meister zum Thema außerdem ein großes Interview gegeben, das Sie hier nachlesen können.