„Ein magischer Ort von unglaublicher Kraft“

Das Team von „Fundbüro“, der neuen Produktion der Jungen Oper im Nord, steht kurz vor der Premiere. In der aktuellen Ausgabe von „Reihe 5“, dem Magazin der Staatstheater Stuttgart, berichten Martin Mutschler und Keith Bernard Stonum im Interview mit Sarah-Maria Deckert über diesen ganz besonderen Ort der Erinnerung, den Sie ab 19. Januar 2024 im JOiN besuchen können.
In meiner Vorstellung ist ein Fundbüro ein eher profaner Raum, in dem Dinge landen und einstauben, die verloren oder vergessen wurden. Ihr beschreibt diesen Raum aber als „magisch“. Was ist magisch daran?
Martin: Fundbüro beschreibt die irre und sehr grundlegende Erfahrung, dass man etwas verliert und sich dann auf die Suche danach macht. Es gibt aber Dinge – auch Menschen –, die nicht wiederkommen, außer in Ausnahmefällen. Im Fundbüro verdichtet sich die Idee des Wiederfindens. Es muss ein Ort sein, an dem enorme physikalische, chemische und emotionale Kräfte herrschen. Und die Menschen, die da arbeiten oder hinkommen, haben ein besonderes Verhältnis zum Verlust. Magisch wird es in dem Moment, in dem vielleicht nicht unbedingt etwas wieder auftaucht, sich aber etwas auflöst wie ein jahrelanger Zweifel, der zur Bestätigung wird.
Keith: Man kann es sich vorstellen wie ein schwarzes Loch. Dank der Wissenschaft wissen wir, dass es das gibt, aber wir wissen nicht, was da alles drin ist. Es ist ein magischer Ort von unglaublicher Kraft. Himmel, Hölle, Paradies – alles auf einmal. Dort werden Emotionen, Hoffnung, Trauer auf einen Punkt zusammengepresst. Dieser Ort hat eine eigene Logik. Wie in der Quantenphysik, in der an einem Ort beides sein kann: Die Katze ist gleichzeitig tot und lebendig.
Ich stelle mir einen Raum voller verlorener Schlüssel, Handys und Geldbeutel vor. Geht es denn überhaupt um Dinge? Oder um größere Verluste: Menschen, Ideen, sich selbst?
Martin: Wir arbeiten mit Objekten, die nicht mehr realistisch oder offensichtlich sind. Ich muss den konkreten Schlüssel nicht zeigen, um die Angst zu beschreiben, wenn ich merke, dass er nicht mehr in meiner Tasche ist. Das Gefühl ist viel entscheidender. Außerdem wirken hier so große physikalische Kräfte, dass das Objekt in der Schachtel, das vor ein paar Jahren abgegeben wurde, nicht mehr dasselbe ist. Es hat sich durch die Nachbarschaft mit tausend anderen Handys verwandelt.
Wenn das Ding aber nicht mehr das ist, was es war, will ich es dann überhaupt wiederhaben?
Martin: Die Gegenstände verwandeln sich in dem Moment, in dem sie ihre Funktion verlieren. Ein Kuscheltier ist ja nicht das Stück Stoff, sondern die Bedeutung, die es bekommt, wenn es emotional aufgeladen wird. Ein Kuscheltier mag sich verändern, wenn es drei Jahre lang in einer Kiste liegt – die Emotion dazu nicht.
Keith: Durch die Suche wird die emotionale Verbindung eher noch stärker.
Martin: Genau. Und: Den Schlüssel zu meiner Wohnung wiederzufinden finde ich jetzt auch gar nicht so spannend, weil es Wege gibt, ihn wiederzubeschaffen. Ein Schlüssel aber, von dem ich gar nicht weiß, zu welchem Schloss er gehört, ist viel spannender. Weil seine Bedeutung nicht sofort oder niemals klar ist.
Alma Ruoqi Sun und Itzeli Jáuregui inmitten der abstrakten Objekte in Fundbüro; Foto Matthias Baus
Das bekommt dann ja fast archäologische Qualität. Wir finden doch permanent Dinge, die uns nicht gehören. Ob hinterm Küchenschrank unseres Vormieters oder die Spuren unserer Vorfahren in antiken Ausgrabungsstätten …
Martin: Das ist das Tolle an diesem Thema! Es geht um die Geschichte, die an einem Objekt klebt. Wenn es diese emotionale Aufladung nicht gäbe, wäre das Fundbüro kein gefährlicher Ort, sondern nur ein Archiv. Aber es ist ein Ort der Erinnerung. Da spielt auch Musik eine große Rolle und ihr Assoziationsreichtum, weil sie ein Ort der Erinnerung ist. Deshalb kuratieren wir im Stück verschiedene Stile klassischer Musik, Pop- und Folksongs mit fünf Sänger*innen des Opernstudios.
Keith: Die kommen aus der ganzen Welt, aus Mexiko, Kolumbien, Norwegen, China und den USA, und sie werden in ihrer jeweiligen Muttersprache singen.
Die Inszenierung wird als „musikalische Expedition“ beschrieben. Klingt anstrengend.
Martin: (lacht) Sollte es gar nicht! Es beschreibt eher, dass man sich auf eine Reise begibt. Musik markiert Zeit, die verstreicht, und dabei färbt sie sie ein. Das wird eine Expedition ins Ungewisse, Terra incognita, aber eben in uns drin.
Habt ihr denn selbst mal was verloren, das euch heute noch nachgeht?
Martin: Jedes Mal, wenn ein Mensch, der einem nahesteht, verloren geht, beispielsweise auch in einer Beziehung, ist das eine irre Erfahrung. Weil sie nicht aufzulösen ist, egal wie viel Verständnis man dafür aufbringt. Da ist ein Verlust, den kein Fundbüro der Welt wiederherstellen kann. Und vielleicht kommt aus so einer Erfahrung mein Interesse für einen Ort, der eine trotzige Hoffnung birgt.
Keith: Das ist jetzt sehr persönlich, aber whatever, let’s do it: Ich hatte mal eine sehr kurze, sehr intensive Beziehung mit einer Person. Schnell hat sich herausgestellt, dass diese Person eine narzisstische Störung hat. Es war klar, dass wir das nicht weiterverfolgen. Aber ich bin immer wieder zum Fundbüro gefahren und habe versucht, dass es vielleicht doch geht, dass wir es schaffen. Das war jedes Mal so schmerzhaft, dass ich aufgehört habe. Nicht zu suchen hat sehr lange sehr wehgetan. Erst vor ein paar Tagen habe ich eine SMS von dieser Person bekommen – und da war gar nichts mehr. Zeit ist ein wichtiger Faktor bei so einer Suche. Man selbst verwandelt sich. Und das Objekt kann dann irgendwann dableiben, im Fundbüro, tief im schwarzen Loch.
Martin: Alexander Kluge hat vor ein paar Jahren in einem Interview gesagt, dass er im Grunde immer noch daran arbeitet, seine Eltern zusammenzubringen, die sich getrennt hatten, als er ein Kind war. Und das mit Mitte achtzig, heute 91. Aus diesem ständigen Bewältigen und Begreifen entsteht für ihn eine künstlerische Energie. Die Frage, ob das real ist oder nicht, stellt sich in dem Moment gar nicht. Aber diese Denkfigur hat mir sehr imponiert: dass man nicht ein Leben lang unter etwas leidet oder durch ein Trauma determiniert wird. Sondern dass man es in eine kreative Energie umwandelt, aus der man etwas gewinnt.
Martin Mutschler und Keith Bernard Stonum; Foto Matthias Baus
Dieses Interview ist ein Auszug aus einem längeren Gespräch mit der neuen JOiN-Leitung. Das gesamte Gespräch mit Martin Mutschler und Keith Bernard Stonum erschien in der aktuellen Ausgabe von Reihe 5, die kostenlos an allen Spielstätten sowie an der Tageskasse der Staatstheater Stuttgart und vielen weiteren Orten in Stuttgart zu haben ist.

Fundbüro

Eine musikalische Expedition von MEMBRA
Jan 2024
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Fr
19
19:00
Nord
Premiere
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

So
21
19:00
Nord
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Di
23
19:00
Nord
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Do
25
19:00
Nord
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Fr
26
19:00
Nord
Besetzung
Mai 2024
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Di
14
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Do
16
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung
Jun 2024
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Do
13
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Fr
14
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Sa
15
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Di
18
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung
https://www.staatsoperstuttgart.de Staatsoper Stuttgart Oberer Schloßgarten 6, 70173 Stuttgart

Do
20
19:00
Nord
18/7 €
Besetzung