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19.10.2023 Der weibliche Makel
Der weibliche Makel
Wann ist eine Frau eine Frau? Diese Frage verhandelt Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“. Ein Artikel von Teresa Bücker aus dem Magazin der Staatstheater Stuttgart „Reihe 5“ über die Frage, was wir gewinnen würden, wenn Kinderlosigkeit endlich kein Stigma mehr wäre – und Mütter die Welt wirklich mitgestalten dürften.
Mutterschaft ist Macht. Mutterschaft unterwirft uns. Mutterschaft ist ein politischer Schlüssel, weil sie sich an der Zukunft orientiert, doch ihre stärkste Eigenschaft ist im Dickicht ihrer Ambivalenzen zunächst unsichtbar. Die Möglichkeit, Mutter zu werden oder nicht, könnte Frauen näher zusammenbringen, statt sie voneinander zu trennen. Dafür muss sich der Blick auf das, was uns trennt, verändern.
Es ist wissenschaftlich belegt, dass der Mutterinstinkt eine kulturelle Erfindung ist. Jeder Mensch kann sich gleich gut um Kinder kümmern, sofern wir das Korsett traditioneller Geschlechterrollen ablegen. Zum einen gibt die Verknüpfung von Weiblichkeit und Mutterschaft Frauen ein Gefühl der Minderwertigkeit, solange sie ohne Kinder leben. Die patriarchale Kultur konstruiert, dass einer Frau ohne Kind etwas zu ihrer Vollständigkeit fehle. Zum anderen soll ihre vermeintliche Natur Mütter in die Selbstaufgabe stürzen, sodass sie alle Aufgaben rund um den Nachwuchs allein übernehmen, leise statt unbequem sind und daneben kaum noch Zeit und Energie haben, andere Interessen zu verwirklichen. Die falsche Behauptung, Frauen seien unweigerlich fürsorglicher als Männer, schließt sie vorsätzlich von gesellschaftlicher Teilhabe aus. Das herrschende Mutterbild ist hochgradig paradox und löst nicht ein, dass erst ein Leben mit Kindern für Frauen ein komplettes und besseres Leben sei.
Denn würde Frauen ohne Kind etwas fehlen, um ihr Menschsein voll auszukosten, müsste Elternschaft mit einem höheren Grad an Freiheit verbunden sein. Würde die Entscheidung für Kinder ermächtigen, dann wären der gesellschaftliche und politische Diskurs voller Mütter, die mit ihren Ideen die Zukunft gestalten. Sie wären sichtbar, einflussreich, respektiert. Care-Verantwortliche wären nicht erschöpft, isoliert, häufig von Armut betroffen. Alle Menschen sind dazu bestimmt, frei zu sein. Wie kann es sein, dass sich eine sexistische Idealisierung von Mutterschaft hält, die das Leben von Frauen beengt und diejenigen, die sich nicht für Elternschaft interessieren oder nicht schwanger werden können, stigmatisiert?
Gesellschaften können nur überleben, die kapitalistische Wirtschaft kann nur wachsen, wenn Kinder geboren werden. Frauen ermöglichen den „Fortbestand der Zukunft“, schreibt die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth. Die reproduktive Selbstbestimmung gebärfähiger Menschen ist mächtiger als Politik und Geld. Diejenigen ohne Uterus hätten die Wahl, diese Macht zu würdigen, indem sie ein gleiches Mitbestimmungsverhältnis darüber, wie das Zusammenleben organisiert ist, schaffen würden. Indem ein Gesellschaftsentwurf berücksichtigt würde, unter dessen Bedingungen sich Menschen frei und ohne Reue für Kinder entscheiden können. Stattdessen ist Mutterschaft nahezu überall in der Welt verbunden mit Zwang und Marginalisierung. Die kulturelle Codierung von Weiblichkeit übt Druck aus, Mutter zu werden. Sexualisierte Gewalt, der fehlende Zugang zu Verhütungsmitteln und strenge Abtreibungsregeln oder -verbote nehmen vielen Menschen die Möglichkeit, sich selbstbestimmt für oder gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden. Mütterfeindliche Gesellschaftsentwürfe müssen die Entscheidung für Kinder ideell überhöhen, um nicht auszusterben. Daher müssen Frauen diese Absurdität decodieren, um nicht von einem falschen Versprechen betrogen zu werden.
Die Herrschaft des Patriarchats können Frauen und Queers durchbrechen, indem sie sich stärker aufeinander beziehen und dem Urteil von (Cis-) Männern die Bedeutung verweigern. Denn die Idee, dass erst ein eigenes Kind dazu führe, eine „echte Frau“ zu sein, stammt nicht von Frauen. Diese kulturellen Normen sind notwendig, um Männlichkeit als etwas Überlegenes zu konstruieren. Patriarchale Gesellschaften kennen bisher keine Formen von Männlichkeit, die ohne die Herabsetzung von Weiblichkeit auskämen. Erst das Konkurrieren um die Gunst der Männer führt dazu, dass Frauen einander abwerten, um als „gute Frau“ auserwählt zu werden. Auch die unkritische Akzeptanz von Strukturen, die auf männliche Lebensmodelle ausgerichtet sind, wie Vollzeitjobs und unterbrechungsfreie Erwerbsbiografien, bringt Frauen dazu, die Mutterschaft als störend oder defizitär wahrzunehmen. Doch jede*r, der*die Mütter belächelt und sie an den Rand der Gesellschaft verweist, verleugnet die eigenen Wurzeln. Frauen werden erst zu Empathie finden, wenn sie aufhören, Mütter dafür zu hassen, dass sie letztlich etwas Irrationales tun: Kinder bekommen, auch ungewollt, um der Rolle der perfekten Frau gerecht zu werden.
Das italienische Philosophinnenkollektiv Diotima ist der Auffassung, dass eine neue symbolische Ordnung entstünde, wenn Frauen einander Autorität zuwiesen und sich stärker mit der Unterschiedlichkeit von Frauen beschäftigten, um als Individuen sichtbar zu werden. Sie könnten sich dann interessiert und kritisch mit den vielfältigen Wünschen und Lebensmodellen anderer Frauen beschäftigen, ohne diese abwerten zu müssen, um sich mächtig zu fühlen. Gegenwärtig haben Frauen nur wenig Spielraum, in dem sie sich aufrichtig für ihre Differenzen interessieren und sie als Basis einer Gemeinschaft verstehen können. Mütter ertrinken in Care-Aufgaben, während Frauen ohne Kinder sich mittlerweile zwar (vermeintlich) weniger erklären müssen, dafür aber etwas anderes aufopferungsvoll verfolgen. Im Heranwachsen verinnerlichten als Mädchen erzogene Kinder Selbstausbeutung und Zeitstress als „Pflichtnorm“, so die Soziologin Jenny Shaw, was heißt, dass auch Frauen ohne Kinder sich immer wieder verausgaben müssen, um die weibliche Norm zu erfüllen. Nicht die Möglichkeit, ein Kind zu gebären, ist das, was Frauen gemeinsam haben oder was sie von Männern unterscheidet. Frauen sind Menschen, die keine Pausen machen dürfen, die niemals gut genug sind, die jeden Tag etwas an sich finden, an dem sie arbeiten müssen. Wenn du nicht schwanger werden kannst, hast du versagt. Du hast es zu spät versucht. Du bist zu gestresst. Wenn du schwanger geworden bist, handelst du unvernünftig. Du weißt es doch besser. Diese brutalen Normen lassen sich zurückweisen und durchbrechen.
Wenn Frauen erkennen, dass nicht Mutterschaft sie trennt, sondern die unerreichbaren Standards in allen Lebensbereichen, können sie Empathie füreinander entwickeln und gemeinsam eine Welt bauen, in der Kinder zu haben oder nicht nur noch ein Unterschied von vielen ist. Frauen können sich gegenseitig inspirieren, eigene Wege zu gehen. Wenn sich im Sinne der Community-Care alle für die Zukunft verantwortlich fühlen, wird jedes Kind viele Mütter haben. Die ungewollte Kinderlosigkeit können wir mit neuen sozialen Praktiken überwinden. Was sonst ist Frausein, wenn nicht ihre Welt immer wieder neu zu erfinden?
Es ist wissenschaftlich belegt, dass der Mutterinstinkt eine kulturelle Erfindung ist. Jeder Mensch kann sich gleich gut um Kinder kümmern, sofern wir das Korsett traditioneller Geschlechterrollen ablegen. Zum einen gibt die Verknüpfung von Weiblichkeit und Mutterschaft Frauen ein Gefühl der Minderwertigkeit, solange sie ohne Kinder leben. Die patriarchale Kultur konstruiert, dass einer Frau ohne Kind etwas zu ihrer Vollständigkeit fehle. Zum anderen soll ihre vermeintliche Natur Mütter in die Selbstaufgabe stürzen, sodass sie alle Aufgaben rund um den Nachwuchs allein übernehmen, leise statt unbequem sind und daneben kaum noch Zeit und Energie haben, andere Interessen zu verwirklichen. Die falsche Behauptung, Frauen seien unweigerlich fürsorglicher als Männer, schließt sie vorsätzlich von gesellschaftlicher Teilhabe aus. Das herrschende Mutterbild ist hochgradig paradox und löst nicht ein, dass erst ein Leben mit Kindern für Frauen ein komplettes und besseres Leben sei.
Denn würde Frauen ohne Kind etwas fehlen, um ihr Menschsein voll auszukosten, müsste Elternschaft mit einem höheren Grad an Freiheit verbunden sein. Würde die Entscheidung für Kinder ermächtigen, dann wären der gesellschaftliche und politische Diskurs voller Mütter, die mit ihren Ideen die Zukunft gestalten. Sie wären sichtbar, einflussreich, respektiert. Care-Verantwortliche wären nicht erschöpft, isoliert, häufig von Armut betroffen. Alle Menschen sind dazu bestimmt, frei zu sein. Wie kann es sein, dass sich eine sexistische Idealisierung von Mutterschaft hält, die das Leben von Frauen beengt und diejenigen, die sich nicht für Elternschaft interessieren oder nicht schwanger werden können, stigmatisiert?
Gesellschaften können nur überleben, die kapitalistische Wirtschaft kann nur wachsen, wenn Kinder geboren werden. Frauen ermöglichen den „Fortbestand der Zukunft“, schreibt die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth. Die reproduktive Selbstbestimmung gebärfähiger Menschen ist mächtiger als Politik und Geld. Diejenigen ohne Uterus hätten die Wahl, diese Macht zu würdigen, indem sie ein gleiches Mitbestimmungsverhältnis darüber, wie das Zusammenleben organisiert ist, schaffen würden. Indem ein Gesellschaftsentwurf berücksichtigt würde, unter dessen Bedingungen sich Menschen frei und ohne Reue für Kinder entscheiden können. Stattdessen ist Mutterschaft nahezu überall in der Welt verbunden mit Zwang und Marginalisierung. Die kulturelle Codierung von Weiblichkeit übt Druck aus, Mutter zu werden. Sexualisierte Gewalt, der fehlende Zugang zu Verhütungsmitteln und strenge Abtreibungsregeln oder -verbote nehmen vielen Menschen die Möglichkeit, sich selbstbestimmt für oder gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden. Mütterfeindliche Gesellschaftsentwürfe müssen die Entscheidung für Kinder ideell überhöhen, um nicht auszusterben. Daher müssen Frauen diese Absurdität decodieren, um nicht von einem falschen Versprechen betrogen zu werden.
Die Herrschaft des Patriarchats können Frauen und Queers durchbrechen, indem sie sich stärker aufeinander beziehen und dem Urteil von (Cis-) Männern die Bedeutung verweigern. Denn die Idee, dass erst ein eigenes Kind dazu führe, eine „echte Frau“ zu sein, stammt nicht von Frauen. Diese kulturellen Normen sind notwendig, um Männlichkeit als etwas Überlegenes zu konstruieren. Patriarchale Gesellschaften kennen bisher keine Formen von Männlichkeit, die ohne die Herabsetzung von Weiblichkeit auskämen. Erst das Konkurrieren um die Gunst der Männer führt dazu, dass Frauen einander abwerten, um als „gute Frau“ auserwählt zu werden. Auch die unkritische Akzeptanz von Strukturen, die auf männliche Lebensmodelle ausgerichtet sind, wie Vollzeitjobs und unterbrechungsfreie Erwerbsbiografien, bringt Frauen dazu, die Mutterschaft als störend oder defizitär wahrzunehmen. Doch jede*r, der*die Mütter belächelt und sie an den Rand der Gesellschaft verweist, verleugnet die eigenen Wurzeln. Frauen werden erst zu Empathie finden, wenn sie aufhören, Mütter dafür zu hassen, dass sie letztlich etwas Irrationales tun: Kinder bekommen, auch ungewollt, um der Rolle der perfekten Frau gerecht zu werden.
Das italienische Philosophinnenkollektiv Diotima ist der Auffassung, dass eine neue symbolische Ordnung entstünde, wenn Frauen einander Autorität zuwiesen und sich stärker mit der Unterschiedlichkeit von Frauen beschäftigten, um als Individuen sichtbar zu werden. Sie könnten sich dann interessiert und kritisch mit den vielfältigen Wünschen und Lebensmodellen anderer Frauen beschäftigen, ohne diese abwerten zu müssen, um sich mächtig zu fühlen. Gegenwärtig haben Frauen nur wenig Spielraum, in dem sie sich aufrichtig für ihre Differenzen interessieren und sie als Basis einer Gemeinschaft verstehen können. Mütter ertrinken in Care-Aufgaben, während Frauen ohne Kinder sich mittlerweile zwar (vermeintlich) weniger erklären müssen, dafür aber etwas anderes aufopferungsvoll verfolgen. Im Heranwachsen verinnerlichten als Mädchen erzogene Kinder Selbstausbeutung und Zeitstress als „Pflichtnorm“, so die Soziologin Jenny Shaw, was heißt, dass auch Frauen ohne Kinder sich immer wieder verausgaben müssen, um die weibliche Norm zu erfüllen. Nicht die Möglichkeit, ein Kind zu gebären, ist das, was Frauen gemeinsam haben oder was sie von Männern unterscheidet. Frauen sind Menschen, die keine Pausen machen dürfen, die niemals gut genug sind, die jeden Tag etwas an sich finden, an dem sie arbeiten müssen. Wenn du nicht schwanger werden kannst, hast du versagt. Du hast es zu spät versucht. Du bist zu gestresst. Wenn du schwanger geworden bist, handelst du unvernünftig. Du weißt es doch besser. Diese brutalen Normen lassen sich zurückweisen und durchbrechen.
Wenn Frauen erkennen, dass nicht Mutterschaft sie trennt, sondern die unerreichbaren Standards in allen Lebensbereichen, können sie Empathie füreinander entwickeln und gemeinsam eine Welt bauen, in der Kinder zu haben oder nicht nur noch ein Unterschied von vielen ist. Frauen können sich gegenseitig inspirieren, eigene Wege zu gehen. Wenn sich im Sinne der Community-Care alle für die Zukunft verantwortlich fühlen, wird jedes Kind viele Mütter haben. Die ungewollte Kinderlosigkeit können wir mit neuen sozialen Praktiken überwinden. Was sonst ist Frausein, wenn nicht ihre Welt immer wieder neu zu erfinden?
Die Frau ohne Schatten
Wahrlich berauschend große Oper: Eine „Zauberflöte fürs 20. Jahrhundert“ wollten Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal mit ihrer Frau ohne Schatten schreiben. Herausgekommen ist am Ende eine so vielschichtige wie klanggewaltige und überwältigende Märchenoper! Der Kaiser droht zu Stein zu werden, sollte die Kaiserin nicht innerhalb von drei Tagen einen Schatten werfen – also schwanger werden. Gemeinsam mit ihrer Amme macht sie sich auf den Weg zur Färberin, um ihr die Fruchtbarkeit abzukaufen. Doch letztendlich weigert sich die Kaiserin, andere für ihr eigenes Glück ins Unglück zu stürzen, ist damit geläutert und wirft plötzlich ihren eigenen Schatten. Ein Märchen mit seltsamem Mutterschaftsbild ... Musikalisch ist diese Oper ganz besonders farbenreich und überwältigend, gespielt von einem so großen Orchester, dass es kaum in unseren Orchestergraben passt.