„Gute Seele allein reicht nicht“

An der Staatsoper Stuttgart kennt man Thomas „Tommy“ Fürstenau vor allem per Lautsprecher: „Es ist 18:30 Uhr, dies ist das erste Zeichen, noch 30 Minuten bis zur Vorstellung.“ Tommy war bis zum Ende dieser Saison Inspizient und fungierte sozusagen als koordinierende „Schaltzentrale“ bei vielen Vorstellungen im Opernhaus und im JOiN. Nun geht er in den Ruhestand. Mit Paula Stietz hat er über die Besonderheiten seines Berufs, einmalige Momente und gutes Teamwork gesprochen.
Was macht für dich den Beruf des Inpizienten aus?
Im Theater bewegt sich viel: Menschen, Bühnenbildteile, Flugwerke usw. Der Inspizient hat für alles, was sich bewegt, ein Zeichen. Du rufst die Darsteller, den Dirigenten und du organisierst den technischen Ablauf – und das muss alles absolut präzise sein. Außerdem musst du wissen: Wie rede ich mit wem? Wer braucht was? Was ist wichtig für den Ablauf? Dazu musst du die Noten und den ganzen Ablauf auswendig kennen, um bei all dem Gewusel einschätzen zu können, wann du auch mal ein paar Worte mit jemandem reden kannst, ohne einen Einruf zu verpassen.

Die Grundbedingung für diesen Job in der Opernsparte ist für mich die Musikalität. Du hast nicht immer die Möglichkeit, an deinen Noten zu kleben. Natürlich ist es am einfachsten, wenn du das Inspizientenpult nicht verlässt und die ganze Zeit dasitzt, deine Knöpfe drückst und die Noten verfolgst. Das ist eine Möglichkeit, diesen Job zu machen. Und es ist an vielen kleineren Häusern sogar notwendig, es so zu machen, weil es zu wenig Personal gibt, um Auftritte nochmal extra zu betreuen.

Das ist bei uns Gott sei Dank nicht notwendig. Wir sind immer zwei Inspizienten auf der großen Bühne, einer links und einer rechts, dann sogar noch ein dritter, der die Lichtstimmungen ansagt. Da kann einer am Hauptpult sein und der zweite einzelne Auftritte betreuen, also zum Beispiel mit in die Unterbühne gehen, falls von dort Auftritte erfolgen. Aber so oder so finde ich, dass ein wesentlicher Teil unserer Arbeit einfach nicht erreicht wird, wenn wir nur am Pult sitzen: der Kontakt mit den Menschen direkt vor ihrem Auftritt. Manchmal brauchen sie noch ein paar gute Worte, eine kurze Ablenkung von der Aufregung, oder einfach das Wissen, dass jemand da ist.

Du bist also so etwas wie die gute Seele an einem Vorstellungsabend?
Kann man sein, ja. Aber man muss auch ständig alles im Auge behalten. Gute Seele allein reicht nicht. Du musst bestimmte Sachen durchsetzen. Wie lautet noch dieser schöne Spruch? Nett sein ist kein Beruf.
Schließlich bist du derjenige, der eine Entscheidung treffen muss, wenn während einer Probe oder Vorstellung etwas schiefgeht. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr gut an eine Situation in einer Carmen-Probe bei einem Festival, an dem ich teilnahm: Ein Kollege musste per Fernbedienung Stichflammen auf Gefängnisbetten auslösen. Er drückte den Knopf – aber nichts passierte. Dann musst du die Entscheidung treffen: Fällt dieser Effekt jetzt einfach aus, oder unterbreche ich? In diesem Fall habe ich die öffentliche Generalprobe unterbrochen. Das ist nicht selbstverständlich, schließlich hat der Dirigent gerade die Probe geleitet, und ich unterbreche sie einfach. Aber er hat es verstanden, als ich es ihm erklärt habe. Und ich finde, das müssen wir uns immer vor Augen halten: Es ist unsere Aufgabe, zwischen allen Akteuren hinter der Bühne und den Künstlern auf der Bühne zu vermitteln, wenn Probleme auftreten.
Wie kamst du zu deinem Beruf?
Ich hätte früher nie gedacht, dass mir so eine Tätigkeit so viel geben würde, da ich mich eigentlich gar nicht für einen Theatermenschen halte und auch nicht aus einer Theaterfamilie stamme. Ich komme aus Mettmann bei Düsseldorf in Nordrhein-Westfalen. Meine Eltern hatten nichts mit Theater oder Oper zu tun, sind aber gerne ins Konzert gegangen – und hin und wieder auch in die Oper. Aber zu Hause haben wir viel, viel Musik gehört.

Als ich mit der Schule fertig war, hatte ich überhaupt keine Ahnung, was ich machen soll. Im Theater war ich so gut wie nie. Stattdessen hat mich vor allem Sport interessiert, deswegen hätte ich mir vorstellen können, Sportjournalist zu werden. Aber dann habe ich mir gedacht: Musik wäre ja schön, das Gehör dafür hatte ich, Musiklehrer wollte ich nicht werden. Und dann habe ich mich in Hamburg für das Studium Musiktheaterregie beworben. Ich wollte unbedingt nach Hamburg zum Theatermacher Götz Friedrich, weit weg vom behüteten Elternhaus. Also habe ich 1978 die Aufnahmeprüfung gemacht – obwohl ich mich mit Oper nicht so gut auskannte, vielleicht am ehesten mit Musical. Am Ende haben acht Leute diese Prüfung bestanden – und ich war einer davon. Sensationell!
Endlich weit weg von den Eltern, mitten in einem Studium, mit dem du davor nie gerechnet hast – wie sah das aus?
Ich hatte damals einen VW Käfer. Und da ich ja von zu Hause aus dem behüteten Leben weg wollte, fand ich das megaaufregend, tagelang im Auto zu pennen in der Nähe der Jugendherberge bei der Reeperbahn. Ich bin da oft einfach durch, um die Atmosphäre aufzunehmen. Reeperbahn, Hamburg, Großstadt. Das kannte ich bis dahin nur aus Büchern. Es war natürlich nicht gerade bequem, im Auto zu pennen. Aber das, was ich dafür bekommen habe, war es wert. Ich habe dann oft zusammen mit einem Studienfreund bei einem Kommilitonen übernachtet, zu dritt in einem Zimmer mit acht Quadratmetern! Die beiden kannten sich super mit Opern aus und haben vor dem Einschlafen oft Opernquizspiele gemacht. Nur ich wusste dafür noch zu wenig. Es war eine fantastische Zeit!
Wie ging es nach dem Studium weiter?
Ein Jahr nach meinem Abschluss, 1986, kam im April in Hamburg das Musical Cats heraus. Und da wurde eine Stelle ausgeschrieben als Stage Manager. Darauf hab ich mich beworben, habe die Stelle gekriegt und viel Neues gelernt. Denn ich kannte mich hinter der Bühne schon etwas aus, weil ich während des Studiums eine Regie-Hospitanz gemacht habe, aber eben noch nicht so viel.

Jetzt als Stage Manger hieß es plötzlich: Kopfhörer auf, über 100 Lichtstimmungen ansagen und den ganzen Tag über Englisch sprechen, was ich aber ziemlich gut fand. Die Crew war wie eine Familie. Und dadurch, dass es immer die gleichen Leute waren und immer das gleiche Stück, konnte man auf einem sehr hohen Niveau arbeiten. Denn jeder wusste genau, was er machen musste, auf und hinter der Bühne. Das muss man aushalten können, jeden Tag dasselbe zu spielen, denn mit der Zeit kann es auch langweilig werden.

Aber ich merkte: Eine Show zu leiten ist etwas, was ich gerne mache. Außerdem hat mich die Art der Musik angesprochen. Mit meiner jetzigen Frau Halina bin ich dann viel gereist, um Musicals zu sehen, die schossen damals ja überall aus dem Boden. Wir waren auch viel in London – das war schon nochmal ne andere Liga als bei uns in Hamburg!
Wann kam dann der Wechsel zur Oper?
Ich wollte damals unbedingt in Hamburg bleiben. Also habe ich mich irgendwann auf eine Inspizientenstelle an der Oper beworben. Ich war auch zum Vorstellungsgespräch dort, kannte aber zu wenige Opern, um die Stelle zu bekommen.

Das war es dann erstmal mit in Hamburg wohnen. Ich habe dann in Oberhausen als Inspizient und Regieassistent gearbeitet. Aber das Klima dort war so schlecht, dass ich direkt wieder gekündigt und nur ein Jahr dort gearbeitet habe. 1991/92 wurde die Inspizientenstelle in Hamburg aber wieder frei, ich habe mich nochmal beworben und diesmal die Stelle auch bekommen.

Insgesamt war ich dann elf Jahre in Hamburg. Halina und ich haben in Lübeck gewohnt, ich bin also gependelt. Das ist aber wahnsinnig schwierig, da man als Inspizient geteilten Dienst hat. Also vormittags arbeitet, nachmittags frei hat und dann abends wieder arbeitet. Entweder war ich also in Hamburg, habe geprobt oder Vorstellungen gemacht, oder ich saß im Auto und bin nach Hause gefahren oder zum Dienst gefahren.

1993 haben Halina und ich beide bei den Salzburger Festspielen angefangen, sie als Regieassistentin und ich als Inspizient, zusätzlich zu meinem Job in Hamburg. Die Zeit in Salzburg bedeutet mir nach wie vor unheimlich viel. Da gibt es auch eine Geschichte, die sehr viel über meinen Job aussagt: Neben dem Großen Festspielhaus gibt es bei den Salzburger Festspielen noch die Felsenreitschule. Und in der Felsenreitschule gibt es ein spezielles Pult. Das ist nicht in Höhe der Bühne, sondern man muss über eine Art Hühnerleiter hochklettern und schaut leicht erhöht seitlich auf das Ganze herunter. Ich inspizierte dort eine Produktion der Zauberflöte in einer Inszenierung von Achim Freyer, die ich aus Hamburg schon ganz gut kannte. Einmal hab ich einen sehr guten Freund aus Salzburg gefragt: „Hast du nicht Lust, die Vorstellung heute mit mir gemeinsam vom Inspizienten-Pult aus leicht erhöht zu sehen?“ Das fand er natürlich ganz toll! In dieser Inszenierung spielt die Zauberflöte im Zirkusmilieu, und die Königin der Nacht trägt einen riesigen Mantel, der am Finger eines Darstellers befestigt ist. Es gibt eine Szene, in der die Technik dafür sorgt, dass sich dieser Mantel über die gesamte Felsenreitschule aufspannt. Dieser technische Moment muss aber ganz präzise ausgeführt werden. Und dann fragte ich meinen Freund: „Möchtest du heute mal den Mantel-Flug auslösen?“ (lacht) Ich habe ihm erklärt: „Es ist wie Schreibmaschine schreiben: Wenn es so weit ist, hältst du deinen Finger über diese Taste. Du drückst aber erst drauf, wenn ich LOS sage.“ Wir haben das in einer Pause trainiert, um sicherzugehen, dass es klappt. Als aber die Vorstellung lief, war es für meinen Freund natürlich völlig anders. Denn wenn der Raum voll Publikum ist, ist es etwas ganz Besonderes und die Anspannung steigt. Die Stelle kam – und er hat alles genau so gemacht, wie wir es besprochen hatten. Erst danach habe ich ihm gesagt: „Hättest Du den Mantel im falschen Moment ausgelöst, wäre das nicht gut für den Finger des Darstellers gewesen!“ Und so redet er heute noch darüber, dass er damals den Mantel bei den Salzburger Festspielen ausgelöst hat.

Diese kleine Situation zeigt, wie besonders unser Beruf ist, wie präzise wir arbeiten und welche einmaligen Momente man dadurch am Theater erleben darf. Das ist auch das Besondere, das ich gerne weitergebe an nachfolgende Inspizienten.
Wann hast du hier in Stuttgart angefangen als Inspizient?
Das war 2006, nach ein paar Jahren als Freier Inspizient. Ich konnte mir erst gar nicht vorstellen, nach Stuttgart zu gehen, nach Baden-Württemberg. Allerdings hatte ich gehört, dass Stuttgart das Haus mit der besten szenischen Umsetzung in ganz Deutschland war. Und das Haus war in der Zeit ständig Opernhaus des Jahres, das hat mich gereizt! Albrecht Puhlmann hat uns also nach Stuttgart geholt – Halina als Chefdisponentin und mich als Inspizienten. Und so hatten wir nach 22 Jahren zum ersten Mal ein Theater, an dem fast alles stimmte und an dem wir beide in Festanstellung arbeiten konnten. Und dann haben wir geheiratet.
Tommy bei seiner letzten Vorstellung am Inspizientenpult: La sonnambula!
Mit welcher Produktion hast du hier dann angefangen?
Meine erste Produktion, die ich am Hauptpult machen sollte, durfte ich mir aussuchen. Das ist etwas, das ich nie vergessen werde, weil ich finde, das ist ein super schönes Angebot. Ich musste nicht lange überlegen, was ich gerne machen wollte: am liebsten eine Produktion mit Jossi Wieler, den ich aus Salzburg kannte. Im Jahr davor hatte Jossi in Hannover die Produktion Pelléas et Mélisande gemacht, ein sehr schönes und sehr ruhiges Stück, das Albrecht Puhlmann nach Stuttgart mitgenommen hatte. Das war eindeutig das Stück, das ich auch gerne inspizieren wollte. Am Ende der Spielzeit 2006/07, als wir das Stück gespielt haben, ist der VfB Stuttgart deutscher Fußballmeister geworden. Und genau an diesem Abend spielten wir Pelléas et Mélisande – und du weißt, wie das mit der Hellhörigkeit in unserem Opernhaus ist. Nicht ganz einfach, dann die ganze Mannschaft im Haus zur Ruhe zu bringen, wenn draußen Halligalli ist, mit Hubschraubern und allem. Deswegen werde ich diese Vorstellung nie vergessen!

Aber es gibt noch etwas anderes, das ich hier direkt von Anfang an gelernt habe: Wie toll die Zusammenarbeit ist! Ich war es z.B. von Hamburg gewohnt, dass man immer mal für andere eingesprungen ist, dass man nochmal Requisiten gecheckt hat, usw. Und so bin ich am Anfang auch an meine Arbeit hier rangegangen. Bis mir jemand sagte „Tommy, das musst Du nicht machen.“ Und es war tatsächlich so. Hier wissen wirklich alle im Team immer ganz genau, was zu tun ist und erledigen dies mit einem professionellen Selbstverständnis, das du überall spürst. Auch die Gastsänger spüren das. Du hörst es, wie positiv sie über uns reden, über ein so intaktes und gut funktionierendes Haus. Das ist zum großen Teil das Ergebnis davon, dass die einzelnen Abteilungen alle sehr gut sind und auch sehr gut miteinander arbeiten. Das ist wirklich vorbildlich, wie das hier an der Oper läuft. Deswegen werde ich vor allem die Menschen hier vermissen, das Miteinander!
Was machst du jetzt? Welche Pläne hast du?
Ja, was mache ich jetzt? Ich möchte gerne wieder Vorstellungen nur als Zuschauer anschauen, nicht aus der Sicht eines Inspizienten. Richtig gutes Schauspiel sehen – dafür möchte ich gerne nach Berlin und Hamburg fahren. Die Messlatte ist allerdings hoch geworden für alles, was Theater angeht. Wir haben das Tollste schon gesehen, die tollsten Leute. Außer ins Theater gehe ich gern zum Sport – mit Halina. Wir haben zum Beispiel die Weltklasse im Damentennis geguckt. Und ich habe mir das Finale in der Volleyballdamenbundesliga angeschaut. Vor Ort, das war neu für mich. Wir hatten auch Karten für das Eröffnungsspiel hier bei der Fußball-Europameisterschaft und sind da hingefahren. Ich möchte einfach das, was ich bislang in meiner Freizeit machen konnte, noch sehr viel mehr machen. Und ich freue mich auf die nicht vom Dienstplan verplante Zeit.
„Ich werde vor allem die Menschen hier vermissen, das Miteinander!“ – wir dich auch, lieber Tommy!
Gruppenfoto nach der letzten Opernvorstellung der Saison – und der letzten Vorstellung mit Tommy als Inspizient (links im Bild).