Der Regisseur Marco Štorman schließt mit seiner Inszenierung der „Götterdämmerung“ den neuen Stuttgarter „Ring des Nibelungen“ ab. Benedikt von Bernstorff hat für unser Magazin „Reihe 5“ mit ihm darüber gesprochen, was der vierte Teil von Wagners Epos heute über den (labilen) Zustand unserer Demokratie erzählt.
Herr Štorman, die Vorgeschichte des Rings beginnt damit, dass sich Göttervater Wotan einen Speer aus dem Holz der Weltesche schnitzt, die am Ende verdorrt. Am Schluss der Götterdämmerung tritt der Rhein über die Ufer und ein apokalyptisches Feuer bricht aus. Raubbau an der Natur, sterbende Bäume, Fluten und Brände: Das sind angesichts der aktuellen Klimakatastrophen Stichworte, die man als Regisseur fast gar nicht mehr für die Gegenwart übersetzen muss, oder?
Marco Štorman: Es ist für mich sogar eher eine Schwierigkeit, dass diese Probleme so naheliegend sind. Ich frage mich da: Welches Bild kann man finden, damit man die Geschichte nicht verengt? Bestimmte sehr direkte Übersetzungen finde ich oft banal, weil mit ihnen die gesamte Problematik auf eine Sache heruntergebrochen wird. Das endet in einer Verkürzung, einer Vereinfachung. Ich finde es immer interessanter, die Mechanismen anzuschauen und zu analysieren, warum etwas so geworden ist, wie wir es wahrnehmen. Und dann in den Raum zu stellen: Jetzt ist es an uns, daraus etwas Besseres zu machen. Das apokalyptische Ende war deshalb für mich erst mal das große Problem. Ich dachte: Wenn wir das nicht gelöst haben, bekommen wir kein Konzept für den Rahmen. Wir müssen ja wissen, wo es hinsoll, was da am Schluss explodiert. Mein Gefühl ist aber inzwischen: Es geht nicht um eine funktionierende Welt, die irgendwie noch zusammengehalten wird und erst am Ende auseinanderfällt. Die Apokalypse, die angeblich am Schluss passiert, die ist längst da.
Sie inszenieren nicht den gesamten Ring, sondern nur den letzten Teil. Wenn man die Götterdämmerung für sich anschaut, stellt man fest, dass sie eine in sich vollständige Handlung berichtet.
Man kann eigentlich einsteigen, wo man will. Auch in der Struktur hat die Götterdämmerung etwas von einem in sich geschlossenen Werk.
Das Publikum könnte nach Siegfried den Vergessenstrunk einnehmen und trotzdem die Handlung der Götterdämmerung verstehen?
Genau. Jede Figur kommt auf die Bühne und erzählt die Handlung noch einmal neu. Man könnte natürlich fragen, warum es so viele Wiederholungen gibt. Unser Konzept setzt aber genau an diesem Punkt an. Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Erzählende gibt. In einer Zeit, in der wir so mit Fake News beschäftigt sind und in der für jede angebliche Wahrheit ein Aufstand angezettelt wird, wollen wir von einer Gesellschaft in Auflösung erzählen. Es geht nicht mehr um Dialog, sondern um Menschen, die desto mehr an ihre Wahrheit glauben, je lauter sie sind. Das ist doch genau das, was wir gerade beobachten und weshalb wir uns als Demokraten so ohnmächtig fühlen. Wenn der Streit um Wahrheit, auf den die Demokratie angewiesen ist, ausgehebelt wird, weil ein Gegenüber immer die Wahrheit behauptet, die er gerade braucht: Wie soll man dem beikommen? Das ist unser Dilemma. Es besteht die Gefahr, dass wir uns auf die Spielweise der anderen einlassen. Wie lange können wir das aushalten? Demokratie ist anfällig für Korruption, für Populismus, für diejenigen, die nur den eigenen Vorteil suchen. Und Demokratie ist gleichzeitig die Regierungsform, die immerzu angegriffen wird und dadurch im Idealfall stärker werden soll. Wenn das kippt, dann sind wir in der Götterdämmerung.
Das Inszenierungsteam bei der Konzeptionsprobe im Foyer des Opernhauses
Wenn man die Figuren der Oper auf die aktuelle Gesellschaft bezieht, könnte man sagen, dass Wotan und seine Götter die „liberale“ Elite repräsentieren. Dagegen wären Siegfried und Brünnhilde als Revolutionäre der Liebe die „Linken“. Die Gibichungen um Gunther und seine Schwester Gutrune stünden für eine völlig skrupellose andere Elite, der es nur um Macht und Profit geht. Und Hagen, der bewusst Lügen über Siegfried in Umlauf bringt, wäre der Chef der Verschwörungstheoretiker, oder?
Er ist ein Populist. Man könnte ihn vielleicht mit einer Gestalt wie dem ehemaligen Trump-Berater Stephen Bannon vergleichen, der die Wahrheit so benutzt und verdreht, wie sie ihm nützt. Er ist der große Manipulator, der die Zeichen der Zeit am ehesten für sich zu nutzen versteht.
Hinter Hagen steht Alberich, der seinen Sohn sozusagen programmiert hat. Es gibt im zweiten Akt die berühmte Szene, in der sich Vater und Sohn begegnen.
Alberich und Hagen sind bei uns eine Figur, beide werden von demselben Sänger dargestellt. Wer Alberich eigentlich war und ob Hagen eine verherrlichte Form von ihm entwirft, bleibt offen. Was sich mit diesem Vater wirklich ereignet hat, ist genauso unklar wie die Frage, was mit dem Ring wirklich passiert ist. Es gibt so viele Varianten der Geschichte, wie Menschen auf der Bühne stehen.
In Wagners Konzeption soll Siegfried der von den dargestellten Verstrickungen „freie Held“ sein, der als Revolutionär oder Anarchist das System sprengen kann.
Ich weiß nicht, wie frei Siegfried wirklich ist. Wenn man auf unsere Zeit schaut, repräsentiert er durch seine spätere Allianz mit Hagen eher den Rutsch nach rechts, den man heute in ursprünglich linken Milieus beobachten kann. Mich interessiert Siegfried als der Spielball, der er für die anderen Figuren ist. Hagen schafft es, Siegfried und Gunther zu „brothers in arms“ zu machen und gegen Brünnhilde auszuspielen.
Vielleicht können Sie andeuten, welche Bilder in Ihrer Inszenierung zu sehen sein werden?
Wegen dieses Clashs der Wahrheiten haben wir bei der Götterdämmerung viel über Orte der Rede nachgedacht. Es wird bewegliche Orte auf der Bühne geben: den Brünnhilde-Felsen als Welt, die aus rudimentären Steinen, Büschen und Höhlen besteht und eine kultische, archaische Anmutung hat. Dann gibt es die Gibichungen-Welt als eine Art Parlament, das ein wenig wie eine Mischung aus Akropolis und dem amerikanischen Kapitol nach der Erstürmung am 6. Januar 2021 wirkt. Mit ihm wird auf die Geschichte unserer Demokratie und ihren aktuell labilen Zustand hingewiesen. Beide Orte können vorn an der Bühne stehen, mit dem anderen sozusagen als Schatten im Hintergrund. Sie können aber auch nebeneinander angeordnet werden, je nachdem wie man sie verdreht oder verkeilt.
Ein Teil des Bühnenbildmodells von Bühnenbildner Demian Wohler
Die Natur wächst in das Zivilisierte hinein.
Der dritte Ort ist die Weltesche; kein schöner Baum, sondern eher ein verdorrtes Gerippe. Die Gibichungen haben den Baum gebändigt und als Keller ausgebaut, auf dessen Fluren die Intrigen sozusagen im Off gesponnen werden.
Gibt es in der Inszenierung trotzdem eine privilegierte Ebene? Klassischerweise wird die Wahrhaftigkeit ja von Brünnhilde verkörpert.
Brünnhilde hat letztendlich eine andere Größe als Hagen, der wie eine pervertierte Form, wie die Fratze unserer Gesellschaft im Sinne des Mottos „Mehr ist mehr“ auftritt. Auch bei Brünnhilde sehen wir Gefühle wie Rachlust und Genugtuung. Die Figuren verbindet außerdem, dass es ihnen allen am Ende um so etwas wie eine Erlösung geht. Aber Brünnhilde hat einfach einen längeren Atem. Hagen rechnet nicht damit, dass sie am Ende bewusst mit in den Tod gehen wird. Die Hoffnung liegt also gar nicht so sehr darin, dass eine der beiden Figuren recht hat, sondern dass erst nach der Auflösung der Verstrickungen etwas Gutes, Neues entstehen kann.
Wagner nennt das ja Liebe, oder?
Er nennt es Liebe, hat uns aber an keiner Stelle gezeigt, dass sie funktionieren kann. Was er als Liebe bezeichnet, muss noch etwas anderes sein als das, was wir gesehen haben. Auch Brünnhilde lebt diese Liebe nicht.
Gibt es zwischen ihr und Siegfried vielleicht so etwas wie einen Vorschein?
Ich würde das nicht als Vorschein, sondern als Versuch bezeichnen. Wir können immer nur versuchen, aus den Fehlern zu lernen, und uns anstrengen, etwas Besseres zu schaffen. Man muss zu einer Form des Wir kommen, als Gegensatz zu dieser Ich-Maximierung, um die es in der Götterdämmerung die ganze Zeit über geht. Darin, dass wir das Wir nicht aufgeben, liegt die Hoffnung.
Das Thema, das man am Ende der Götterdämmerung hört und das das Glück Sieglindes in der Walküre beschwört, behält also auch für Sie den Ausdruck der Hoffnung?
Ja, unbedingt. Das hat, unabhängig von diesem Stück, aber auch mit meiner grundsätzlichen Idee von Theater zu tun. Dafür gibt es das kollektive Moment, dass wir zusammensitzen und gemeinsam über die Dinge nachdenken. Wenn im Theater am Ende nicht die Hoffnung bliebe, müssten wir es nicht machen.

Götterdämmerung

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Mai 2024
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

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8 / 22,50 / 38 / 52 / 69 / 89 / 108 / 128 / 152 €
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9
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