Von der Idee zur Partitur

Bernhard Lang erhielt von der Staatsoper Stuttgart
den Auftrag, ein neues Werk zu komponieren: „Dora“! Und dann? In der neuesten Ausgabe der Reihe 5, dem Magazin der Staatstheater Stuttgart, beschreibt Arno Lücker den Weg der Partitur – von den Anfängen bis zur Uraufführung.
Die Idee
Die wenigsten Komponisten schreiben gern einfach drauflos und damit möglicherweise für die Schublade (die vielleicht sogar erst post mortem geöffnet wird) beziehungsweise für den Unterordner auf ihrem Notebook. (Obwohl es natürlich sein kann, dass ein Komponist eh eine massive musiktheatrale Schaffensbereitschaft in sich trägt und den Anruf eines Auftraggebers dann laut willkommen heißt!) Jedenfalls: Kein Komponist fängt bei null an, kein Komponist ändert seinen Stil mit dem erhaltenen Auftrag. Meistens gären diverse Prozesse bewusst oder unterbewusst schon länger im künstlerischen Subjekt. Das können Verlaufsgedanken sein, Rhythmusideen, Gedanken zu Instrumentationsverschränkungen oder Höhepunkten, an denen alles herrlich zusammencrasht. Gute Auftraggeber gehen außerdem sensibel vor und vertrauen darauf, dass Komponisten letztlich ihren eigenen Weg finden. Die Form, die Gattung – etwa: Oper! –, ist dabei freilich gleichsam gesetzt. Kein Konzert- oder Opernhaus rechnet damit (oder vielleicht hoffen sie es einfach nur), dass am Ende ein Klarinettentrio, eine Performanceanweisung für Schulklassen oder ein mehrtägiges Musiktheatermonstrum hinten rauskommt.
Die Annäherung
Im Falle von Dora folgen ein Gespräch zwischen Bernhard Lang und einer Dramaturgin (übrigens in Wien) sowie die Lektüre der Werke des Schriftstellers Frank Witzel, die dem Komponisten ans Herz gelegt wird. Witzel nämlich wird als Librettist gewonnen. Ein schöne Fügung, denn am besten reist man nie allein. (Was natürlich nicht stimmt. Aber wenn man eine Uraufführung auf die Beine stellen will, ist gute Gesellschaft, sind Reisebegleiter und Wegweiser nicht nur willkommen, sondern dringend nötig!)
Das Konzept
Dem Mythos, jedes musikalische Meisterwerk müsse erst einmal und vor allem eine immerwährende geistige Anstrengung und damit mühsam sein, steht Bernhard Lang kritisch gegenüber. Wer bewegt sich schon gern durch unattraktive Gegenden voller Bausünden und Dickicht? Nein, die Zusammenarbeit von Witzel und Lang ist Fluss und Harmonie, wie der Komponist erklärt: „Schwere Geburten sind mir verdächtig. Vom Moment der Lektüre an wurde es einfacher und einfacher. Lesen, lesen, lesen, bis der Text zu klingen begann.“ Dora strömt also aus dem Text selbst hervor, der schon ein inhärentes musikalisches Konzept hat – der schon Musik ist. Es ist wie beim echten Reisen: Eine wahre Idee von einem (noch) fremden Land, einer unbekannten Region oder Landschaft entsteht nicht durch das Anschauen einer dreisekündigen Instagram- Story. Authentizität braucht Zeit und Hingabe.
Die Feinarbeit
Nach dem Aufschreiben (neben der Uraufführung oftmals der lustvollste, weil unmittelbarste Moment) per Hand oder gleich am Computer folgt die Stimmenauskopplung. Eine Partitur muss praxisnah gemacht werden. Nicht alle Beteiligten brauchen alle Stimmen. Zuletzt werden Fehler beseitigt, der Komponist klärt Fragen mit dem Dirigenten der Uraufführung per Telefon oder E-Mail. Bald werden bei den Proben Klanggewichtungen sortiert, häufig in Anwesenheit des Komponisten. (Über Tempi ist man sich meistens schon früh handelseinig. Denn auch die Studienleiter und Korrepetitoren müssen über gewisse Geschwindigkeiten informiert werden. Sonst ist der Probenprozess voller Fragezeichen, Unwägbarkeiten und Unzufriedenheiten.)
Das Hören
Das wirklich Geheimnisvolle entsteht (oder lüftet sich), wenn sich die Reise ihrem Ende zuneigt, bei der Klavierhauptprobe, der Generalprobe, natürlich der Premiere! Wenn der Klang (und alles, was drum herum passiert) endlich zu einem Ganzen wächst. Wenn die jeweilige Musik der Partitur im jeweiligen Individuum hörbar wird. Erinnerungen, Assoziationen, größte Ohrdramen: Alles ist möglich. Und doch: nie fertig. Bernhard Langs Musik versteht sich immer auch als work in progress, wie einst bei Anton Bruckner oder Pierre Boulez, die so manche ihrer Werke wieder und wieder bearbeiteten. „Fertig“ will ja sowieso niemand sein!