Für ihn steht der Mensch im Mittelpunkt: Toni Jessen hat für die szenische Adaption der „Johannes-Passion“ die Choreografie, oder wie er sagt: die „Körperarbeit“, für Ensemble und Chor entworfen. Henrike Wagner hat mit ihm darüber gesprochen, wie er Körper und Musik bei Bach in Einklang bringt.
Herr Jessen, wie würden Sie Ihre Choreografie bei der Johannes-Passion beschreiben?
Toni Jessen: Ich würde es eher als Körperarbeit beschreiben und weniger als Choreografie in dem Sinne, dass wir uns kreative Konstellationen ausdenken, die wir in den Raum stellen. Das wesentliche Element ist die sich drehende Scheibe und wir sind daran interessiert, die Sänger und Sängerinnen in Bewegung zu bekommen, in ein gleichmäßiges Gehen, ein Laufen, ein Schreiten und darin den Ausdruck zu finden, den es braucht für die Passion. Also habe ich mir Gedanken gemacht, welche Gesten und welchen Ausdruck man finden kann, um den Inhalt zu intensivieren. Die Bühnenelemente wurden auch choreographiert, die Lichtwände, die herunterfahren, das musste alles abgestimmt werden. Es ist eine Verzahnung von Bühnenchoreografie und Choreografie der Sänger und Sängerinnen.
Wie wird die Choreografie genau auf die Musik abgestimmt?
Toni Jessen: Jede einzelne Nummer hat eine „Schrittpartitur“ bekommen über den Probenprozess.

Wie schreibt man so etwas auf?
Toni Jessen: Das haben wir in den Noten mit Markierungen getan. Das Schwierige war herauszufinden: Nimmt man in einem 4/4-Takt jede Viertelnote als einen Schritt oder jede zweite Viertelnote oder nur jede Erste? Wie bewegt ist das Stück, und wie sehr wollen wir, dass der Sänger oder die Sängerin sich mit dem Stück bewegt? Wir haben verschiedene Varianten ausprobiert, bis wir zu einem Ergebnis gekommen sind. Das Besondere an Bachs Musik: Die Rezitative in der Johannes-Passion werden frei gesungen, da es keine Taktstriche gibt. Deshalb mussten wir das sehr individualisieren, dass der Sänger uns gesagt hat: „Hier ist ein Schwerpunkt meiner Phrase, hier kann ich Energie abgeben mit einem Schritt.“ Der nächste Schwerpunkt kommt aber erst nach zehn Sekunden, weil es kein Metrum gibt in den Rezitativen. Dadurch entstehen Verzögerungen oder Verdichtungen in der Dynamik. In den Arien wird das dann wieder aufgefangen in einem gleichmäßigen Rhythmus.

Toni Jessen ist als Choreograf für die „Körperarbeit“ bei der Johannes-Passion verantwortlich – Foto: Paula Stietz

Das stelle ich mir körperlich und sängerisch als eine große Herausforderung vor.
Toni Jessen: Ja, war es auch. Die Frage war: Welchen Ausdruck suchen wir, und welche Schrittfrequenz brauchen wir dafür, dass der Sänger in Bewegung kommt, seinen Gesang noch technisch sauber ausführen kann, er aber auch eine Gestik, eine Dramatik, einen Ausdruck bekommt. Das war für die Sänger und Sängerinnen schwierig zu verbinden, weil das nochmal eine andere Konzentration braucht, den Körper „tanzen“ zu lassen mit dem Gesang, wie sie ihn einstudiert haben.
Haben Sie hier einen Unterschied bemerkt zwischen dem Chor und dem Solo-Ensemble?
Toni Jessen: Natürlich haben die Solisten mehr proben können und kennen die Bühne besser. Der Chor kann sich aber – und das ist ein großer Vorteil – zusammenschließen, gegenseitig befeuern und Bewegungen potenzieren. Er schafft auch per se durch die Menge an Menschen ein Bild, was permanent wabert. Die einen fangen mit links an, die anderen mit rechts und schon hat man Gegenläufigkeiten und sich verschiebende Elemente. Wir synchronisieren alle, aber wir schalten sie nicht gleich.

Gehen ist nicht gleich gehen – auch für den Chor legt eine „Schrittpartitur“ die Bewegungen fest – Foto: Matthias Baus


Was bedeutet „Körperarbeit“ im Zusammenhang mit der Johannes-Passion für Sie?
Toni Jessen: Wir haben einen Ausdruck gefunden, der sehr innerlich ist, also von jedem persönlich kommt und sich über die Präsenz des Körpers äußert. Wir haben viel über Hände gesprochen, über Arme, über das jemanden erreichen wollen oder etwas zu sich heranziehen. Es ist wie ein Brennglas: der einzelne Sänger auf dieser sich drehenden Scheibe, der sich selbst ausgesetzt ist und im Gespräch mit dem Inhalt ist oder in dem Fall mit Gott oder mit Jesus. Das Interesse war, sich zu verbinden mit dem Leiden oder mit der Erlösung und dafür Gesten und Präsenzen im Körper zu finden.

Es ist eher ungewöhnlich, dass diese Form der „Körperarbeit“ überhaupt bei der Johannes-Passion vorliegt. Bei einer Inszenierung im Kirchenraum passiert das schließlich nicht.
Toni Jessen: Ja, genau. Deshalb finde ich es interessant, dass man hier dem Körper mehr Raum gibt. Das ist das Potenzial der Inszenierung, dass man nicht in einem kirchlichen Rahmen die Passion singt und sich daran erinnert, sondern dass man sie nacherlebt und sich mehr hineinbegeben darf als Sänger und Sängerin und die Inhalte meines Erachtens dadurch noch tiefer gehen.

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