Karfreitagszauber und Osterspaziergang in einem: Noch bis 11. April steht das Online-Projekt „Glaube, Liebe, Hoffnung“ zur Verfügung, ein digitaler Stuttgart-Rundgang im Spannungsfeld zwischen der Passionsgeschichte und Goethes „Faust“. Was dahinter steckt, davon berichtet hier Chefdramaturg Ingo Gerlach.
Als ich mich zum ersten Mal durch die postapokalyptische, dabei aber durchaus buntblühend lebendige Pilz- und Wiesenlandschaft bewegte, die das Designstudio Moby Digg für das Online-Projekt Glaube, Liebe, Hoffnung programmiert hat, kam mir eine Liedzeile von PeterLicht in den Sinn: „Das absolute Glück als das allerletzte Männchen durch die Städte zu gehen, die leer und offen sind…“

Alles ist kaputt, die Häuser sind Ruinen, der Stern, der den Stuttgarter Hauptbahnhof krönt, liegt halbbewachsen in den Resten der Stadt. Einige Denkmäler stehen noch und künden von früherer Bedeutung. Aber der Vegetation geht es gut: Die Grasnarbe scheint intakt. Es könnte einem aber natürlich auch eine Phrase aus Richard Wagners Parsifal in den Kopf kommen: „Wie dünkt mich doch die Aue heut so schön!“, heißt es da. „Wohl traf ich Wunderblumen an, die bis zum Haupte süchtig mich umrankten; doch sah ich nie so mild und zart die Halme, Blüten und Blumen.“
Die „Aue“ in Glaube, Liebe, Hoffnung (Videostill: Mob Digg)

Es ist eine andere Form von Karfreitags-Zauber. Die Umwelt von Glaube, Liebe, Hoffnungscheint bereits vom Menschen erlöst zu sein. Alleine, vielleicht sogar als das „allerletzte Männchen“, stakt man durch die Welt. Und während man einem Pfeil folgt, der zumindest eine Richtung, vielleicht aber auch Orientierung, Sinn, Rettung oder sogar eine Aufgabe verspricht, trifft man auf Spuren und Artefakte einer vergangenen Zivilisation, auf Hoffnungsbilder oder Schreine einer ehemaligen Utopie. Und auf bewegte Bilder mit Musik.

Über die Unmöglichkeit, gegenwärtig Opernproduktionen auf die Bühne zu stellen, brauchen wir nicht weiter zu reden. Auch wenn man sie abfilmt, bleiben sie im Vergleich zum Erlebnis im Zuschauerraum auf Distanz. Für Glaube, Liebe, Hoffnung haben wir also nach einer Möglichkeit gesucht, speziell für den digitalen Raum musiktheatralisch zu arbeiten. Den inhaltlichen Rahmen sollten zwei Produktionen bilden, die für diesen Zeitraum vorgesehen waren, von denen dann aber weder die ursprünglich, noch die ersatzweise geplante realisiert werden konnte. Die Passionsgeschichte und Szenen aus Goethes Faust wurden und blieben also unser Kontext. Und beide haben durchaus miteinander zu tun. Faust, der von den Osterchören vom Selbstmord abgehalten wird und gewissermaßen neugeboren oder auferstanden zum Osterspaziergang aufbricht, Gretchen, die in Faust I am Marienbild betet und in Faust II gemeinsam u. a. mit Maria Magdalena Fausts „Unsterbliches“ dem „Ewig-Weiblichen“ entgegenträgt – diese Überschneidungen und Korrespondenzen haben uns interessiert. Und natürlich die Frage nach der Erlösung, die sowohl in der Passionszeit und der Passionsgeschichte als auch bei Faust eine Rolle spielt.
Matthias Klink in der Station „Gethsemane“ (Videostill: Susanne Steinmaßl)

„In jeder Oper, die von Erlösung handelt, wird im 5. Akt eine Frau geopfert“, heißt es bei Alexander Kluge. Und mit Blick auf Richard Wagner, den vielleicht größten Erlösungstheoretiker des 19. Jahrhunderts, gilt das sicher auch für Werke mit drei Aufzügen. Oper und Opfer passen also bestens zusammen. Und Ostern und Opfer auch – nach wie vor. In diesem Zusammenhang ließe sich etwas kalauernd darauf hinweisen, dass die Erlösung in der Oper meistens eine Er-Lösung ist. Gretchen ist da beispielhaft: Minderjährig verführt, zur Mutter- und Kindsmörderin gemacht, der Bruder erstochen, darf sie als namenlose Büßerin durch ihre übergroße Liebe gereinigt und geheiligt an Fausts Verklärung mitarbeiten. Ebenso wie Maria Magdalena in Jesus Christ Superstar weiß auch sie nicht „how to love him“, weiß nur, dass ihre Ruh‘ hin und ihr Herz schwer ist. Die Figuren in den Bildstöcken in Glaube, Liebe, Hoffnung nehmen also den Dialog miteinander auf. Das verändert den Blick auf sie und lädt zu Gegenperspektiven ein: Die Angstbilder, mit denen der Böse Geist Gretchen bei Goethe in den Wahnsinn treibt, können, wenn man sie als eine retrospektive Selbstbefragung Gretchens liest, zu einer fast Kill Bill-haften Rachefantasie werden.

Mit meinem allerletzten Männchen bin ich unterdessen weiter dem Pfeil gefolgt, vorbei an den musikalisch-filmischen Bildern, Zuschreibungen und Ausbruchsversuchen und stehe nun, wie im Song von PeterLicht, am Rand „wo die Welt eine Scheibe ist. Beine baumeln lassen in die Wärme des Weltalls und der letzte legt die Nadel in die Rille und wartet auf die Stille.“ Ich werde konfrontiert mit der Aufforderung „Spring in den Abgrund“. Der Sprung – Achtung Spoiler! – befördert mich aber nicht in Richtung Jüngstes Gericht, sondern eröffnet freundlich die Möglichkeit zum „Restart“ – die vielleicht unspektakulärste Form der Auferstehung.
Glaube, Liebe, Hoffnung
Sieben Stationen vom Himmel durch die Welt zur Hölle
Verfügbar bis 11. April

Mit:
Stine Marie Fischer
Heidi Heidelberg
Fiorella Hincapié
Katherine Manley
Matthias Klink
Denis Milo

Band:
Matthias Klink
Michael Rathgeber
Manuel Schattel
Jürgen Spitschka
feat.
Heidi Heidelberg
Marcos Padotzke

Idee/Konzept/Realisation:
Ingo Gerlach, André de Ridder,Susanne Steinmaßl, Marco Štorman, Demian Wohler

Arrangements: (Bach, Schumann, Wagner): André de Ridder, Marcos Padotzke
Kostüme: Astrid Eisenberger
Videoassistenz: Amon Ritz
Maske: Marion Bleutge, Mareike Wohlfeld, Dana Kutschke, Andrea Weyh
Creative Direction Game Design: Maximilian Heitsch
Art Direction Game Design: Marco Kawan
Technical Lead: Jonathan Landon