Cornelius Meister (Foto: Matthias Baus)

Wann, wenn nicht jetzt?

Wie geht es im Herbst auf der Bühne, im Orchestergraben und im Konzertsaal weiter – wird dann trotz fortgeschrittener Impfquote weiterhin Kunst „auf Abstand“ nötig sein? Generalmusikdirektor Cornelius Meister meint: Das würde das Kulturleben in seiner Substanz treffen. Ein Debattenbeitrag zur Saison 2021/22 – und zur Zukunft der Kunst als solche.
Wie viel Risiko eine Gesellschaft eingehen sollte: Darüber lässt sich trefflich diskutieren.

Anders als vielen anderen Orchestern – sowohl professionellen Ensembles als auch Amateurorchestern, die nach wie vor unter größten Einschränkungen leiden – ist es dem Staatsorchester Stuttgart dieser Tage zum ersten Mal
seit mehr als 16 Monaten gestattet, bei zwei Ballett-Aufführungen von Ravels Boléro eng nebeneinander im Orchestergraben in originaler Besetzung zu musizieren. Alle Beteiligten sind entweder geimpft, getestet oder genesen. Diese Aufführungen finden im Rahmen eines Modellversuchs des baden-württembergischen Sozialministeriums in Kooperation mit der Universität Stuttgart statt, bei dem im Vorfeld sitzplatzgenau mögliche Infektionswege innerhalb des Publikums analysiert wurden.

Für die kommenden Monate aber, vielleicht sogar für Jahre, sollten wir uns über zweierlei im Klaren sein: Im Dezember wird die Covid-Impfquote in Deutschland vermutlich nicht deutlich höher sein als im September, während die Inzidenz im kommenden Winter wohl nicht niedriger sein wird als im September. Am heutigen Tag liegt sie deutschlandweit durchschnittlich bei 13.

Das heißt: Wenn im September die Mitglieder aller Orchester und aller Chöre, sofern sie geimpft, getestet oder genesen sind, nicht eng nebeneinander musizieren dürften, weshalb sollte es ihnen dann im Dezember 2021 oder im Februar 2022 erlaubt sein? Mehr noch: In diesem Fall wüsste ich nicht, ob sie überhaupt jemals, auch viele Monate später, Richard Wagners Ring des Nibelungen, Giuseppe Verdis Aida oder ähnliche Werke aufführen dürften. Denn die herrschende wissenschaftliche Meinung geht derzeit nicht davon aus, dass Covid in Deutschland in ein oder zwei Jahren gänzlich ausgestorben sein wird.

Daraus folgt: Was auch immer für die Zeit nach der Sommerpause entschieden wird, und zwar gleichermaßen für Profi- wie für Laiengruppen, für Jugendorchester wie für Big Bands – die Entscheidungsgrundlage wird einige Monate später nicht rosiger sein.

Wer verhindert, dass im September Chöre und Orchester so eng beieinander musizieren, wie es künstlerisch sinnvoll ist, dem muss klar sein, dass er oder sie damit einen nicht ersetzbaren Teil der Kultur auf unabsehbare Zeit gänzlich zum Erliegen bringt.

Es war und ist wichtig, durch Impfen und Testen Menschenleben zu schützen. Aber wir dürfen nicht darauf warten, bis das Virus hoffentlich einst gänzlich zurückgedrängt sein wird, bevor wir wieder in adäquater Weise miteinander musizieren.

Spätestens wenn jeder, für den die Ständige Impfkommission dies vorsieht, ein Impfangebot erhalten haben wird, müssen zwei Streicher wieder aus einem Notenpult spielen und Chorsängerinnen und -sänger näher als sechs Meter nebeneinander stehen können, – auch wenn das Virus dann in der nach wissenschaftlicher Einschätzung kaum vulnerablen Gruppe nach wie vor zirkulieren sollte.

Es geht nicht um den September 2021, es geht nicht um die Spielzeit 2021/22; es geht um die nächsten Jahre und das Kulturleben in seiner Substanz.