Wirklichkeitskongress

Zum Abschluss des ersten Frühjahrsfestival unter dem Thema „wirklich wirklich“ steht der Wirklichkeitskongress: ein Nachmittag und Abend voller Vorträge, Diskussionen, Film-Screenings und Performances. Was sich dahinter verbirgt, erklärt Dramaturg Franz-Erdmann Meyer-Herder in diesem Beitrag.
Mit dieser Spielzeit hat die Junge Oper mit dem Nord ein eigenes neues Opernhaus eröffnet: die Junge Oper im Nord, kurz JOiN, in der seit Dezember die gläserne Opernwerkstatt, zahlreiche Vermittlungsformate und bereits zwei erfolgreichen Premieren stattgefunden haben. Am 13. April betreten jetzt neben Performer*innen aus dem Bereich Theater und Musik Ideengeber*innen aus Wissenschaft, bildender Kunst und Publizistik und natürlich auch Regisseur*innen die Bühne des Nord. Im Saal und den Foyers, wo das Team von List & Scholz unser Publikum den ganzen Tag bewirtet, finden von 13-21 Uhr verschiedene Veranstaltungen statt, mit Vorträgen, Film-Screenings und Performances in den Foyers und im Saal und nicht zuletzt Gesprächsrunden mit Publikumsbeteiligung – Fragen erlaubt!

In drei Blöcken widmen wir uns verschiedenen Aspekten rund um das Thema des Frühjahrsfestivals wirklich wirklich: zunächst sehr wissenschaftlich mit der Konstruktion von Realitätsempfinden durch verschiedene Arten von Bildern und wie Menschen Informationen verarbeiten. Der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Bernhard Pörksen von der Eberhard Karls Universität Tübingen macht dabei den Anfang und diskutiert in einem Vortrag mit dem Titel „Illusionen der Wahrheit. Von der Gefahr der Gewissheit und der Nützlichkeit des Zweifels“  wie aus den großen und kleinen Kämpfen um das Rechthaben wechselseitiges Verstehen und Verständnis werden kann. Prof. Dr. Oliver Grau von der Donau Universität Krems betrachtet im Anschluss die geschichtliche Entwicklung einer Bildgeschichte der Illusion, von einfachen optischen Täuschungen bis hin zu elaborierten artificial realities. Im Anschluss laden wir zwei Kuratorinnen ein, Dr. Anne Vieth vom Kunstmuseum Stuttgart und Dr. Eva Huttenlauch vom Lenbachhaus München, um mit Oliver Grau darüber zu diskutieren, wo in unserer Wahrnehmung eigentlich das Bild entsteht und wie ein Kunstwerk das Thema Realität beschreiben kann – nur durch Nachbildung, oder eben gerade als Bild?

Zwischendurch gibt es einen musikalischen Einblick in die Probenarbeiten zu Georges Aperghis‘  Rotkäppchen, einer JOiN-Produktion, die am 4. Mai Premiere feiern wird.

In musikästhetischen und philosophischen Kategorien geht es weiter. Wir untersuchen mit dem Komponisten Prof. Martin Schüttler vom Campus Gegenwart der HMDK Stuttgart und dem Regisseur Marco Štorman, der Nixon in China inszeniert hat, wie viel Wahrheit in Musik und bestimmten Opernfiguren steckt. Beide kommen aus unterschiedlichen Richtungen – einer, der in seinen Kompositionen immer wieder das Thema des Theaters und seiner institutionellen Infrastruktur befragt, und der andere, der immer wieder danach fragt, was ein Bild auf der Theaterbühne überhaupt erst möglich macht und welcher Gedanke dahinter steckt. Für uns vor allem wichtig: Was macht die Musik zu solch einem besonderen Mittel, mit dem sich trotz aller Künstlichkeit über die Realität sprechen und diese vielleicht sogar verändern lässt. Bei einer Tasse Tee unterhalten sich Prof. Dr. Katja Diefenbach von der Merz Akademie Stuttgart und Regisseur Stephan Kimmig über Fragen, die das Verhältnis Einzelner zur Masse betreffen. Stephan Kimmig inszenierte Der Prinz von Homburg und stellt darin einen Abweichler vor, der in seiner eigenen Realität lebt und nur durch Zufall ein gesamtes System so sehr erschüttert, dass es sich zum Vorteil aller verändert. Katja Diefenbach beschäftigt sich als Professorin für Ästhetische Theorie mit den geistesgeschichtlichen und ästhetischen Widersprüchen der Moderne. Das Heldentum Einzelner wird in einer kritischen Sichtweise nicht alleine zum Heilmittel einer Gesellschaft, sondern auch zu einer Gefahr, mit der es umzugehen heißt.

Zuletzt nehmen wir uns noch das Thema der Dokumentation vor, die immer wieder das Missverständnis hervorruft, sie gebe ein exaktes Bild der uns umgebenden Realität wieder – spätestens seit leicht erkennbare fake news uns täglich begegnen, müssen wir uns verstärkt mit diesem Thema auseinandersetzen. Andres Veiel ist Dokumentarfilmer und Theatermache aus Berlin. Er präsentiert seine Stückentwicklung „Let them Eat Money“, das auf einem spekulativen Krisenszenario bis zum Jahre 2030 aufbaut, das auf einer Konferenz am Deutschen Theater entstanden ist – die europäische Währungsunion bricht zusammen, Flüchtlingsströme aus dem Iran sind auf dem Weg nach Mitteleuropa, und das gesamte hiesige Wirtschaftssystem wird von anonymen Shareholdern unterminiert.
Anna Sophie Mahler, die sich in ihren Arbeiten für Schauspiel und Musiktheater immer wieder mit Fragen der Dokumentation auseinandersetzt  trifft am Abend auf Johannes Müller vom Performance-Duo Müller/Rinnert (Berlin), das im März als Gastspiel an der Staatsoper White Limozeen als Paraphrase über Madama Butterfly bzw. (post)koloniale Besetzungspraktiken im Musiktheater im Württembergischen Kunstverein zeigte. Anna Sophie Mahler inszenierte im Februar Die Sieben Todsünden/Seven Heavenly Sins, ein Abend, der nicht nur die Frage nach realen Bedingungen des Miteinanders abseits sexueller Differenz verhandelt, sondern auch die Frage, welche Realität körperlicher Erscheinungsweisen Performer*innen mit auf die Bühne bringen. Beide lassen reale Erfahrungen und Zeichenkomplexe, Rechercheergebnisse und sozio-diskursive Hypothesen in ästhetische Kontexte einfließen, und bedienen sich dabei musikalischer Mittel. Bei einem Getränk unterhalten wir uns mit den beiden über das Verhältnis von Recherche und Fiktion auf der Bühne und welche Rolle die Musik dabei spielt.

Den Abend lassen wir nach dem Screening der Mockumentary „Kubrick, Nixon und der Mann im Mond“ entspannt im Foyer ausklingen – mit Musik, Getränken und der Möglichkeit, sich noch ein wenig auszutauschen.

Programm

13 Uhr
Eröffnungsvortrag mit Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Eberhard Karls Universität Tübingen): »Illusionen der Wahrheit. Von der Gefahr der Gewissheit und der Nützlichkeit des Zweifels«
Anekdotisch und ernst, mit Lust an der Zuspitzung und einem Gespür für die fatale Macht der Ideologien erkundet der Wissenschaftler und Bestsellerautor die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Der Vortrag eröffnet einen Nachmittag und Abend, zu dem die Dramaturgie der Staatsoper Akteur*innen aus Kunst, Wissenschaft und Publizistik einlädt, um in Vorträgen, Diskussionen, Film-Screenings und Performances gemeinsam mit dem Publikum zu erforschen, was für sie wirklich wirklich ist. Wir erkunden, auf welche Art von Evidenzen wir uns einlassen können und müssen, wollen wir ein produktives Verhältnis zur Realität einnehmen – sei es in der mündigen Nutzung neuer Medien, sei es im eigenen Wirklichkeitsempfinden, oder sei es als Bedingung für eine engagierte Haltung der Kunst.

14 Uhr
Gläserne Opernwerkstatt: Musikalischer Kurzeinblick in Proben zu George Aperghis Rotkäppchen (Premiere 4.5., JOiN)

14.15 Uhr
„Immersion, Fake & die Macht visueller Filter“
Prof. Dr. Oliver Grau (Donau Universität Krems)

14.45 Uhr
Panel  „Kunst-Räume. Werk, Betrachtung, was ist dazwischen?“
Prof. Dr. Oliver Grau (Donau Universität Krems), Dr. Anne Vieth (Kunstmuseum Stuttgart), Dr. Eva Huttenlauch (Lenbachhaus München)
16.00 Uhr
Panel „Musikalisierung des Theaters. Zum theatralen Mehrwert eines Wirklichkeit zerstreuenden Mediums“
Regisseur Marco Štorman (Nixon in China), Prof. Martin Schüttler (Campus Gegenwart, HMDK Stuttgart)

17.00 Uhr
Afternoon Tea: „Innere und äußere Wahrheit. Vom anarchischen Potential im Verhältnis des Einzelnen zur Masse“
Regisseur Stephan Kimmig (Der Prinz von Homburg), Prof. Dr. Katja Diefenbach (Merz Akademie Stuttgart)

18.30 Uhr
Präsentation/Vortrag „Entwürfe zukünftiger Realitäten zwischen Prognose und Fiktion“
Andres Veiel (Dokumentarfilmer und Theatermacher, Berlin) über seine jüngste Arbeit „Let them eat money. Welche Zukunft?!“ als Intervention im öffentlichen (Denk-)raum.

19.45 Uhr
Cocktail: „Dokumentation und Musiktheater“
Regisseurin Anna Sophie Mahler (Die Sieben Todsünden/ Seven Heavenly Sins) und Johannes Müller (Müller/Rinnert, White Limozeen)

ab 21 Uhr
JOiN-the-Bar mit Musik und Gesprächen. Gastronomie geöffnet.

Außerdem in den Foyers: Performances, Film-Screenings, Installationen