Oper trotz Corona
Die Corona-Pandemie hat international bei vielen kulturellen Institutionen tiefe Spuren hinterlassen. Auch an der Staatsoper Stuttgart war über anderthalb Jahre der reguläre Spielbetrieb weitgehend eingestellt oder stark eingeschränkt. Johannes Lachermeier, Direktor Kommunikation, stellt sechs Projekte des Hauses vor, die unter dem Label „Oper trotz Corona“ entstanden sind, darunter künstlerische Aktionen und Kommunikationsprojekte, digitale Maßnahmen und Aufführungen mit Publikum. Ein Rückblick auf eine außergewöhnliche Zeit.
Dieser Text ist ursprünglich erschienen im interdisziplinären Sammelband Neue Wege für die Kultur? Kommunikationsstrategien und -formate im europäischen Kultursektor (Hg. von Christina Vaih-Baur und Dominik Pietzcker, Springer VS 2022).
Was bleibt von „Oper trotz Corona“?
Im Herbst 2021 scheinen die deutschen und internationalen Kulturbetriebe die Corona-Pandemie weitgehend überstanden zu haben: Die Häuser haben ihre Pforten zur neuen Saison geöffnet, die Theater-, Opern- und Tanzkompanien spielen wieder vor ihrem Publikum. Die in den vergangenen anderthalb Jahren in unterschiedlichsten Ausprägungen erfolgten Einschränkungen, Schließungen und Teilöffnungen scheinen zu Ende gegangen zu sein. Die Staatstheater Stuttgart belegen die Zuschauersäle seit November wieder vollständig, zudem sind auch auf der Bühne die künstlerisch stark einschränkenden Abstandsregeln gefallen.

Was hat sich in der Zwischenzeit verändert? „Überraschend viel“, konstatiert Viktor Schoner, Intendant der Staatsoper Stuttgart, in einem Debattenbeitrag in der Süddeutschen Zeitung. Und er fragt weiter danach, was nun folgen soll: „Erstens haben sich Dinge herauskristallisiert, die natürlich unbedingt wieder so werden sollten, wie sie vor Beginn der Pandemie waren. Zweitens Dinge, die auf keinen Fall wieder so werden sollten wie zuvor. Und drittens Dinge, die unbedingt so bleiben sollten, wie sie während der Pandemie entstanden sind.“

Aber was sind das für Dinge? Was eigentlich hat sich verändert? Corona stellte die Staatsoper Stuttgart als Institution, aber auch ihre Angestellten, ihr Publikum und v.a. nicht festangestellte, freiberufliche Kulturschaffende vor große Herausforderungen. Durch den zeitweisen kompletten Wegfall des Spielbetriebs und der Unmöglichkeit von Proben waren die Theater-, Opern- und Konzerthäuser ganz unmittelbar ihrer Kernaufgaben beraubt, nämlich künstlerische Darbietungen vor einem physisch anwesenden Publikum aufzuführen. Was sonst allabendlich im Stuttgarter Opernhaus und andernorts gezeigt wurde, fiel plötzlich weg.

Allgemein wurde dies als großer Einschnitt empfunden: Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte es keine derart lange und einschneidende Unterbrechung des Theaterbetriebs gegeben. Allenthalben wurde in Kulturkreisen postuliert, das eigene Schaffen habe nicht nur die Funktion eines „Ornaments oder eines Sahnehäubchens in der Gesellschaft“. Großer Konsens herrschte in der Überzeugung: „Kultur ist systemrelevant!“

Wie jedoch die Gesellschaft von der eigenen Relevanz überzeugen, wo doch der eigentliche Kern des Schaffens weggefallen war? Zwangsläufig und reflexhaft wichen viele Institutionen auf Online-Formate aus: Streams, live und on demand, und viele weitere digitale Angebote schossen deutschland- und weltweit aus dem Boden. Auch die Staatsoper Stuttgart machte hier keine Ausnahme: Unmittelbar am Tag nach Beginn des ersten Lockdown wurde ein Mitschnitt von Mozarts Le nozze di Figaro zur Verfügung gestellt, danach sollte wöchentlich ein neuer Stream folgen. Dennoch blieb die Frage: Was ist der eigentliche Kern des eigenen, künstlerischen Tuns? Schnell war klar, dass es mit dem bloßen Streaming von Konserven aus dem Archiv nicht getan sein würde. Die Sehnsucht nach dem Ereignis Theater, nach dem gemeinsamen Vor-Ort-Sein im Theaterraum blieb. Das Moment der Präsenz fehlte. Damit einher ging auch der fehlende Austausch mit dem Publikum, das zum Gelingen einer jeden Vorstellung genauso essentiell ist wie die ausführenden Künstler*innen. Wie sollte der Kontakt zum Publikum gehalten werden, wenn doch kein direkter, allabendlicher Austausch mehr möglich war? Wie die Bindung der Zuschauer*innen zu „ihrem“ Haus aufrechterhalten? Zudem hatten die Lockdowns und Einschränkungen auch gravierende wirtschaftliche Konsequenzen: Freischaffenden brach plötzlich ihr Verdienst weg, Staatshilfen wurden nicht oder nur schleppend ausgezahlt. Natürlich sind auch staatliche Häuser auf freiberufliche Sängerinnen, Musiker, Regisseurinnen, Kostüm- und Bühnenbildner oder Videokünstlerinnen angewiesen: Zwar verfügt beispielsweise die Staatsoper Stuttgart über ein fest angestelltes Sängerensemble, das Staatsorchester Stuttgart als Klangkörper des Hauses sowie den Staatsopernchor als Sängerkollektiv. Dennoch ist zum Gelingen fast einer jeden Vorstellung und eines jeden Konzerts auch die Mitwirkung hausfremder Kräfte notwendig. Der langfristige Ausfall von Freischaffenden hätte kurz- und langfristig also auch weitreichende Konsequenzen für die Staatsoper Stuttgart und die gesamte Kulturszene gehabt. Es ist kaum überspitzt zu sagen, dass sich durch die Frage nach der eigenen Legitimierung, die plötzlich fehlende Bindung des Publikums und die Bedrohung der Infrastruktur die Existenzfrage für die Staatsoper Stuttgart und andere Kulturinstitutionen stellte. Auf den folgenden Seiten soll der Frage nachgegangen werden, wie die Staatsoper Stuttgart versuchte, auf diese Herausforderungen zu reagieren. Welche neuen Formate wurden zwischen März 2020 und Juli 2021 kreiert, wie haben sich Kunst, ihre Rezeption und nicht zuletzt die Kommunikation mit dem Publikum verändert? Welche positiven Veränderungen konnten in dieser Zeit gemacht werden, insbesondere im digitalen Raum? Wie konnten auch einschränkende Maßnahmen positiv für eine Kommunikation mit dem Publikum genutzt werden? Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, welche dieser Veränderungen auch zukünftig weitergeführt werden können und sollen.

Im Folgenden soll anhand dreier Kernthesen untersucht werden, wie sich einige der Maßnahmen in der Kommunikation des Hauses ausgewirkt haben. Insbesondere das Kreieren von Livemomenten, die Involvierung des Publikums sowie die Vernetzung und die Solidarisierung mit der (Stadt-)Gesellschaft sind dabei die entscheidenden Parameter bei der Einordnung, die sowohl künstlerische Aktionen wie auch Kommunikationsmaßnahmen umfasst. Alle außerordentlichen Maßnahmen während der Corona-Pandemie wurden unter dem Label „Oper trotz Corona“ (oder auf den Hashtag #OpertrotzCorona komprimiert) zusammengefasst: Vom ersten Web-Video, das unmittelbar am Tag nach dem ersten Lockdown veröffentlicht wurde bis hin zu den „quick and dirty“ produzierten Operetten am Stuttgarter Hafen oder den inszenierten musikalischen Spaziergängen im Bopserwald – alles, was nicht im konventionellen Rahmen des Opernhauses produziert wurde, sei es digital, im öffentlichen Raum oder mit kleinem Publikum, lief bis zum Sommer 2021 unter dieser Marke. Dabei war „Oper trotz Corona“ gleichzeitig Schlachtruf und Trost, Ermutigung und ein Zeichen für Engagement. Oder wie es Intendant Viktor Schoner formulierte: „Wir lassen uns von der zugegebenermaßen schwierigen Situation nicht entmutigen und wollen mit diesen Aktionen ein Zeichen setzen: Wir sind auch weiterhin für unser Publikum da – mit Engagement, Spielfreude und Musikalität!“

Die Staatsoper Stuttgart zählt zu den wichtigen europäischen Opernhäusern und ist zugleich Teil des größten Mehrspartenhauses Europas, den Staatstheatern Stuttgart. Insgesamt rund 230.000 Besucher*innen zählt allein die Staatsoper ohne äußere Einschränkungen in der Saison, davon bilden rund 16.000 einen festen Abonnentenstamm. Das Opernhaus verfügt über 1.404 Plätze. Mit der Übernahme der Intendanz von Viktor Schoner 2018 wurde ein verstärkter Fokus auf digitale Maßnahmen gelegt, die während der Corona-Pandemie intensiviert wurden.
Ein Video-Rückblick auf den ersten Corona-Sommer 2020: Digitalprojekte, 1:1 Concerts, Innenhofkonzerte und vielews mehr!
Kreation von Live-Momenten
Es ist eine Binsenweisheit: Nichts kann die Präsenz des Theaterereignisses ersetzen, dieses unwiederholbare, kollektive Erlebnis, bei dem das Publikum in einem Raum zusammenkommt und auf Kunstschaffende auf der Bühne trifft. Was Theater von Fernsehen, Kino und Streamingdiensten unterscheidet, ist, dass sich Menschen treffen und zur selben Zeit im selben Raum sind. Eine Aufführung wird überhaupt nur zu einer Aufführung, wenn das „gegenseitige […] Wahrnehmen und Wahrgenommen-Werden“ zwischen Akteur*innen und Publikum gewährleistet ist, „das die feedback-Schleife in Gang setzt und so eine Aufführung erzeugt.“ (Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 2004, S. 125) Das Publikum vor Ort ist für eine Theateraufführung also genauso essentiell wie die Ausführenden – und dieses brach durch die Corona-Pandemie vollständig und über lange Zeit weg.

Natürlich gab es auch während der Pandemie diese Momente der Präsenz: Besonders die 1:1 Concerts, von denen später noch zu reden sein wird, führten dies eindrucksvoll vor Augen, aber auch Aufführungen im Autokino, im Wald, in den Innenhöfen von Wohnhäusern, im öffentlichen Raum, auf dem mobilen Operntruck oder Open Airs am Stuttgarter Industriehafen – „Oper trotz Corona“ brachte eine Fülle von Präsenz-Veranstaltungen hervor, die unter normalen Umständen nie möglich gewesen wären. Allein im Juni und Juli 2020 fanden weit über 100 Vorstellungen statt, hinzu kamen in der gleichen Zeit noch 774 1:1 Concerts. Es entstand eine breite Fülle von innovativen Angeboten, die die traditionelle Form von Oper erweiterten, neu definierten und lustvoll unterwanderten. Hier soll es jedoch vor allem darum gehen, wie die Staatsoper Stuttgart versuchte, in den Zeiten des Lockdowns die Bindung ans Publikum zu erhalten – auch ohne das Moment der Präsenz. Natürlich gab es vielerlei Bemühungen, das entstandene Defizit durch Streamings auszugleichen. Ob live oder on demand, ob kostenlos oder zahlungspflichtig: Viele Theater- und Opernhäuser sahen darin den Weg, Aufführungen, die ja nun gezwungenermaßen nicht vor Publikum stattfinden konnten, doch zur Premiere und damit an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch an der Staatsoper Stuttgart gab es viele solcher Maßnahmen, im Zeitraum von März bis Juli 2020 wurde in wöchentlichem Wechsel eine andere Aufführung als kostenloser Stream auf der Website zur Verfügung gestellt. Die Bühne des Opernhauses, im ersten Lockdown ab März 2020 für einige Wochen völlig verwaist, wurde über mehrere Wochen zum Filmstudio: Die Sänger*innen und Musiker*innen des Hauses, aber auch Mitarbeitende aus den technischen Gewerken sangen, spielten und erzählten aus ihrem Alltag. Entstanden sind dabei über 60 Videos, die auf dem YouTube-Kanal des Hauses veröffentlicht wurden und viel Resonanz beim Publikum fanden. Doch natürlich: Die direkte, unmittelbare Reaktion fehlt dabei. Theateraufführungen setzen „die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern als selbstverständlich“ (Fischer-Lichte 2004, S. 125) voraus. Wie lässt sich jedoch mit einem On-Demand-Stream, der über mehrere Tage zur Verfügung steht, dieses Moment der Ko-Präsenz herstellen?

Als lockeres Format des Austauschs und gleichzeitig der gemeinsamen Rezeption waren die Watchpartys ab Dezember 2020 konzipiert: Zu allen im Stream gezeigten Produktionen wurde jeweils am ersten Tag eine solche Watchparty mit Beteiligten der Produktion angeboten: In diesem Format konnte man nicht nur Ausschnitte aus der jeweils gezeigten Oper gemeinsam ansehen, sondern auch mit den Kunstschaffenden ins Gespräch kommen. Das ergab oft ungewohnte und mitunter auch sehr persönliche Einblicke in den Produktionsprozess einer Aufführung, immer anhand von Beispielen aus dem Stream. Atmosphärisch eher an der lockeren Stimmung einer Premierenfeier orientiert, konnte das Publikum im Chat Fragen an die Beteiligten stellen, Kommentare abgeben oder seine Meinung zur Produktion äußern. Am Ende des Streaming-Zeitraums stand zudem jeweils ein Nachgespräch, bei dem Publikum, die Dramaturgie des Hauses und ein Vertreter des Produktionsteams direkt miteinander ins Gespräch kommen konnten. Mit diesen beiden Formaten wurde also der Versuch unternommen, das gemeinsame Sehen einer Aufführung und das Sprechen darüber in den digitalen Raum zu überführen. Wenngleich auch keine physische Ko-Präsenz möglich war, so konnten sich Kunstschaffende und Publikum doch begegnen und in Austausch treten. Zielgruppe war dabei nicht in erster Linie das Stammpublikum des Hauses, das die Aufführung möglicherweise ohnehin kennt, sondern ein Publikum, das bei diesem Format die Möglichkeit hatte, die Produktion (oder Teile davon) direkt aus erster Hand von den Macher*innen kennenzulernen und sich dabei locker auszutauschen.
Screenshot von der Watchparty zu Die Liebe zu drei Orangen mit dem Moderator Johannes Lachermeier, der Sängerin Stine Marie Fischer und dem Regisseur der Produktion Axel Ranisch
Ein breit rezipiertes Beispiel für den gemeinsamen Livemoment im Internet war der Opernball der Staatsoper Stuttgart, der am 16. Februar 2021, dem Faschingsdienstag, stattfand. Ist das gemeinsame Erleben von Theater schwer in den digitalen Raum zu übersetzen, so ist es das gemeinsame Feiern noch ungleich mehr: Zahllose Livestreamings von DJ-Sets während der Pandemie waren nur ein blasser Ersatz für das gemeinsame Tanzen im Club. Wie jedoch sollte ein ganzer Opernball ins Web kommen?

Die Konzeption eines solchen, in den Anforderungen völlig neuartigen Events war eine große Herausforderung. Technisch wurden dafür schließlich drei Komponenten realisiert: ein „klassischer“ Livestream, der das Bühnenprogramm und die Musik nach Hause transportierte, ein Videokonferenz-Element, mit dem sich die Teilnehmenden gegenseitig sehen konnten und ein Chat-Element, das zusätzlich auch einen räumlichen Eindruck des Opernhauses gab. Als „Bühne“, „Dancefloor“ und „Flaniermeile“ wurden diese drei Bereiche angekündigt. Bewusst wurden die Besucherkapazitäten auf 1.404 Plätze im Vorfeld limitiert, die schnell vergriffen waren – so viele Plätze hat das Stuttgarter Opernhaus. Den Stream konnte man jedoch auch ohne Anmeldung verfolgen, und so konnten insgesamt über 14.000 Zugriffe verzeichnet werden.

Das partizipative Moment stand dabei den gesamten Abend im Mittelpunkt: So konnten sich die Ballgäste nicht nur gegenseitig auf dem „Dancefloor“ beim Tanzen zusehen, die Bilder wurden zusätzlich auch noch in den Livestream eingespeist. Die Aufführung aus dem Opernhaus und die Rezeption, die Musik und die Reaktion des Publikums darauf wurden eins. Alle Teilnehmenden waren nicht nur bloße Zuschauer*innen, sondern gestalteten den Abend aktiv mit. Auch der Austausch auf der „Flaniermeile“ war ein essentieller Bestandteil des Abends: Hier konnte tatsächlich virtuell gewandelt werden wie im Foyer des Opernhauses, zudem konnte man mit anderen Teilnehmenden und Mitarbeitenden des Hauses ins Gespräch kommen – u.a. bei einem Kostümwettbewerb, der wiederum ein interaktives Moment zwischen Publikum und Bühne schuf.

Das Konzept scheint aufgegangen zu sein: „Virtuos hat die Staatsoper Stuttgart fröhliche Ballatmosphäre in heimische Wohnzimmer gezaubert. Der erste digitale Opernball brachte viel Lebensfreude zurück“, fasste die Stuttgarter Zeitung den Abend zusammen. „Mit so vielen Leuten bin ich zwanglos in Kontakt gekommen, wie ich es wahrscheinlich noch nicht vorher in einer Theaterpause erlebt habe“, schrieb eine Teilnehmerin im Anschluss per Mail.
Die Moderator*innen des Abends Stine Marie Fischer aus dem Solistenensemble der Staatsoper und Robert Rožić aus dem Ensemble des Schauspiel Stuttgart – Foto: Martin Sigmund
Diese beiden Aktionen zeigen, dass das gemeinsame Erleben von Theater und die Begegnung zwischen Kunstschaffenden und Publikum, durchaus auch im digitalen Raum möglich sind. Die körperliche Ko-Präsenz ist dafür nicht unbedingt ausschlaggebend, sehr wohl aber das Zusammenkommen an einem gemeinsamen Ort – und sei dieser digital. Ebenso ist die zeitliche Komponente ausschlaggebend: Der Livemoment ist eine wesentliche Grundlage für theatrale Formate im Netz. Wo On-Demand-Streams tatsächlich nur abbilden, „Konserve“ sind, kann das Netz auch Gemeinschaft stiften und Orte der Zusammenkunft schaffen.

Involvierung und Partizipation

Als sich für die Kulturveranstalter im November 2020 im Zuge des erneuten Corona-Lockdowns zum zweiten Mal der Vorhang schloss, war die Ernüchterung bei Künstler*innen, Mitarbeitenden und der Leitung des Hauses groß. Nach dem zaghaften Neubeginn in der Saison 2020/21 schien zunächst wieder Normalität einzukehren: Die ersten Premieren konnten gefeiert werden, unter größten Sicherheitsvorkehrungen, mit Masken auf der Bühne und im Publikum, mit physischer Distanz unter Zuschauer*innen und Darstellenden. Der Durst nach Kulturveranstaltungen war groß – auf beiden Seiten. Doch nach knapp sechs Wochen des Spielbetriebs war wieder Schluss, und neben Verständnis für den erneuten Lockdown zu Beginn der zweiten Welle herrschten auch Verunsicherung und Resignation.

Wie sollte man als Haus mit dieser gesamtgesellschaftlichen Lage umgehen – künstlerisch und diskursiv? Ein neuerliches, von guter Laune und Zuversicht geprägtes Streaming-Programm wie zur ersten Corona-Welle im März 2020 war kaum denkbar angesichts der neuerlichen Unsicherheit. Die Staatsoper Stuttgart versuchte auf diese Unsicherheit zu reagieren und sie zu thematisieren. Die Frage der Stunde war: Wie sicher können wir überhaupt sein? Kurzerhand wurde ein Aktionsmonat unter der Frage Sind Sie sicher? ins Leben gerufen, der schließlich auch noch den Dezember 2020 umfasste. In der Pressemitteilung dazu hieß es:

„Künstlerisch und diskursiv soll über die Frage ‚Sind Sie sicher?‘ nachgedacht werden – unter ganz arbeitspraktischen Aspekten wie der Frage nach Hygienemaßnahmen und Abständen, aber auch unter künstlerisch-philosophischen Gesichtspunkten: Wie sicher können Orte überhaupt sein? Wie sicher sind wir unserer selbst? Und was, wenn Opern- und Theaterhäuser als ‚Safe Spaces‘ des künstlerisch-inhaltlichen Diskurses einfach wegfallen? In Podcasts, Videos, Textbeiträgen sowie in Aktionen rund um das Opernhaus soll dieser Fragestellung nachgegangen werden. Dabei kommen sowohl Mitarbeiter*innen des Hauses, Kooperationspartner in der Stadt als auch das Publikum selbst zu Wort.“

Ganz bewusst provozierend formulierte der Autor dieses Beitrags zu Beginn des Projekts: „Wo Menschen zusammenkommen, ist es wegen des Virus nicht mehr sicher. Lassen Sie uns gemeinsam auch das Internet zu einem unsicheren Ort machen, ganz bewusst und lustvoll Fragen stellend.“

Die gesamtgesellschaftliche Unsicherheit angesichts des zweiten Lockdowns, das individuelle, höchst unterschiedliche Sicherheitsgefühl und auch ganz pragmatisch die Einschätzung der Sicherheit im Stuttgarter Opernhaus standen im Mittelpunkt der finalen Umfrage kurz vor Weihnachten, an der rund 500 Menschen teilnahmen. Fragen nach Orten oder Musik, die Sicherheit vermitteln, wurden dabei gestellt, aber auch solche nach Wünschen und Perspektiven für Kulturinstitutionen. Neben einer Aufarbeitung im digitalen Raum wurde eine Vielzahl der Antworten auch in den öffentlichen Raum gebracht: Auf einer Glasbox vor dem Opernhaus wurden die Antworten über mehrere Monate öffentlich präsentiert und so wiederum der Stadtgesellschaft zugänglich gemacht.

Herausgekommen sind dabei erwartbare Antworten: Dass beispielsweise einer großen Mehrheit von 83% der Befragten das Thema Sicherheit wichtig bis sehr wichtig ist, liegt nahe. Aber bereits die Tatsache, dass Kulturinstitutionen neben dem eigenen Zuhause und der Natur an dritter Stelle als am sichersten wahrgenommene Orte genannt wurden, war für die Staatsoper sehr aufschlussreich – gerade in Zeiten, in denen Aerosolkonzentration und Lüftungsleistung entscheidende Parameter zum Betreten eines Ortes waren. Ebenso waren die aufmunternden, aber auch kritischen Wünsche des Publikums für die Kunst- und Kulturszene ein Ansporn für die Zeit des Lockdowns und danach.
Die Glasbox mit Antworten auf die „Sind Sie sicher?“-Umfrage vor dem Stuttgarter Opernhaus
Zudem wurde medial in einer Reihe von Texten, Videos und Podcasts auf das Thema eingegangen, über die sozialen Medien wurde die Aktion breit in die Öffentlichkeit getragen. Wesentlichen Anteil am Gelingen von Sind Sie sicher? hatten jedoch neben Mitarbeitenden und Künstler*innen des Hauses v.a. Partnerinstitutionen in ganz Stuttgart: So kamen die Leiterinnen der Akademie Schloss Solitude oder des Theaters Rampe zu Wort, außerdem auch freischaffende, mit der Staatsoper Stuttgart assoziierte Künstler*innen wie ein Musiker, eine Sängerin und ein Regisseur. Neben der inhaltlichen Veränderung der Perspektive wurde so auch Interesse für Positionen außerhalb des eigenen Hauses geweckt – und Aufmerksamkeit erzielt für die ganz speziellen Probleme, die die Corona-Pandemie für diese Institutionen und Individuen hervorgebracht hat.

Insgesamt konnte mit Sind Sie sicher? eine neue Art von Feedback-Schleife in Gang gesetzt werden: Über einen begrenzten Zeitraum war das Internet die Spielfläche der Staatsoper, das Publikum und Partnerinstitutionen waren essentielle Akteure dieses Aktionsmonats. Nicht die Kunstschaffenden der Staatsoper und ihre Aufführungen (seien sie live oder digital) standen dabei im Mittelpunkt, sondern der Austausch, der Diskurs, das gemeinsame Erforschen.

Unterschiedlichste Akteure in der gesamten Stadtgesellschaft wurden hier also angesprochen und involviert. Ähnlich und doch ganz anders in Grundkonstellation und Ziel war auch der Ariadne-Tag, der den Untertitel Auf der Suche nach der verlorenen Nähe trug. Dieser digitale Aktionstag am 11. April 2021 drehte sich um Richard Strauss’ Oper Ariadne auf Naxos, die 1912 in Stuttgart uraufgeführt wurde. Gestreamt wurde zunächst Richard Strauss’ Orchestersuite Der Bürger als Edelmann, der ursprüngliche erste Teil von Ariadne auf Naxos, dann folgte der Livestream der zweiten Fassung der gesamten Oper in konzertanter Form aus dem Forum am Schlosspark in Ludwigsburg. Allein mit diesem Herzstück des Aktionstages wäre die Zielgruppe sehr klein gewesen: Stimm- und Opernliebhaber*innen aus der ganzen Welt, passionierte Musikaficionados – aber eher keine Anfänger in Sachen Musiktheater, zu speziell, lang und zu komplex schienen Werk und Zusammenhang mit dem Stuttgarter Haus.

Dass dennoch ein großes Publikum jenseits eines Expertenkreises erreicht werden konnte, ist einerseits einem breit angelegten Rahmenprogramm zu verdanken, andererseits aber der verstärkten Kommunikation einzelner der Oper inhärenten Themen sowie ihre Verschränkung mit der gegenwärtigen pandemischen Situation. So war das Motto Auf der Suche nach der verlorenen Nähe einerseits der Oper Ariadne auf Naxos entlehnt (Vgl. Hofmannsthal: „Ariadne auf Naxos, Herr. Sie ist das Sinnbild der menschlichen Einsamkeit.“), andererseits aber auch paradigmatisch für das vergangene Corona-Jahr zu sehen: Über ein Jahr bereits hatten weite Teile der Bevölkerung Social Distancing praktiziert, hatten auf persönliche Begegnungen mit Familie und Freundeskreis verzichtet. Für viele Menschen war die Situation belastend – und die Frage nach Nähe und Distanz, nach Zusammengehörigkeitsgefühl und Einsamkeit eine essenzielle geworden. Die Themen der Oper wurden mit der gesamtgesellschaftlichen Situation verwoben und hatten damit das Potential, von unmittelbarerer Bedeutung für eine breite Klientel zu werden.

Auf der Suche nach der verlorenen Nähe war so auch das Thema eines Fotowettbewerbs, der im Vorfeld das Publikum zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Motto animieren sollte. Die Preisvergabe fand als digitale Liveveranstaltung im Rahmen des Aktionstages statt. Weiterhin wurde das Publikum durch weitere Aktionen unmittelbar und direkt involviert: Interaktive Hausführungen auf Instagram und eine digitale Premierenfeier im Anschluss an den Stream boten Möglichkeiten der Vernetzung zwischen Institution, Künstler*innen und Publikum und waren gleichzeitig eine Maßnahme zur weiteren emotionalen Bindung der Zuschauer*innen an „ihr“ Stuttgarter Opernhaus. Dass zusätzlich noch Programmpunkte zur Stuttgarter Werkgeschichte zur Verfügung standen, erhöhte die Identifikation des Publikums mit der Institution wie des gespielten Werks.
Ariadne auf Naxos im Forum am Schlosspark Ludwigsburg: Szene mit Zerbinetta (Beate Ritter) und ihren Liebhabern
Beide genannten Beispiele, Sind Sie sicher? wie der Aktionstag rund um Ariadne auf Naxos, zeigen, wie unterschiedlich die Involvierung des Publikums und die Einladung zur Partizipation an breite Gesellschaftsschichten ausfallen können. Auch herausfordernde Themen wie die emotional schwierige Situation des zweiten Lockdowns oder ein komplexes Werk wie Strauss’ Ariadne können Anlässe bieten, mit dem Publikum in einen offenen Dialog zu treten, Gesprächsangebote zu machen und neue Debattenkontexte zu eröffnen. Involvierung und Partizipation können gerade mit den Mitteln des Internets neue Zugänge zur Institution, zu ihren Menschen und nicht zuletzt zu ihrer Kunst und ihren Inhalten bauen.
Solidarität und Vernetzung
Gerade in den Zeiten sozialer Distanzierung wurde der menschliche und gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt wichtiger denn je. Wie prekär und fragil viele Existenzen sind, wurde unmittelbar im ersten Lockdown ersichtlich: Mit dem Ausfall von Vorstellungen ging unmittelbar auch der Verdienstausfall vieler freischaffenden Künstler*innen einher. Ob Instrumentalisten oder Sängerinnen, Statistinnen oder Tänzer – viele dieser Freischaffenden waren unmittelbar ihrer Existenzgrundlage beraubt. Hilfen waren schwer zu bekommen oder wurden nur verzögert ausgezahlt, die Dauer des Lockdowns war nur schwer abzusehen. Die kulturelle Landschaft, derer auch die staatlich getragenen Institutionen ein Teil sind, war gefährdet. Wie konnte die Staatsoper Stuttgart ihren Beitrag dazu leisten, die Kulturlandschaft aufrechtzuerhalten und die Relevanz von Kultur unter Beweis zu stellen? Umso wichtiger erschienen Akte der Solidarität mit freischaffenden Kolleg*innen, darüber hinaus aber auch die künstlerisch-organisatorische Vernetzung innerhalb der Stadtgesellschaft und weit darüber hinaus.

Zwei Projekte mögen dafür exemplarisch stehen: Bereits im Mai 2020, bei den ersten zögerlichen Öffnungen nach dem ersten Lockdown, rief die Staatsoper Stuttgart gemeinsam mit dem SWR Symphonieorchester und auf Initiative der Flötistin Stephanie Winker, der Szenografin Franziska Ritter und des Kulturvermittlers Christian Siegmund die so genannten 1:1 Concerts ins Leben, ein Konzertformat, das wie folgt funktioniert: „Bei den 1:1 Concerts findet eine ca. 10-minütige wortlose Begegnung zwischen Hörer*in und Musiker*in statt. Ein eröffnender intensiver Blickkontakt ist der Impuls für ein sehr persönliches individuelles Konzert – eine ungewöhnliche, aber für beide Seiten intensive Erfahrung, die Nähe trotz Distanz ermöglicht. Wer spielt? Das bleibt eine Überraschung. Auch mit den Spielorten wird ungewöhnliches Terrain erobert – eine Kunstgalerie, ein Flughafen-Terminal, ein ruhiger Hinterhof, eine leerstehende Fabrikhalle oder ein Schrebergarten.“
Der Gitarrist Jonas Khalil und ein Gast bei einem 1:1 Concert am Stuttgarter Hafen
Aus dem Kick-off in Stuttgart entwickelte sich eines der Konzertformate der Corona-Pandemie, das kurze Zeit später einen Siegeszug durch Europa und um die Welt antrat. Ausschlaggebend für den Erfolg war die Unmittelbarkeit des Präsenz-Moments, der bei diesem Format besonders gut erfahrbar wird. Zentral für das Konzept war neben dem Kunsterlebnis jedoch auch das Solidarprinzip: Die Teilnahme an den 1:1 Concerts war und ist für das Publikum kostenlos, doch ging mit dem Besuch die Bitte um eine Spende einher. Diese kam wiederum der Stuttgarter Kunstszene oder aber dem Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung zu Gute.

Auch bei den beiden Ausgaben von Stuttgart goes live, eines Digitalfestivals, das am 7. Dezember 2020 sowie am 22. März 2021 stattfand, war Solidarität mit freischaffenden Musiker*innen der Anlass. Im Mittelpunkt beider Streaming-Events stand jeweils ein Sinfoniekonzert des Staatsorchesters aus der Liederhalle Stuttgart, das beide Male mit anderen Formaten angereichert wurde: Pop- und Jazz-Konzerten, DJ-Sets, aber auch einer Ausstellungsführung, einer Lesung, Slam Poetry und vielem mehr. So konnte das Publikum einen Abend lang nacheinander die unterschiedlichsten künstlerischen Spielarten erleben. Unter der Schirmherrschaft des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (7. Dezember) und Stuttgarts Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper (22. März) erreichten beide Abende somit eine breite Bevölkerungsschicht, auch jenseits des eigenen Stammpublikums.
Ein Abend, der vom Kunstmuseum über den Konzertsaal in den Club führte: Grafik zur Ankündigung von Stuttgart goes live mit den verschiedenen Akteuren des Abends am 22. März 2021 – Grafik: Studio Collect
Diese beiden Abende im Netz schafften, was sich kaum bei einem Event in Präsenz realisieren lassen dürfte: Ein maximal diverser Kultur- und Konzertabend über verschiedene Orte und Institutionen hinweg, dem physisch allein logistisch zu folgen schwierig sein dürfte: Zu weit entfernt sind die Spielorte voneinander, zu unterschiedlich groß die Locations, um die unterschiedlichen Publika sinnvoll in den verschiedenen Spielstätten platzieren zu können. Und nicht zuletzt: Zu unterschiedlich sind (scheinbar) auch die Zielgruppen vom Besucher des klassischen Konzerts über den Pop-Fan bis hin zum Club-Gast. Im Internet waren die aufeinander folgenden Livestreams lediglich ein YouTube-Fenster voneinander entfernt, und die unterschiedlichen Genres und Kunstformen konnten sich gegenseitig bereichern.

Allein durch die Vernetzung mit anderen Institutionen, politischen Gremien und Künstler*innen entstand ein starkes Signal in die Stadtgesellschaft hinein: Wir sind so individuell wie wir sind, jede Art von Musik hat ihre ganz eigene Spielform, ihre ganz eigene Stilistik und ihre ganz eigenen Anforderungen – und dennoch wagen wir den Schulterschluss für unser Publikum und für Kolleg*innen, die während der Pandemie in Not geraten sind. Denn auch bei Stuttgart goes live war die Solidarität mit freischaffenden Künstler*innen wie bei den 1:1 Concerts zentraler Beweggrund: Alle Streams wurden fürs Publikum kostenlos angeboten, jedoch mit der Bitte um Spenden verknüpft, insbesondere für die Künstler*innensoforthilfe Stuttgart und den Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung.

Beide Aktionen, sowohl 1:1 Concerts als auch Stuttgart goes live, brachten nicht nur unter diesem Charity-Aspekt eine immense Vernetzung mit sich: Player wie das Club Kollektiv Stuttgart oder das Pop-Büro Region Stuttgart gehören nicht zu den alltäglichen Kooperationspartnern der Staatsoper, ebenso wenig Akteure aus der Wirtschaft wie der Flughafen oder eine Seifenmanufaktur, die Stuttgart 21-Baustelle oder der Stuttgarter Frachthafen am Neckar. Daneben wurden natürlich auch bestehende und bewährte Kooperationen mit dem Literaturhaus, mit der Staatsgalerie und dem Kunstmuseum weiter geführt.

Die Perspektive auch über die Mauern des Opernhauses hinaus war hier ausschlaggebend. Nicht nur das eigene künstlerische Tun stand bei den beiden Aktionen im Zentrum, sondern der Austausch mit anderen Institutionen, das Nebeneinander verschiedener künstlerischer Sprachen, die Vernetzung mit anderen Entitäten der Stadtgesellschaft. Zudem war auch der Erhalt der kulturellen Landschaft durch die Unterstützung der Freischaffenden zentrale Motivation.
Versuch eines Ausblicks
Wie nun geht es weiter? Was bleibt tatsächlich von „Oper trotz Corona“, wenn der ganz reale Vorhang im Opernhaus sich öffnet und die Mitarbeitenden wieder ihrem Kerngeschäft nachgehen – nämlich Oper für ein leibhaftig anwesendes Publikum im Zuschauerraum zu produzieren? Derzeit wissen wir es noch nicht. Die neue Saison unter den teilweise bekannten und doch immer wieder neuen Anforderungen der Corona-Pandemie fordern ihren Tribut. Die Budgets und Kapazitäten sind wieder auf einen regulären Spielbetrieb ausgerichtet. Derzeit sind erneut fünf Livestreams für die Saison 2021/22 aus dem Opernhaus geplant – doch die gab es auch bereits vor der Pandemie. Alles beim Alten also?

Sicher nicht. Die hier geschilderten exemplarischen Projekte und noch viele darüber hinaus haben ihre Spuren in der Kommunikation und den Arbeitsprozessen des Hauses hinterlassen. Die Erfahrungswerte mit neuen Formaten, die Netzwerke in die Stadtgesellschaft hinein bleiben, ebenso ist die Euphorie über gelungene Aktionen nicht vergessen. „Klassische“ Livestreams werden sicher nicht mehr nur die zeitgemäßere Art von Fernsehübertragungen sein, und die Schnelligkeit und Agilität der Arbeitsweisen während Corona wird auch fortgeführt werden, wenn die Planungsvorläufe wieder drei Jahre und mehr sind, wie es im normalen Opernalltag der Fall ist. Involvierung und Partizipation, Solidarität und Vernetzung sowie das im Theater so alles entscheidende Moment der Präsenz auch ins Netz zu übertragen – all das wird für die Staatsoper Stuttgart auch weiterhin eine Rolle spielen, sei es auf der Bühne, in der digitalen Kommunikation oder in experimentellen Formaten.

„Oper trotz Corona“ war also nicht nur ein schnell gezündetes Strohfeuer, das nun zum Ende der Pandemie wieder verglimmt. In seiner Vielfalt waren die unterschiedlichen Programme eine Demonstration für die Vitalität der Staatsoper Stuttgart – und mit ihr des gesamten Kulturbetriebs. Ob all diese Institutionen „systemrelevant“ sind, konnten zwar auch all diese Aktionen nicht unter Beweis stellen. Doch was bedeutet schon „Systemrelevanz“, wenn es um etwas viel tiefer liegendes geht? „Hatten wir diese künstlerischen Berufe nicht eben genau deswegen ergriffen, weil wir Systeme hinterfragen und zur Not aushebeln wollten, um genau deswegen relevant zu sein? Relevant für Menschen, aber nie relevant für ein System“, so formuliert es Viktor Schoner in seinem Gastbeitrag. Diese Relevanz für den Menschen auch über die Corona-Zeit hinaus weiterzutragen, wird weiterhin eine Kernaufgabe der Staatsoper Stuttgart sein.
Dieser Text ist erschienen in:

Christina Vaih-Baur/Dominik Pietzcker
Neue Wege für die Kultur?
Kommunikationsstrategien und -formate im europäischen Kultursektor
Springer VS 2022