Damit „Nie wieder!“ jetzt ist

Welche Rolle können Theater und Kunst in der Erinnerungskultur der Gegenwart spielen? Wie schaffen wir es, unser eigenes Gedenken nicht alleine an dafür vorgesehenen Tagen als oberflächliches „Versöhnungstheater“ aufzuführen? Wie schaffen wir es als Gesellschaft, solidarisch zu bleiben und argumentativ nicht zu verhärten? Gedanken von Dramaturg Franz-Erdmann Meyer-Herder zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Es sind merkwürdige Zeiten, in denen wir leben. Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, den brutalen Terrorattacken auf den einzigen Staat der Welt mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, der militärischen Reaktion darauf und der daraus resultierenden humanitären Katastrophe in Gaza sehen wir uns mit einem Krieg um Deutungshoheit konfrontiert, der nirgends so sehr wütet wie in den Sozialen Medien. Narrative werden von verschiedenen Seiten mit einem Rigorismus formuliert, verteidigt, durchgedrückt und als absolut gesetzt, dass es einen schaudert.
Es bleibt kein Raum für Diskurs und Zwischentöne, für das Menschliche, für wirkende Solidarität, für Empathie und die Offenheit, den Schmerz anderer als den eigenen zu fühlen.

Vollends fassungslos nimmt man zuletzt zur Kenntnis, dass sich ein nicht ganz neues Narrativ durchzusetzen versucht: Diese Erzählung behauptet, die besondere Wahrnehmung des Holocaust und die Würdigung seiner Opfer würdendekolonialen Prozessen im Wege stehen.

In welcher Form? Und wem hilft es, wenn fortan jede schwerwiegende, die Nationalismen des 19. und 20. Jahrhundert verstetigende Konfliktsituation mit dem Holocaust vergleichbar wird? Als wäre Antisemitismus als Ideologie nicht aus ähnlichem Denken entstanden wie Kolonialismus, nur unter Betonung des seltsamen Paradoxes, Jüd*innen seien minderwertig wie übermächtig zugleich. Als wäre nicht das, wofür das am 27. Januar 1945 von sowjetischen Soldaten befreite Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz steht, das Ende aller Menschlichkeit, als wären die Nürnberger Rassegesetze, die Reichspogromnacht, die Wannseekonferenz, das planvolle Vorgehen in der Errichtung eines industriellen Tötungskomplexes nicht historisch einmalig und ohne Beispiel gewesen. Als wäre Antisemitismus nach über 2000 Jahren der jüdischen Diaspora nicht die älteste und tiefsitzendste Diskriminierungsform der Welt. Und als wäre der Vernichtungswille des nationalsozialistischen Regimes gegen jüdisches Leben, gegen Sinti*zze und Rom*nja, gegen Millionen verschleppter Menschen aus dem slawischen Raum, gegen politisch Andersdenkende, gegen queeres Leben und Menschen mit Behinderung und Kranke durch irgendetwas zu relativieren und nicht der Ausdruck eines gegen die ganze Welt gerichteten Wahns, eine nie zu realisierende Ordnung ins vielgestaltige Chaos der unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Menschlichkeit zu bringen.

Heute gedenken wir aller Menschen, die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallen sind. Den über 6 Millionen europäischen Jüd*innen. Den knapp 6 Millionen sowjetischen Zivilist*innen. Den 3 Millionen Kriegsgefangenen aus Osteuropa. Den 1,8 Millionen Opfern aus der polnischen Zivilbevölkerung, den 312.000 aus der serbischen. Den 250.000 Menschen mit Behinderung. Den 250.000 Sinti*zze und Rom*nja. Den 70.000 sogenannten „Asozialen“. Den Abertausenden queerer Menschen.
Es ist die Vielfalt der Diskriminierten und Ermordeten, die den historischen Sonderstatus der nationalsozialistischen Verbrechen ausmacht. Eine Vielfalt, die sich weiterenwickelt hat und die wahrzunehmen, zu schätzen und auszuhalten das höchste Gut in den Gesellschaften sein sollte, die mit dem Erbe von Faschismus und Nationalsozialismus beladen sind und in denen sie wieder zur Zielscheibe verschiedener Angriffe wird.

Erinnerungskultur funktioniert aber nur dort, wo wir sie aktiv betreiben und nicht alleine als „Versöhnungstheater“, wie es der Autor Max Czollek in seinem 2023 unter gleichem Titel erschienenen Buch nennt. Um benennen zu können, wo sich eine drohende Wiederholung der NS-Verbrechen abzeichnet, muss man verstehen lernen, auf welcher Grundlage diese geschehen konnten. Dazu reicht es nicht, Diskriminierungsformen wie Antisemitismus immer nur als Gerücht oder als locker sitzende Delegitimierungsstrategie wahrzunehmen, indem man jeweils nur mit dem Finger auf andere zeigt und es nicht schafft, den eigenen Diskurs auf Reproduktion entsprechender Muster und Kontextualisierungen zu durchleuchten. Vor einigen Jahren haben sich doch viele Menschen in Reaktion auf die Black Lives Matter-Proteste kollektiv darauf verständigt, dass es ein rassistisches Grundrauschen in den westlichen Gesellschaften gibt, von dem niemand ausgenommen ist. Wieso sollte das bei Antisemitismus anders sein?

Doch kommen wir zurück zum „Versöhnungstheater“: Als Vorgang, der lediglich auf Entsühnung aus ist und das Gefühl vermitteln soll, dass man genug getan hätte, ist diese Sorte der Aufführung erinnernder Momente fatal. Es ist der Modus der klassischen Tragödie in der verbreiteten Lesart – vor dem eigenen Mitleid erschauernd wird der Mensch geläutert und geht vermeintlich verbessert wieder ins Leben hinaus. Aus guten Gründen machen wir solches Theater heute nicht mehr und wir sollten so erstrecht nicht mit den explizit politischen Formen des Erinnerns unseres historischen Erbes umgehen.
Eine wünschenswerte Erinnerungskultur hält den Schmerz präsent und erinnert uns tagtäglich daran, dass man alles dafür tun muss, den Begriff des Lebens als universelles Gut vor Angriffen zu schützen, die ihn zerlegen wollen in wert oder unwert – egal, von welcher Seite.

Darin darf es keine Hierarchisierung geben und der politische Kampf und seine Argumentationen müssen auf dieser Grundüberzeugung geführt werden, sonst führt er zu nichts als Spaltung und destabilisiert und zerstört so die Grundlage für politische Auseinandersetzung und den Austausch innerhalb vielfältiger Gesellschaften überhaupt. Dafür müssen wir temporäre oder kontextabhängige Widersprüche und Mehrdeutigkeiten, Zumutungen ohnegleichen, aushalten lernen, um wirkliche Solidarität zu erreichen. Die Kunst, das Theater im weitesten Sinne, kann und darf dabei nicht Absolution erteilen, nicht Richterin oder Polizist sein.
Die Kunst sollte uns die Wunde zeigen und nicht das Pflaster spielen. Sie ruft uns immer wieder auf, auch andere Perspektiven als die meinige einzunehmen ohne zu vereinfachen und vorzuschreiben, welche die richtige ist.

Schon darin ist sie radikal verschieden vom Zeitgeist. Erinnern wir uns also mit Blick darauf, was uns die Freiheit zu erinnern überhaupt ermöglicht, jeden Tag, was passiert ist, was gerade passiert und was in Zukunft passieren könnte – damit „Nie wieder!“ jetzt ist.