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19.06.2019 „Hurra diese Welt geht unter“ Warum wir von Mefistofele nichts lernen.

„Hurra diese Welt geht unter“

Warum wir von Arrigo Boitos "Mefistofele" nichts lernen sollen.
Haben Sie manchmal auch das Gefühl, dass die Welt vor die Hunde geht? Unsere Autorin Hanna Schlieder hat die Suche nach dem Sinn aufgegeben und ist davon überzeugt: Dem Bösen ist nichts Gutes abzugewinnen. Und so können wir auch von Mephistos Treiben nichts lernen. Oder vielleicht doch?
„Ein vermehrtes Interesse am Bösen lässt sich nahezu immer zu Zeiten eines gesellschaftlichen Umbruchs feststellen. Wenn die herrschenden ethischen oder moralischen Normen ins Wanken geraten, hinterfragt oder gar ungültig werden, stellt das für den Menschen eine Zeit ohne Halt dar: Man sucht nach neuen Erklärungen und Mustern für die Welt und den Platz des Menschen darin und wendet sich dabei auch metaphysischen Bereichen zu – der Kirche oder eben auch dem Teufel.“
(Stefanie Strigl)
Manchmal kommt mir das Weltgeschehen wie viele schlechte Filme vor – und alle laufen gleichzeitig ab. Eine kleine Programmübersicht: Auf der anderen Seite des Teichs lügt sich Präsident Donald Trump durch die Vereinigten Staaten, in Nordkorea werden zurückkehrende Sondergesandte direkt am Flughafen hingerichtet, in Frankreich gewinnen dieRechtspopulisten die EU-Wahl und in Stuttgart demonstrieren die Dieselfahrer zeitgleich mit den Fridays for Future-Kids. Ich finde das alles recht absurd und einen Sinn kann ich nun wirklich nicht finden. Aber es soll ja zahlreiche Menschen geben, die das Gute in unserer aktuellen Situation sehen.
„Doch nehmen wir einmal an, dass mit der Wahl Trumps tatsächlich der unwiderlegbare Gottesbeweis erbracht worden wäre. Dann müsste man sich natürlich fragen, was den Herrgott dazu gebracht haben könnte, den Amerikanern und uns einen solchen Präsidenten zu schicken.“
(Berthold Kohler)
© Thomas Aurin
„Bitte Herr vergib ihnen nicht, denn sie wissen was sie tun“
Das Zitat von Berthold Kohler ist natürlich ironisch zu verstehen. Und wenn er fortfährt, Gott würde die aktuelle Situation wieder gerade biegen, wenn wir uns auch nur alle vegan ernähren und auf der Autobahn Tempo 30 fahren, dann kann man schon von Zynismus sprechen. Ein Sinnbild für eine konträre Einstellung: Die aktuelle Situation ist kein ausgetüftelter Plan von Gott oder auf Schicksal zurückzuführen. Generationen von Menschen haben uns diese Misere eingebrockt und einige von ihnen könnte man wohl als Teufel bezeichnen. Und wenn ich von Teufeln spreche, dann meine ich ganz im Sinne von Arrigo Boito, Menschen die schlichtweg und frei von jeglicher nachvollziehbarer Motivation böse sind.
© Jean-Louis Fernandez
„Der Kamin geht aus, wirf' mal noch 'ne Bibel rein“
Alex Ollé, der Teil des katalanischen Theater-Kollektivs La Fura dels Baus ist, hat vergangenes Jahr an der Opéra de Lyon Arrigo Boitos Mefistofele inszeniert. Eine Produktion, die nun auch in der Staatsoper Stuttgart seine Premiere feiert. Und während Ollé sich seit 1997 im Rahmen unterschiedlicher Projekte mit dem Faust-Mythos auseinandersetzt, rückt er mit dieser Arbeit erstmalig die Rolle des Mephisto – sonst als Alter Ego von Faust dargestellt – in den Mittelpunkt. Ollés Ziel ist dabei die Erforschung des Bösen, „seinen Mangel an Empathie“. Dabei macht er„ihn zu einem Psychopathen, der uns Einblicke gewährt in seine Wahnvorstellungen und die unendliche Grausamkeit seiner zerstörerischen Fantasie“.
Die Basis für diese inszenatorische Spielerei stellt das Stück an sich dar: Es wendet sich dem Bösen zu, gibt ihm eine Daseinsberechtigung und beschreibt den Teufel nicht als Antagonisten, sondern als gleichbedeutend wie das Gute, als unabhängig bestehende Instanz.  Sowohl die Musik, als auch das Libretto kommen von Arrigo Boito und sind beeinflusst durch eine Phase der gesellschaftlichen Umwälzung – doch nicht nur diese Parallele im Vergleich zu unserer jetzigen Situation verleiht der Produktion seine Relevanz.
© Thomas Aurin
„Auf den Trümmern das Paradies“
Als Boito 1861 sein Studium der Musik in Mailand abschloss, war die Wiedervereinigung Italiens politische Realität geworden. Doch die italienische Gesellschaft war über Nacht nicht zu einer Nation zusammengewachsen, sondern geprägt durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Probleme. Erklärtes Ziel war daher die Einigung der Gesellschaft zu bewirken und in den Kreisen der italienischen Intellektuellen war man sich sicher, dass der Anstoß hierfür vor allem aus dem Bereich der Künste kommen würde. Es wurde eine Befreiung von der Tradition, von der prägenden Romantik angestrebt – entstehen sollte eine vollkommen neu definierte Kunst.
Bedingt durch diese Entwicklungen formierte sich auch die Künstlergruppe der Scapigliatura: das Wort scapigliato bedeutet so viel, wie zerzaust und bezieht sich hierbei auf unordentliche Kleidung. Inspiration für ihren Lebensstil und intellektuelle Ausrichtung waren die sogenannten Bohèmiens in Paris, welche sich ebenfalls dem gut-bürgerlichen und gesittetem Leben verweigerten.
Boito selbst wandelte zwischen den Cafés der Bohème und Mailand und so erstauntes wenig, dass er und mit ihm die Künstlergruppe Merkmale der französischen Literatur, Kunst und Philosophie übernahmen. Eines dieser Merkmale war das ausgeprägte Interesse für das Böse. 

Dies spiegelt sich auch in Arrigo Boitos Oper Mefistofele wieder, welche auf Goethes Faust I und II beruht – stark auf das Wesentliche zusammengekürzt,versteht sich.
Und während die Uraufführung in Mailand 1868 nur als Flop bezeichnet werden kann (bedingt wurde dies durch einige strategische Denkfehler Boitos’), war die zweite Aufführung in veränderter Form in Bologna 1875 ein voller Erfolg.
© Thomas Aurin
„Die Kids gruseln sich, denn ich erzähle vom Papst“
Aber was macht das Faszinierende dieser Oper aus? Was war – auch im Hinblick auf das Ziel die Künste neu zu definieren – das innovative Moment von Mefistofele?

Normalerweise finden wir bei den bösen Charakteren der Oper, welche übrigens vor allem als Gegenspieler auftreten, immer eine nachvollziehbare Motivation für ihr unmoralisches Handeln: Eifersucht, Habgier – wir kennen sie Dank dem sonntäglichen Tatort alle. Geht man davon aus, dass es ein zentrales Motiv gibt, so bedingt dies zwangsläufig auch die Fähigkeit der Figuren zur Einsicht, Reue oder vielleicht sogar Verhaltensänderung. Bei Boito jedoch, können wir – wenn überhaupt – nur fragwürdige Motivationen erkennen. Somit existiert keine Begründung für das Böse in Mephisto. Er ist einfach böse. Er ist der Teufel und er bereut sein Handeln nicht.
Unser Bedürfnis nach einem die-Moral-an-der-Geschicht’-Ende bleibt weitergehend unbefriedigt. Wir lernen absolut nichts.
Oder vielleicht doch?
„Wenn das Schicksal undurchschaubar willkürlich ist, der Tod zufällig und das Leben ohne Sinn, wenn einem die höheren Mächte mit Sicherheit nicht wohlgesonnen sind, so bleibt eben oft nur die Flucht in den Zynismus und Spott.“ (Stefanie Strigl)
Vielleicht lernen wir – so meine ganz subjektive These – das Böse dieser Welt zunächst einmal auszuhalten und zu akzeptieren, statt Ausflüchte zu suchen. Hoffentlich fangen wir an mit einem gesunden Maß an Sarkasmus den Absurditäten unserer Zeit zu begegnen. Vielleicht hilft uns schließlich die Ohnmacht proaktiv zu werden. 
Wir alle werden bei Arrigo Boitos Mefistofele in der Inszenierung von Alex Ollé zu Zuschauern eines schaurig, bildgewaltigen Spektakels. Und am nächsten Morgenstimmen wir ein, wenn uns KIZ aus dem Radio entgegenbrüllen „Hurra diese Welt geht unter“, während wir uns ein veganes Frühstück bereiten. Weil irgendwo muss man ja anfangen.
Quellen:
  • Stefanie Strigl „Die musikalische Chiffrierung des Bösen: Eine Untersuchung zum Werk von Arrigo Boito“
  • Alle Überschriften sind Liedzeilen aus „Hurra die Welt geht unter“ von KIZ feat. Henning May