Das Programm der Saison 2022/23 ist veröffentlicht. Darunter sind auch für die Opernbühne eher ungewöhnliche Titel wie Bachs „Johannes-Passion“, selten Aufgeführtes wie Messiaens „Saint François d’Assise“ und natürlich die Vollendung von Wagners „Bühnenfestspiel“, dem „Ring“. Chefdramaturg Ingo Gerlach hat im Rahmen der Jahrespressekonferenz einige Gedanken zur Oper als Genre und seine Grenzen, über Glaubensfragen und ungewöhniche Raumkonstellationen gesprochen. Wir dokumentieren hier seinen Vortrag.
Die Oper zeichnet sich immer schon durch eine Nähe zum Mythischen und auch zum Religiösen aus. Sie beschäftigt sich seit ihren ersten Stücken auch mit der Kommunikation mit Toten bzw. mit dem, was nach den letzten Dingen kommt. Insofern ist der Juli der Saison 21/22 durchaus auch als eine Art Ouvertüre zur kommenden Spielzeit 22/23 zu lesen: weil wir eben mit Monteverdis L’Orfeo an den Anfang der Operngeschichte und in den Hades steigen, und uns mit den Faust-Szenen von Robert Schumann inhaltlich wie formal in Richtung „Oratorium“ bewegen, was ja biblischen Stoffen näher war als der antiken Mythologie.

Leider ist Gretchen bei Schumann wie auch bei Goethe vor allem Stichwortgeberin und Verklärungsassistentin. Aber ihr zu Ehren könnten wir uns natürlich v.a. mit Blick auf die Stücke der kommenden Saison durchaus die Gretchenfrage stellen:

Wie halten wir’s mit der Religion?

Wir haben deutliche religiöse Spuren in unserer Spielzeit. Da geht’s ums Glauben (nicht nur bei der Wirksamkeit von Bordeaux im Liebestrank, sondern auch bei Tarnhelmen und Wahrheitstränken), da geht es mit den beiden letzten Ring-Teilen von Wagner um einen Verfechter der Kunstreligion (dem wir aber nicht blind folgen, und den „Kern der Religion retten“, indem wir ihn in Kunst überführen, sondern den wir eher kritisch befragen – wobei die Gedanken des Rituals und der gesellschaftlichen (An-)Bindung, die sich auch im Religiösen finden, sehr interessieren).

In den Neuproduktionen geht es um Jesus Christus und Jesus-Christus-Nachfolger, um Erlöser*innenfiguren in der unmittelbaren Nachfolge Jesu (der Heilige Franziskus) oder als Gegenentwurf (Siegfried) oder auch vollkommen anders (Kasperl und Seppel) – wobei die Entwicklung des Dreikönigsspiels zum Kasperletheater hier durchaus einen Bezug herstellt.

Wir stellen Gretchenfrage aber vielleicht auch hinsichtlich eines ästhetischen Profils. Denn an den Premieren der kommenden Spielzeit kann man diesbezüglich durchaus etwas erkennen. Wenn wir bei der Statistik beginnen, haben wir recht eigentlich nur eine einzige Oper im Reigen der Neuproduktionen, Donizettis L’elisir d‘amore. Alles andere (auch wenn es sich um Kernrepertoire handelt) sind Sonder- und Eigenformen des Musiktheaters. Wobei die „Oper“ ja, vor allem in den Werken des so genannten „Kanons“, eigentlich nie nur „Oper“ sondern immer eine Kunstform war, die ihre Genregrenzen kontinuierlich verschoben und erweitert hat.

Richard Wagners „Bühnenfestpiel“ Der Ring des Nibelungen ist sowieso eine Ausnahme-Erscheinung und eine formale Herausforderung, weil ja eben vor allem das Erzählen zum zentralen Moment des Dramas wird. Die großen Monologe haben wir zwar mit der Walküre schon hinter uns gebracht, aber auch in Siegfried und der Götterdämmerung geht es ja vor allem um verschiedene Versionen und Erzählungen, werden Botenbericht und Mauerschau zu zentralen Mitteln.

Hotzenplotz ist schon bei Preußler ein Kasperletheater, die Johannes-Passion, die Ulrich Rasche inszenieren wird, ist eben eine Passion und Messiaen bezeichnet seinen Saint François d‘Assise als „Franziskus-Szenen“.

In den Inszenierungsansätzen versuchen wir dieser Vielfalt an Gattungsformen und Genreunterschieden Rechnung zu tragen.

Nicht im Sinne einer historischen Aufführungspraxis, sondern indem wir nach Inszenierungs- und Bildsprachen suchen, die die Unterschiedlichkeiten nicht in einer psychologisch oder filmisch-realistischen, vereinheitlichenden Spielweise marginalisieren, sondern die eine Vielfalt an unterschiedlichen Herangehensweisen an die Oper – weiterhin die „unmögliche Kunstform“ (Oskar Bie) – abbildet. Die Walküre war dafür sicherlich ein prägnantes Beispiel.

Diese Form bildnerischen Erzählens wird zugespitzt in einem Gastspiel, das wir im Rahmen unseres Frühjahrsfestivals, das sich – vermutlich nicht überraschend – um den Ring-Zyklus gruppieren wird: Der Klang der Offenbarung des Göttlichen von dem bildenden Künstler Ragnar Kjartansson mit einer Komposition von Kjartan Sveinsson. Eine Sinfonie mit Tableaux vivants, die in der Tradition der Pictorial Music Plays steht, die Ende des 19. Jahrhunderts erfunden wurden mit der Vision, das Theater vom Drama zu lösen. Also eine Frühform der Postdramatik, wenn man so will.

Autonomisierung von Bühnen-Elementen wird es auch in Ulrich Rasches Inszenierung der Johannes-Passiongehen. Eine Nicht-illusionistische Herangehensweise an den Stoff, die eher installativ ist und die auch die individuellen Bewegungen der Figuren in einer formalen Setzung auflöst. Das korrespondiert aufs Engste mit der Form des Materials (Oratorium), das dem Ritual, der Zeremonie nähersteht als der dramatischen Szene oder dem Dialog und das inhaltlich über die Bruchlinien von Gesellschaften und die Brüchigkeit der Wahrheit ähnlich wie die Götterdämmerung in der Inszenierung von Marco Štorman aktuelle Fragen aufgreift.

Der Raum, in dem wir vor allem Theaterspielen, der Littmannbau, gibt durch seine Struktur natürlich eine bestimmte Form von Theater vor (historisch, sozial, ästhetisch determiniert). Eine erfolgreiche Form, innerhalb derer man sehr vieles und sehr unterschiedliches erzählen kann und die wir auch weiterhin als zentral begreifen. Aber wir sehen es auch als Aufgabe an, immer wieder andere Raumkonstellationen auszuprobieren, die Zuschauer*innen nicht auf einer Position zu fixieren, sondern das Musiktheater auch auf andere Weisen erfahrbar zu machen.

Dass wir es dabei mit dem Apparat der Oper schwerer haben als andere Formen, ist uns bewusst, hindert uns aber nicht daran, es immer wieder zu versuchen. Und so ist der anstehende Orfeo im Im Wizemann auch eine Art Vorstudie zu der großen Abschlussproduktion der kommenden Spielzeit, zu Messiaens Saint François d’Assise, der nicht nur im Opernhaus, sondern auch an anderen Orten in der Stadt aufgeführt werden wird.

Aber wir sehen es auch als Aufgabe an, immer wieder andere Raumkonstellationen auszuprobieren, die Zuschauer*innen nicht auf einer Position zu fixieren, sondern das Musiktheater auch auf andere Weisen erfahrbar zu machen.