Nachruf: Hans Neuenfels, Foto: Mara Eggert

„Wenn die Kutsche kommt, beginnt die Oper“

Mit Hans Neuenfels ist am vergangenen Sonntag der letzte große Neuerer des Musiktheaters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstorben. Ein persönlicher Nachruf von Viktor Schoner.
Es war im Jahre 1998, als ich das erste Mal mittelbar mit Hans Neuenfels in Berührung kam: als Mitglied einer Gruppe von ambitionierten Studierenden, die sich in Berlin zusammengefunden hatte mit dem Vorsatz, Oper gemeinsam und furchtlos in das 21. Jahrhundert zu führen. Frei nach Karl Valentin, nach dem die Zukunft früher ja bekanntlich auch besser war, wollten wir uns mit dem Vertreter des furchtlosen Umgangs mit historischen Werken befassen. Bei seiner engsten Mitarbeiterin, Yvonne Gebauer, spürte ich einen illegalen Archivmitschnitt der neben Aida legendären Produktion Hans Neuenfels’ an der Frankfurter Oper auf: Busonis Doktor Faustus. Die Analyse der VHS-Aufzeichnung war ein Fest. Parallel verfolgten wir seine damals gespielten Produktionen: in Berlin an der Deutschen Oper Il trovatore und Idomeneo, in Salzburg die Così, später der Lohengrin in Bayreuth, und natürlich alle seine Stuttgarter Arbeiten: von den Meistersingern von Nürnberg über die legendäre Entführung bis hin zur Sache Makropulos.

Wie stolz und ehrfürchtig war ich, als ich im Jahre 2000 – inzwischen Mitarbeiter der Salzburger Festspiele – Hans Neuenfels persönlich begegnete und ihn seither in vielen Gesprächen erlebte als offenherzigen Menschen-, Theater- und Opernfreund. Gerne erzählt man sich in den Opernkantinen ja die Anekdötchen über seinen Alkoholkonsum, gerne erinnert man sich an die – nicht nur unter heutigen Richtlinien der wertschätzenden Kommunikation teilweise irritierende – politische Unkorrektheit und Aufregungen in Probenprozessen inklusive der Skandalpremieren, denen man in verklärender Nostalgie nachtrauert.
Szene aus Hans Neuenfels’ Inszenierung von Mozarts Don Giovanni (2002) – Foto: A.T. Schaefer
Ich empfand in meinen Begegnungen mit Hans Neuenfels die eher stillen und nachdenklichen Momente prägender – allesamt waren sie Ausdruck seiner Besessenheit für die Arbeit mit dem und für das Theater, für ein Menschentheater:

Im Sommer 2001 gab es beispielsweise ein Krisengespräch im Salzburger Café Tomaselli in Anwesenheit des Festspielintendanten Gerard Mortier, des langjährigen Weggefährten Thomas Wördehoff und des Regieassistenten David Herrmann im Anschluss an die Klavierhauptprobe der Fledermaus, in dem der verzweifelte Intendant in Vorahnung des Theaterskandals flehte um wenigstens kleinste Abschwächungen in den Monologen des von Elisabeth Trissenaar verkörperten Frosch. Hans Neuenfels’ sehr leise, aber entschiedene und kompromisslose Reaktion: „Lieber Gerard, Sie, der Sie mich sehr gut kennen, haben mich gefragt, ob ich hier in Salzburg die Fledermaus inszenieren wolle; das habe ich nun nach bestem Wissen und Gewissen getan. Wenn das Ergebnis nun skandalös sein sollte, dann stehen wir das gemeinsam durch; das ist vielleicht kein Spaß, aber genau unsere Aufgabe.“ Ob Mortier respektive Neuenfels in diesem Moment ahnten, dass selbst Zeitgenossen wie Marcel Reich-Ranicki schon nach 30 Minuten polternd den Saal verlassen und das Programmheft auf die Bühne schmeißen würden? Und dass es (verlorene) Anklagen geben würde von Zuschauern, die überzeugt waren, dass diese Produktion nicht das von ihnen erworbene Stück Die Fledermaus sei? Beides bleibt ein Geheimnis.
Szene aus der Hans Neuenfels’ Inszenierung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail – Foto: A.T. Schaefer
Ein paar Jahre später bot der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, per Brief eine Neuinszenierung von Puccinis Manon Lescaut an. Hans Neuenfels bat um einige Wochen Bedenkzeit; schnell stellte sich heraus, dass „Bedenkzeit“ für diesen Altmeister hieß, dass er sich über Wochen tagtäglich und stundenlang mit seinem ganzen Team auf das anstehende Gespräch mit Bachler vorbereitete, um dann eine für ihn richtige künstlerische Entscheidung treffen zu können über das Angebot; in diesem Fall einigte man sich auf diese Zusammenarbeit. Anna Netrebko und Jonas Kaufmann in den Hauptrollen waren gesetzt und Teil der Aufgabe. Als Anna Netrebko dann innerhalb des Probenprozesses nach gut zwei Wochen abreiste, empfand Hans Neuenfels das als tiefes Scheitern seiner eigenen Arbeit. Und doch war der Endprobenprozess weiterhin geprägt von einer beispiellosen Ernsthaftigkeit, von nächtlichen Briefen an Jonas Kaufmann, die eine oder andere Szene doch noch etwas mehr zu durchdringen; von verzweifelten Anrufen beim Dirigenten, der nach Neuenfels’ Meinung die Tiefgründigkeit dieser Partitur zu oberflächlich interpretierte. Hans Neuenfels vertraute der inhaltlichen Überzeugung, nicht zuletzt durch immer brillant formulierte Argumente. Erst zur Not, dann mit (oft kalkulierten) emotionalen Ausbrüchen.

Und wir alle lernten bei dieser Produktion: „Wenn die Kutsche kommt, beginnt die Oper.“

In seiner wunderbaren großbürgerlichen Wohnung in Charlottenburg war der Eingangsbereich mit Plakaten seiner eigenen Produktionen gestaltet – mir schien es immer ungewollt, dass er genau dadurch seine eigene (vergangene) Legende und die (…) unglaubliche Schönheit seiner Frau Elisabeth Trissenaar betonte. Überhaupt: „die Trissenaar“. Was haben sie gestritten, öffentlich, leidenschaftlich, gnadenlos. Und doch hatte ich immer den Eindruck, dass diese Ehe eine ist, deren Konflikte nie ernsthaft infrage stellten, ob man denn zusammengehöre bis dass „der Tod sie scheide“; ein kompromissloses Commitment des Künstlers, der „aus kleinen Verhältnissen“ kam zur bürgerlichen Existenz.

Kombiniert hat Hans Neuenfels diese bürgerliche Existenz immer mit einem Schwarm von jungen Männern und Frauen, die ihm ergeben waren und gleichzeitig zu Widerspruch erzogen wurden. Echte Bohème. Eine in der Opernszene legendäre und sehr aktive Gruppe von „Neuenfels-Alumni“ war immer Beweis seines Gespürs für die Qualität von jungen Theatermenschen.

In jener Wohnung durfte ich einem weiteren, sehr leisen Treffen beiwohnen, dass so typisch war für das Genie Neuenfels: Der Komponist Miroslav Srnka war im Begriff, eine neue Oper für München zu schreiben. Es ging um die erste Expedition zum Südpol. In der Vorstellung des Komponisten sollten die Schlittenhunde von Instrumentalisten auf der Bühne verkörpert werden; das war ihm sehr wichtig als zentrale konzeptionelle kompositorische Idee. Allein, Hans Neuenfels gelang es mit Verführung, mit Argumenten, mit Beispielen, mit Witz, mit Enthusiasmus das Gespräch zu wenden und den Komponisten von der Nichtdarstellbarkeit dieser Idee, ja der Lächerlichkeit dieser Konzeption zu überzeugen. So kam es, die Premiere Jahre später wurde ein großer Erfolg. Neuenfels liebte diese enge Zusammenarbeit und den Dialog mit lebenden Komponisten – seine bedingungslose Liebe zur Musik war hierfür Basis.
Karl-Friedrich Dürr, Merlin Zimmermann, Eva-Maria Westbroek, Carmen Mammoser, Daniel Eberle, Heinz Göhrig und Carola Freiwald in der Inszenierung von Janáčeks Die Sache Makropulos – Foto: A.T. Schaefer
Im Leben von Hans Neuenfels gelang nicht alles: Seine Intendanz an der Freien Volksbühne in Berlin gilt als Episode; der frankophile Verehrer von André Gide war immer traurig, dass er in Paris nie reüssierte, der Stadt, in der er in jungen Jahres Max Ernsts Privatsekretär war; und ein bisschen zu oft erwähnte er für meinen Geschmack, dass er Richard Wagners Ring des Nibelungen nie hätte erarbeiten wollen…!?

Hans Neuenfels war es, der mir als sehr jungem Assistenten klarmachte, dass es Ehrlichkeit braucht im Theater, besonders in der Oper: auf der Bühne und auch hinter der Bühne im Produktionsprozess, im Umgang mit manchmal schwierigen Künstler*innen und in manchmal ja verzwickten Situationen der künstlerischen Arbeit. Das einzig Effiziente, sagte er immer, ist Respekt voreinander, Ehrlichkeit – unabhängig von jeder Hierarchie. Keine Zeit für Spielchen. Die Folge war: Ich hätte mich nie getraut, ihm nicht die Wahrheit zu sagen, denn ich war zutiefst überzeugt, dass er sie sowieso herausgefunden hätte. Mit diesem Deal haben wir – mal enger, mal weniger eng – fast ein Vierteljahrhundert glückliche Theaterzeit miteinander erlebt.

Die Stuttgarter Oper verdankt Hans Neuenfels stilbildende Produktionen: Die Meistersinger von Nürnberg (1994), Die Entführung aus dem Serail (1998), Adriana Hölszkys Giuseppe e Sylvia (2000), Don Giovanni (2002), Die Sache Makropulos (2004). Und natürlich sind in den Kantinengesprächen die ihm gewidmeten Anekdoten weiterhin präsent und gehören zur Legendenbildung dieser wunderbaren Kompagnie.

Einige seiner ehemaligen engen Mitarbeiter*innen, u.a. der Regisseur David Herrmann, die Dramaturgin Yvonne Gebauer oder die Szenografin Katrin Connan arbeiten heute regelmäßig an der Staatsoper Stuttgart und erhalten dem Haus Hans Neuenfels’ Geist, seine Besessenheit, seine Ernsthaftigkeit und seine Lebensfreude.

Einer seiner Zwischentexte zu Manon Lescaut lautete: „Der Tod ist normal, die Liebe ist es nicht.“
Eva-Maria Westbroek in Hans Neuenfels’ Inszenierung von Wagners Die Meistersinger von Nürnberg – Foto: A.T. Schaefer
Hans Neuenfels, 1941 in Krefeld geboren, erhielt seine Schauspiel- und Regieausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien sowie an der Essener Folkwang Hochschule. Er inszenierte u.a. am Schauspiel Frankfurt, in Hamburg und Wien. Von 1986 bis 1990 war er Intendant der Freien Volksbühne Berlin. Seit 1974 führte Neuenfels Opernregie. An der Staatsoper Stuttgart zeichnete Hans Neuenfels in der Intendanz von Klaus Zehelein verantwortlich für Wagners Die Meistersinger von Nürnberg (1994), Mozarts Die Entführung aus dem Serail (1998) und Don Giovanni (2002) und Janáčeks Die Sache Makropoulos (2004). Für die Uraufführung von Adriana Hölszkys Giuseppe e Sylvia im Jahr 2000 verantwortete er Libretto und Regie. Als Opernregisseur wirkte er u.a. an der Wiener Staatsoper, der Deutschen Oper und der Komischen Oper Berlin, an der Hamburgischen Staatsoper, an der Bayerischen Staatsoper, bei der RuhrTriennale und den Salzburger Festspielen. 2010 inszenierte Neuenfels Richard Wagners Lohengrin bei den Bayreuther Festspielen. Im Februar 2022 starb Hans Neuenfels im Alter von 80 Jahren.