­Koine oder vorlustige Worte!

Felix Ensslin inszeniert im Januar 2020 die Uraufführung von Slavoj Žižeks „Die drei Leben der Antigone“ – ebenjenem Stück, das unserer Produktion von Leo Dicks Oper „Antigone-Tribunal“ zu Grunde liegt. In seinem Text denkt der Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung über die Themen von Žižeks Text nach.
Vorlust also. #Vorrede zu, weniger auf, dem Theater. Anfangen: Die „lebende Tote“ #Antigone des Sophokles lebt in Slavoj #Žižeks Die drei Leben der Antigone gleich dreimal. Und stirbt mindestens zweimal. Nein. Das kann nicht stimmen. Wenn sie dreimal lebt, muss sie doch sicher auch dreimal sterben?

Bei #Sophokles ist es der Tod eines Anderen, der sie zu eben jener „lebenden Toten“ macht, nämlich der Tod ihres Bruders Polyneikes. Von außen greift er mit einem Söldnerheer die Stadt Theben an, also jenes Staatsgebilde, dass den Labdakiden, der Familie des Ödipus, und damit,  #après-coup, der ödipalen Familie, im Moment der Unsicherheit und der Verfolgung ein Bleiberecht, Asyl, geboten hat. Auch der andere Bruder, Eteokles, ist in diesem Kampf gefallen. Doch seiner ist ein #Heldentod, denn er verteidigt die Ordnung, die ihn aufgenommen hat und schützt. Ein #Staatsbegräbnis ist ihm sicher. Seinem rebellischen Bruder dagegen droht die Infamie, das Vergessen, ein „unbetrauerbarer Tod“ (Judith Butler).

#Strategisch: Wie crazy ist das denn? Antigone ist Das Stück. Sophokles’ Tragödie gilt als
benchmark der Tragödie, als historischer und ästhetischer Fokuspunkt der Einsicht, dass Endlichkeit und Wille, Leben und Tod, Ordnung und Selbstbehauptung nicht einfach #gemanaged werden können. Seit G.W.F. Hegel Antigone zum absoluten Bezugspunkt des Konfliktes zwischen Allgemeinheit und Individualität gemacht hat, ist Antigone das „erhaben-schöne Bild“ (Jacques Lacan) eines Verhängnisses. Und jetzt kommt Slavoj Žižek und möchte diesen kanonischen Text umfunktionieren, indem er es zu einem #Lehrstück macht?

Im #Lehrstück geht es darum, sich selbst und die Gruppen, Klassen, Parteien, für die man sich entscheidet, (oder zu denen man nolens volens gehört, möglicherweise ohne es zu wissen,) als #Autorinnen der Geschichte verstehen zu lernen. Im #Verhängnis des Konfliktes geht es darum, aufzuzeigen, dass die Bedingungen unserer Existenz unsere reflexive Einflussnahme übersteigen.

#Kontingenz ist das Muttermal der Moderne: Was geschieht oder geschehen ist, könnte auch anders geschehen, hätte anders geschehen können. Folgerichtig konfrontiert Žižek die Dynamik der Tragödie auf dem Weg zum Lehrstück mit eben jener Kontingenz. Doch gegen die Brecht’sche Ablehnung der Tragödie als konservative Kunstform, die die Zuschauer von der Einsicht fernhalten soll, wirklich und tatsächlich Autor*innen ihrer eigenen Welt, ihrer eigenen individuellen und sozialen Verfasstheit zu sein, bringt ( – oder lässt –) Slavoj Žižek eine weitere Dimension ins ( – oder im – ) Spiel. Denn er streicht die Dimension des „Ungeheuren“, die Sophokles der menschlichen Erfahrung zuschreibt, nicht aus: „Vieles ist ungeheuer, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch!“ Bewusstwerdung, Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung sind nicht einfach die Namen eines #Pharmakon, dem es möglich wäre, Schicksal und Tragödie ein für alle Mal zu Gunsten von Tat und Wirkungsmacht zu überwinden.
Wir waren in der Stuttgarter Innenstadt unterwegs und haben Passant*innen gefragt, was sie zu den Themen von „Antigone-Tribunal zu sagen haben: Aufstand, Norm, Irrsinn, Tod ...
Die #Unveränderlichkeit des Schicksals wird einerseits konfrontiert mit der Möglichkeit, dass es eben doch anders ausgehen könnte; dass es eben doch anders hätte ausgehen können. Doch diese Differenz gilt im Theater schon in der Unveränderlichkeit – der Quellen. Martin Heidegger hat diese berühmten Zeilen aus dem Sophokleischen Text übersetzt, indem er nicht das Ungeheure, sondern die dem Menschen der Moderne zugehörige Unheimlichkeit thematisierte. Die Wahl seiner Worte sollte keinen philologischen, sondern einen historischen Ort markieren:  Unsere #Unheimlichkeit.  Geschichte und Identität waren für Sophokles, bleiben für Antigone und sind heute auch für #uns untrennbar. Doch sie erhellen sich nicht gegenseitig. Diese Untrennbarkeit rumort unbewusst und konfrontiert mit Unmöglichem, Unhaltbarem. Sie macht den Menschen #unheimlich: „Nichts ist unheimlicher als der Mensch“ wurde demnach die Fassung, die in Heideggers Übersetzung das tragische der Tragödie erhalten sollte.

Gegen das darin mitschwingende Potential heroischer Authentizität bringt der Text des slowenischen Autors aber eine zeitliche Schlaufe ins #Spiel. Eine Bewegung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gewinn und Verlust. Er präsentiert die seit Sophokles, durch Hölderlin, Hegel, Heidegger, Lacan, Butler und viele andere immer wieder erneut kanonisierte #story of Antigone mit drei unterschiedlichen Enden.

Wo und worin, an welchem Ort und in welcher Zeit der Wahrnehmung, der Ästhetik, liegt in diesem strategischen Vorgehen der #Wert? Vielleicht hilft hier doch ein wenig Philologie? In der englischen Sprache ist im Wort #coin noch etwas präsent, das im Deutschen  vielleicht weniger hörbar ist. #Koine war der Begriff für die über Jahrhunderte gültige Verkehrssprache im mediterranen Raum; jene sich von den einzelnen Dialekten entfernende Version des Griechischen, die durch diese Ent-Fernung ökonomische Praxis wie philosophische Utopie einer allgemeiner Übersetzbarkeit und Verständlichkeit aufrechterhalten konnte. #Koine bezeichnet historisch und auch noch heute in der Linguistik eine #Verkehrssprache. Sie ist das, was zirkuliert. Sie ist was Zirkulation ermöglicht. Sie verweist auf sich selbst und auf ihre #Selbstverständlichkeit. In diesem Verweis schöpft sie möglicherweise aus dunkler Privatheit helle Öffentlichkeit; aus Biographie #Lebensführung; aus Erfahrung Wert; aus Begegnung Nutzen. Doch – dies scheint mir die Frage des Žižek’schen Lehrstücks -  ist solche #Einheit ganz und gar, restlos, zu haben? Muss sie nicht, erscheinend, mindestens dreimal #kommen? Läuft sie sonst nicht Gefahr in ihrer Unmöglichkeit gar nicht vorzu#kommen?
Felix Ensslin ist Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart, sowie Regisseur am #AGORA Theater in Belgien. Er war im Sommer letzten Jahres mit dem AGORA Theater an der Spielstätte NORD mit zwei Vorstellungen seiner letzten Produktion Animal Farm – Theater im Menschenpark zu Gast. Sebastian Kirsch schrieb damals in Theater der Zeit: „Geschichte und Methode des Theaters (werden) buchstäblich ver- und gewendet. [.] Zu [den] Stärken [der Inszenierung] gehört darum nicht zuletzt, dass man zusehen kann, wie sich 
die Spieler allmählich zu einer Art Chor zusammenfinden, während sie sich beziehungsweise ihr Theater selbst aufs Spiel setzen.“ Auf Einladung des Autors Slavoj Žižek erarbeitet das Ensemble die deutschsprachige Uraufführung des Stückes Die drei Leben der Antigone, auf das sich die Oper Antigone-Tribunal bezieht. Am 16. Januar 2020 findet die belgische Premiere in St. Vith, Belgien am AGORA Theater statt, unmittelbar danach die deutsche Premiere/Uraufführung in Kooperation mit dem fft Theater in Düsseldorf.