Alles was schweigt geht irgendwann kaputt

„Alles was schweigt geht irgendwann kaputt“ steht in Großbuchstaben auf dem Gebälk des halbrunden Säulenportikus des Stuttgarter Opernhauses – an einer Stelle, wo nicht selten bei anderen repräsentativen Gebäuden gewichtige Inschriften eingraviert sind oder in goldenen Lettern für eine Ewigkeit prangen. Im Beitrag erklärt Dramaturg Miron Hakenbeck, was es mit der Videoinstallation auf sich hat, die noch bis 31. März jeden Abend ab 19 Uhr läuft.

„Alles was schweigt geht irgendwann kaputt“ steht über den Doppelsäulen des Opernhauses allerdings nur am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit. Und bereits nach wenigen Sekunden weicht dieser Satz einer Präzisierung: „Alles was immer schweigen muss“

Der Satz ist Titel und Teil einer etwa vierzehnminütigen Video-Arbeit von Philine Rinnert und Johannes Müller, die bereits seit Ende Februar und noch bis 31. März jeden Abend zwischen 19 und 20.30 Uhr als Loop zu sehen ist. Die beiden Berliner Musiktheater-Macher*innen, mit denen die Staatsoper in der vergangenen Spielzeit die Projekt-Reihe „Orpheus Institut“ entwickelt hat, nutzen die Fassade des Littmann-Baus als Projektionsfläche und machen sie auf diese Weise transparenter. Mit ihren Videobildern geben sie einen Einblick in die Maschinerie der Opernbühne: Sie zeigen Seilwinden, hydraulische Anlagen und Zugsysteme, die im Opernalltag die theatralischsten Verwandlungen erlauben, dem Publikum in der Regel aber verborgen sind. Hier muten sie wie anatomische Strukturen eines Körpers an – Sehnen, Muskeln, Nerven und Gefäße. Diese Anatomie des Opernhauses überblenden Rinnert und Müller mit Innenansichten des menschlichen Kehlkopfs. Aufnahmen einer Stimmritze in voller Aktion wechseln mit historischen Darstellungen des menschlichen Stimmapparats und akustischer Phänomene ab. Auf diese Weise erscheint die menschliche Stimme als eine Technologie, die erlaubt, Regungen wie Freude und Überschwang aber auch Zorn oder Trauer zum Klingen zu bringen. Das Gebäude, in dem diese Stimmapparate erklingen, wirkt selbst wiederum wie ein riesiger Körper.
Inspiriert ist der Titel der Arbeit übrigens von dem Bericht eines der Maschinist*innen der Bühnentechnik, mit denen Rinnert und Müller im vergangenen Sommer für das Projekt EX MACHINA Interviews geführt hatten. Diese müssen erklärtermaßen auch bei eingestelltem Spielbetrieb die Maschinen von Zeit zu Zeit in Betrieb setzen, weil nach längerem Stillstand sonst gar nicht mehr ginge, ähnlich wie bei einem Körper, der sich nach wochenlanger Bettlägerigkeit auch nicht ohne Mühe wieder erheben könne.

Jetzt, wo der Körper Opernhaus schon zum zweiten Mal für Monate in den Tiefschlaf versetzt zu sein scheint (weil trotz Proben und zahlreicher online-Aktivitäten auf der Bühne keine Oper gespielt werden kann), jetzt also, wo die Maschinerie stillsteht, liegt es nahe, diese Video-Arbeit vor allem als Reaktion auf die monatelange Schließung von Kulturinstitutionen und anderen Orten öffentlicher Begegnung anzusehen. Als einen Aufruf, andere Wege zu finden, seine Stimme zu erheben und nach Möglichkeiten des Ausdrucks zu suchen.
Doch geht es um mehr als die Pandemie-bedingten Schließungen. Nicht erst seit Sigmund Freud ist bekannt, dass das Verschweigen, Zurückhalten und Verdrängen von Dingen, die gesagt werden wollen, zu Schäden führt. Und auch mit Anliegen kein Gehör bei Anderen zu finden, kann ein tiefgehendes Gefühl der Ohnmacht auslösen.

Die Oper ist seit jeher ein Ort, wo Mensch erleben kann, dass Menschen ihre Liebe, ihren Frust, ihre Wut, ihr Hadern mit der Welt oder ihre Euphorie heraussingen können. Sie verleihen auch da, wo sie tragisch scheitern, ihren Angelegenheiten einen Ausdruck, der unter die Haut geht. Diesen Stimmen zuzuhören, kommt vielleicht der Erfahrung ein wenig nahe, selbst Schweigen zu durchbrechen.
Es ist also unumgänglich zu sprechen, manchmal auch zu jammern, zu heulen, zu klagen, zu krächzen. Oder eben zu singen. Zwischen den Bildern fliegen in der Projektion Sätze und Wortkaskaden über die Säulenarchitektur und machen aus dieser soundlosen Installation ein ganz und gar nicht stummes Dialogangebot an die Passant*innen im Park.

„Alles was schweigt geht irgendwann kaputt“ ist eine aktuelle Einladung an alle, die im Angesicht des Opernhauses joggen oder patrouillieren, die von der Arbeit rasant nachhause radeln oder flanieren und sich auf der Operntreppe niederlassen, schon jetzt Phantasien zu entwickeln: Was könnte sich hinter der Sandstein-Fassade der Oper alles verbergen? Und welche Klänge wollen sie hören, welche Geschichten erleben, wenn sich die Türen in ihr wieder öffnen? Damit auch die Oper vielleicht mehr als je zuvor ein Ort geteilter Öffentlichkeit sein kann, so wie der Park vor ihren Türen.