Ein Mount Everest der Liedliteratur

Wenn die Mezzosopranistin Rachael Wilson und die Pianistin Virginie Déjos am 3. Februar in der Staatsgalerie Olivier Messiaens „Harawi“ präsentieren, steht ein ganz besonderer Liedzyklus des 20. Jahrhunderts auf dem Programm. Im Gespräch mit Cornelia Weidner, Intendantin der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie, beschreiben die beiden Künstlerinnen ihre Sicht auf dieses „Lied von Liebe und Tod“ – und was sie Besonderes für das Konzert planen.
Auf dem Programm steht mit Olivier Messiaens Harawi ein sehr bedeutender, aber auch monumentaler und sehr intensiver Liedzyklus des 20. Jahrhunderts: Wer kam auf die Idee, dieses Stück zu machen – und warum?
Rachael Wilson: Begonnen hat das letztlich während der Lockdown-Zeit im Sommer 2020. Virginie und ich kannten uns zwar schon vorher und hatten auch hin und wieder miteinander gearbeitet – aber für die Reihe #OpertrotzCorona der Staatsoper Stuttgart haben wir dann zusammen für einen Stream Shéhérazade von Maurice Ravel aufgenommen – und dann war klar, dass wir gut zueinander passen und unbedingt noch weiter miteinander arbeiten und musizieren wollen
Virginie Déjos: Ja, wir haben in dieser Produktion unglaublich viel voneinander gelernt und uns gegenseitig inspiriert – das war wie ein Türöffner, der Lust gemacht hat auf eine weitere Zusammenarbeit. Und dann haben wir überlegt, was wir gemeinsam machen könnten. Ich finde, dass Rachael ein fantastisches Französisch singt – besser als mancher Muttersprachler –, habe ihr vorgeschlagen, im französischen Repertoire zu bleiben und bin auf die Suche gegangen. Irgendwie bin ich dann sehr schnell bei Olivier Messiaen gelandet, weil er ein so großartiger und bedeutender Komponist des 20. Jahrhunderts ist – und dann habe ich Rachael Harawi vorgeschlagen.

Rachael Wilson: Ich habe mir das Stück angeschaut und nach Aufnahmen gesucht und festgestellt, dass es da tatsächlich kaum welche gibt. Das Stück ist wahrlich monumental – eine Art Mount Everest der Liedliteratur. Zuerst hat mich die Kraft und Wucht dieser Musik fast erschlagen – aber das hat mich irgendwie auch fasziniert und herausgefordert. Und je mehr ich mich mit dem Stück beschäftige, desto mehr zieht es mich in seinen Bann. Schon bei der Arbeit an Shéhérazade haben Virgnie und ich viele Gemeinsamkeiten entdeckt – wir sind beide absolute Perfektionisten und wir lieben Herausforderungen und Neues zu lernen. Das sind ideale Voraussetzungen für Harawi. Das ist letztlich ein Stück, bei dem man nie fertig ist, an dem man immer weiterarbeiten kann.
Was macht den besonderen Reiz dieses Stücks aus?
Virginie Déjos: Olivier Messiaen ist fraglos einer der größten französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Was er aber mit Harawi geschaffen hat ist etwas Einzigartiges, nämlich eine ganz eigene und einzigartige musikalische Sprache. Im Vergleich zum gewichtigen und bedeutenden Repertoire des deutschsprachigen Kunstlieds hat das französische Lied, die mélodie, immer eher einen Saloncharakter gehabt. Messiaen setzt dem nun etwas sehr Gewichtiges entgegen. Man betritt hier eine neue Welt, einen eigenen umfassenden Kosmos aus neuen Harmonien und Rhythmen. Messiaens Musik gleicht einer Explosion von Farben und Assoziationen, Harawi ist ein Gesamtkunstwerk.

Rachael Wilson: Das Stück ist so facettenreich und verlangt einem stimmlich wahnsinnig viel ab. Was mich ganz besonders daran gereizt hat, ist die Geschichte dahinter. Harawi erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe – und spiegelt letztlich Messiaens sehr persönliche Situation, während er an dem Stück arbeitete: Messiaens erste Frau, die Geigerin Claire Delbos, litt unter einer schweren psychischen Erkrankung und verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens in einer Heilanstalt. Und etwa zur gleichen Zeit lernte Messiaen die junge Pianistin Yvonne Loriod kennen, die ihn zu vielen seiner Werke inspiriert und die nach dem Tod Claire Delbos’ seine zweite Frau wurde. Der Zwiespalt dieses Dreiecksverhältnisses, diese Zerrissenheit zwischen zwei Frauen, ist auch in der Musik.

Virginie Déjos: Die Musik ist unglaublich reich, aber auch voller Brüche und sehr widersprüchlich. Lyrische, sehr harmonische Passagen stehen neben sehr rhythmischen, eruptiven Stellen, die unmittelbar wie ein Ausdruck hervorbrechen.

Rachael Wilson: Die Virtuosität, die vom Pianisten abverlangt wird, ist absolut ungewöhnlich für eine Liedkomposition. Es ist hier wirklich so, dass zwei solistische Künstler miteinander in einen Dialog treten. Der Pianist ist der Partner des Sängers – als wenn das Klavier Messiaen selbst verkörpert und die Sängerin ist seine Frau. Beide kommunizieren miteinander.
Auch sprachlich ist dieser Zyklus etwas ganz besonderes – und vermutlich auch eine besondere Herausforderung: Die von Messiaen stammenden Texte mischen Französisch mit surrealen Elementen und mit einer von ihm selbst erfundenen exotischen Sprache – eine Art peruanisches Kauderwelsch – wie geht man damit um?
Rachael Wilson: Ja, es ist richtig, der Text stammt von Messiaen selbst und enthält viele surrealistische und symbolistische Elemente. Messiaen stammt aus einer sehr literaturaffinen Familie, seine Mutter Cécile Sauvage war eine Lyrikerin. Die Texte von Harawi sind wahnsinnig schwer zu übersetzen, vieles kann man nicht übersetzen, weil hier Atmosphäre, eine Stimmung eingefangen wird.

Virginie Déjos: Es hat auch viel mit Farben zu tun. Messiaen war Synästhet – Klänge korrespondieren bei ihm ganz stark mit Farben. Rachael ist deshalb auch prädestiniert für diese Musik, weil sie so ein unglaubliches Gespür für Farben hat und diese stimmlich so fantastisch umsetzen kann.

Rachael Wilson: Das Fantastische an diesem Werk ist, dass man die Farben nicht suchen oder künstlich erzeugen muss, wie es sonst oft beim Lied der Fall ist. Da ist man ewig auf der Suche nach der „richtigen“ Farbe eines Wortes, eines Vokals, eines Ausdrucks. Hier ist alles in der Musik vorgegeben, da muss man nichts dazutun. Und deshalb entwickelt diese Musik auch so einen unglaublichen, ja fast meditativen Sog.

Virginie Déjos: Harawi ist eigentlich wie ein großer Opernmonolog mit deutlich theatralischen Elementen, es erinnert mich an ein Stück von Sarah Kane, auch einen großen Monolog – vielleicht ist es auch das, was uns besonders an Harawi reizt.
Dazu passt dann ja auch der „theatralische“ oder inszenierte Rahmen, den Sie dem Konzert geben? Vielleicht noch ein Satz dazu?
Rachael Wilson: Mir war wichtig, dass das Publikum nicht in einen stillen Raum kommt bzw. dass das Konzert nicht aus der Stille heraus beginnt. Die Klangkulisse, die wir vor dem Konzert über Lautsprecher einspielen, soll eine Brücke schaffen für die Zuhörer*innen, um einfacher in das Stück und die Stimmung hineinzufinden. Wir hören Naturgeräusche, Vogelrufe. Vögel hatten für Messiaen eine große Bedeutung – Ornithologie faszinierte ihn und er hat Vogellaute immer wieder in seine Werke eingebaut – auch in Harawi sind die notiert.
Und der Film?
Rachael Wilson: Der Videokünstler und Regisseur Matthew Anderson ist ein sehr enger Freund von mir. Für das Madrigal-Projekt Quälend süße Einsamkeit der Staatsoper Stuttgart hat er auch einen Film gemacht. Danach wollten wir einfach weitermachen. Eigentlich wollten wir nur zu einem Lied aus Harawi einen Film machen – daraus wurde dann aber mehr und nun ist es ein kompletter, fast einstündiger Film zum Stück. Dabei soll der Film nicht die Musik bebildern. Es ist kein narrativer Film, sondern es sind assoziative Bilder aus der Natur. Wir haben in den Wäldern rund um Stuttgart gedreht. Man sieht auch mich in dem Film – und das ist dann, als wäre ich mit zwei Ichs präsent – einmal im Konzert und einmal auf der Leinwand, so wie es Messiaens Ehefrau mit ihrer geistigen Erkrankung wohl auch gegangen ist. Der Film will die Stimmungen und die Poesie der Musik aufgreifen. Wir haben ihn bewusst als Schwarz-Weiß-Film produziert, weil Messiaens Musik in sich so viele Farben hat, dass wir da nichts dagegensetzen wollten, sondern der Film sich bewusst zurückhält und hinter die Musik stellt.
Gibt es weitere Pläne oder auch Stücke im Liedrepertoire, die Sie reizen bzw. interessieren würden?
Rachael Wilson: Definitiv! Ich liebe das Lied – allerdings interessieren mich hier vor allem Werke, die ein wenig theatralisch sind, so wie Harawi eben. Und ich bin auch nicht so sehr der Typ für einen klassischen, traditionellen Liederabend. Ich möchte mit dem Publikum interagieren können, in einen Dialog treten. Mich interessieren ungewöhnliche, neue Formate und Präsentationsformen. Daran möchte ich weiter arbeiten.