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13.11.2020 Facettenauge

Die Entstehung eines Facettenauges

In den letzten Minuten der Produktion „Das Lied von der Erde“ senkt sich mit dem Auftreten eines Energiewesens ein leuchtendes Facettenauge auf die Bühne herab. Dabei handelt es sich um eine Schlüsselszene des Stücks: Ob das Facettenauge einen Ausweg darstellt? Die Erlösung? Eine neue Hoffnung? Das Ende des Planeten? Oder doch eine Sonne? Diese Fragen bleiben offen. Fakt ist jedoch, dass die Entstehung dieses beeindruckenden Facettenauges über 340 Stunden Arbeit in Anspruch nahm. Welche Reise durch die Staatstheater-Werkstätten dieses Insektenauge erlebt hat, erfahren Sie hier.
Entwurfsprozess

Bevor so ein Bühnenobjekt wirklich gebaut werden kann, muss dieses natürlich erst entworfen werden. In diesem Fall hat Jo Schramm, der Bühnenbildner, zunächst eine ganz andere Version von dem Facettenauge im Sinn: Er will das Auge eigentlich durch verchromte Gitter entstehen lassen, hinter denen eine Folie befestigt ist - schnell stößt das aber finanziell und konzeptionell an die Machbarkeitsgrenze. Ein neuer Entwurf entsteht mit „Fresnel-Linsen“, die der Bühnenbilder aneinanderklebt und vor seinen Computerbildschirm hält, um die daraus entstehenden Lichteffekte zu testen. Anschließend wird der Entwurf in einer Computersimulation grafisch dargestellt, um so weiteres Ausprobieren, wie beispielsweise das Variieren der Linsengröße, zu ermöglichen.

Nach all diesen anfänglichen Versuchen und Vorbereitungen gibt der Bühnenbildner seine Vorstellungen an die Werkstatt weiter, in der man die endgültigen Materialien festlegt: Dabei stellt sich zum Beispiel heraus, dass man auf kleinere Linsen zurückgreifen muss, da die gewünschten im Moment nicht erhältlich sind, oder, dass es in der Videoabteilung LED-Video-Panels gibt, weshalb man nicht mit einer Rückprojektion, wie ursprünglich geplant, arbeiten muss. Abschließend kann der verfestigte Entwurf an die Konstruktionsabteilung abgegeben werden.
Bildschirmanimation Bühnenbild Das Lied von der Erde
Konstruktionsabteilung

Die Entstehungsreise dieses besonderen Teils des Bühnenbilds beginnt, indem die genauen Pläne für den Bau der Konstruktion Schritt für Schritt erstellt werden. Das besondere an der Planung des Insektenauges ist, dass dieses eigentlich für das Bühnenbild von Die Frau ohne Schatten gedacht war; aufgrund der aktuellen Situation wurde dieses Stück aber nie zur Aufführung gebracht, und Jo Schramm, der Bühnenbilder, entschied sich dazu den noch nicht fertiggestellten Rohbau zu nutzen. Er selbst erzählt im Programmheft davon, da es sich bei dem Insektenauge um ein besonders riskantes Objekt handelt - weder ihm noch den Werkstätten sei im Vorhinein bewusst gewesen, ob das Auge in Originalgröße auch wirklich so aussehen und funktionieren würde wie geplant.

Trotz dieser Ungewissheit werden die Konstruktionspläne des Facettenauges, zu diesem Zeitpunkt noch für Die Frau ohne Schatten, in einer Woche, also in circa 38,5 Arbeitsstunden, konzipiert, bevor das Projekt an die Schlosserei weitergegeben wird.
Konstruktionspläne
Schlosserei

Hier werden aus Plänen Realität: Die handwerkliche Arbeit am Auge beginnt, die von zwei Schlossern vollbracht wird und sich über einen Zeitraum von einer Woche erstreckt, also insgesamt circa 77 Stunden: Um den Unterbau des Facettenauges transportfähig halten zu können, wird dieser zunächst in zwei Teilen gebaut. Zusätzlich stellen die Schlosser auch noch einen Transportwagen her, damit dieser Transport tatsächlich realisierbar ist. All diese einzelnen Komponenten werden aus Stahl angefertigt, welcher für spezielle Arbeiten, wie beispielsweise für den Befestigungsring des Auges, noch an einer Rundbiegemaschine bearbeitet werden kann. Nachdem nun dem Transport der einzelnen Bauteile nichts mehr im Wege steht, kann die Konstruktion von der Schlosserei zur nächsten Werkstatt, der Dekorationsabteilung, gebracht werden, in der mit einer Arbeitsdauer von knapp 224,5 Stunden am längsten am Facettenauge gearbeitet wird.
Dekorationsabteilung

Die Dekoration des Auges erfordert mehrere Arbeitsschritte, die aufeinander aufbauen und teilweise in kleinste Detailarbeiten übergehen. In dieser Werkstatt beginnt man damit, eine Glasklarfolie an den Stahlunterbau der Konstruktion anzubringen, der sich später als Träger für die Lupengläser (Fresnel-Linsen) eignet, die für die Lichteffekte des Insektenauges verantwortlich sind. Diese knapp 4000 Lupengläser kann man jedoch nicht einfach so an die Glasklarfolie anbringen, da sie erst mit einer doppelseitigen, durchsichtigen Klebefolie versehen werden müssen, damit sie dann an dem Unterbau haften können. Um das Anbringen der Lupengläser vorzubereiten, arbeiten vier Dekorations-Mitarbeiter daran, die Klebefolie aus- und zurechtzuschneiden und sie dann auf die einzelnen Lupengläser zu kleben. Nachdem all diese Vorbereitungen in einer Zeit von circa 186 Stunden und dank der Hilfe von sechs Personen getroffen worden sind, erfolgt der letzte handwerkliche Schritt zu Fertigstellung des Auges – und zwar das Anbringen der einzelnen, jetzt klebfähigen, Lupengläsern auf den mit Folie überspannten Unterbau. Nun kann die Konstruktion ihre Reise in die Videoabteilung fortsetzen.
Videoabteilung

Abschließend werden in der Videoabteilung 25 quadratische LED-Panels mit der Größe von 50x50 cm blütenartig hinter dem Schirm mit den Lupengläsern angebracht. Ziel ist es, dass auf diesen LED-Panels Videoinhalte vom Medienserver abgespielt werden können, die schlussendlich für die Lichteffekte des Facettenauges verantwortlich sind.

Um ein sinnvolles, zusammenhängendes Bild zu erhalten, muss die LED-Wand zunächst über einen Medienserver korrekt „remapped“ werden. Dafür konfiguriert man die anfangs willkürlich angeordneten LED-Panels so, dass sie ihre ID-Nummer und ihre Ausrichtung auf der Fläche kennen.

Um nun zu testen, welche Videoinhalte sich eignen und wie diese korrekt abgespielt werden können, schiebt man den halben Linsenschirm vor die LED-Wand und probiert die einzelnen Inhalte aus bis die gewünschten Lichteffekte erreicht werden.

Alles in allem vollbrachte das Facettenauge bis zur Fertigstellung eine Reise mit einer Dauer von fast 340 Stunden durch vier Werkstätten und Abteilungen und wurde dabei von circa 20 Händen bearbeitet. Und nun: ab auf die Bühne!
Konfiguration der einzelnen LED-Panels