Wer ein Segel hat, braucht nicht zu rudern

Die in Norra Råda geborene Lisa Streich ist in dieser Saison unsere Composer in Focus, und im 6. Sinfoniekonzert am 26. und 27. Juni spielt das Staatsorchester Stuttgart die Deutsche Erstaufführung ihres Werkes „Segel“. Im Interview mit Konzertdramaturgin Claudia Jahn spricht sie über ihren Zugang zu neuen Kompositionen, ihre ganz eigene Klangfarbe und den Wunsch, das Publikum zu berühren.
Im 6. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart erlebt Ihr Orchesterwerk Segel seine Deutsche Erstaufführung. Was hat Sie zur Komposition dieses Stücks inspiriert und welche Bedeutung hat der Titel?
Dazu inspiriert hat mich die Vorstellung, das Orchester nicht als Orchester zu betrachten, sondern als Segel. Ich habe versucht, die physischen Gegebenheiten eines Segels in Klang zu übersetzen und das Orchester als Segel zu denken. Was und wem ist das Segel ausgesetzt? Wind, Sonne, Kälte, Hitze und Menschenhand. Und was ist es, was das Segel hält? Eine Holzkonstruktion, Spannung, Seile, Winkel. Dies sind die äußerlichen Faktoren, die auf das Segel bzw. das Orchester treffen.
Neben dem Bild und der Funktionsweise eines Segels spielt auch die religiöse Vokalmusik eine zentrale in diesem Orchesterwerk. Wie lässt sich diese verstehen?
Beim Komponieren habe ich mir vorgestellt, dass der Klangkörper ein anderer ist als das Orchester. Mit den oben genannten Faktoren, die vom Bild eines Segels abgeleitet sind, spiele ich nicht auf einem Orchester, sondern auf den Obertönen von verschiedenen Laienchören, die eine Spur „falsch“ singen. Die Obertöne des Instrumentariums in Segel sind eine Anhäufung von solchen Momenten, die mich bei meinen Recherchen zu diesem Stück aufhorchen ließen. Hier geschah etwas Wunderbares. Russisch-orthodoxe Schwestern, armenische Priester und französische Mönche singen in meinen ausgewählten Akkorden eine Spur „falsch“. Diese analysierten Momente von Laiengesängen machen sich aber auch selbständig, gehen in ganz konkrete Richtungen und Schichtungen und wieder zurück in die „falsche“ Spur. Gegensätze werden dabei gegeneinandergestellt, parallel gesetzt oder diagonal gehört.
Das Ausgangsmaterial von Segel, die religiösen Vokalstücke, haben Sie zunächst dekonstruiert, bevor Sie sie zu etwas Neuem geformt haben. Ist dies eine Kompositionstechnik, die Sie auch in anderen Stücken verwenden?
Ja, für mich bedeutet Komponieren immer einen Dialog mit Musik.
Haben Sie eine „Lieblingsstelle“ in Segel?
Vielleicht der Choral im Mittelteil und der Schluss. Ob der*die Zuhörer*in die Stimmen darin erahnen kann?
Was zeichnet die Klangsprache von Segel besonders aus?
Das Stück ist geprägt von Kontrasten auf verschiedenen Ebenen: laut – leise, aggressiv – verspielt, stark – zerbrechlich. Darüber hinaus arbeite ich an manchen Stellen zum ersten Mal mit einem choreographischen Dirigat. Das bedeutet, dass Musiker*innen teilweise weder Rhythmus noch Dynamik in ihren Noten stehen haben und beides direkt vom Dirigenten ablesen müssen.
Nicht nur in Segel, sondern auch in anderen Werken verbinden Sie filigrane Klänge mit heftigen Ausbrüchen. Was fasziniert Sie daran, starke Gegensätze miteinander zu verbinden?
Ich interessiere mich für Stücke, die in Bezug auf ihre Dramaturgie imperfekt sind. Was passiert in diesen Lücken von Kontrasten? Geben vielleicht gerade diese Lücken Raum für den*die Zuhörer*in, sie mit Erlebtem oder Erahntem zu füllen? So kann der*die Zuhörer*in das Werk für sich selbst komplettieren.
Was treibt Sie als Komponistin an und was möchten Sie mit Ihrer Musik dem Publikum geben?
Ich versuche Musik zu schreiben, die ich noch nie gehört habe und die ich aber unbedingt hören möchte. Es ist also in gewisser Weise Neugierde, die mich antreibt. Ich selbst habe viele meiner schönsten Erlebnisse in meinem Leben der Kunst und der Musik zu verdanken. Sie öffnen Welten, die nicht die eigenen sind. Sie wecken Empathie für etwas, das man selbst vielleicht nicht erlebt hat. Auf eine gewisse Art lassen sie einen am Weltgeschehen teilhaben. Am Gegenwärtigen am Vergangenem aber auch am Zukünftigen. Wenn Musik Verständnis, Ideen, Mitgefühl und Perspektivwechsel hervorrufen kann, so wie sie es bei mir getan hat, dann ist es etwas ganz Wunderbares.
Gibt es Komponist*innen und Stile, die Sie als Komponistin besonders beeinflusst und geprägt haben?
Dazu zählen auf jeden Fall Gustav Mahler und Olga Neuwirth, aber auch die venezianische und römische Mehrchörigkeit haben mich stark beeinflusst.
Worin liegt für Sie die Stärke von zeitgenössischer Musik?
Ich denke, zeitgenössische Kunst und Musik vermag all den Informationen, die wir heutzutage erhalten, einen erlebbaren Inhalt zu geben. Informationen und Daten können abstrakt sein und an uns abprallen. Musik und Kunst hingegen können ihr Ausmaß erfahrbar machen und Grenzen jeglicher Art überwinden.